Theodor Fontanes Gedicht „Publikum“

THEODOR FONTANE

Publikum

Das Publikum ist eine einfache Frau,
Bourgeoishaft, eitel und wichtig,
Und folgt man, wenn sie spricht, genau,
So spricht sie nicht mal richtig.

Eine einfache Frau, doch rosig und frisch,
Und ihre Juwelen blitzen,
Und sie lacht und führt einen guten Tisch,
Und es möchte sie jeder besitzen.

1889

 

Konnotation

Das kleine Lehrgedicht über das Publikum als ungreifbares weibliches Wesen ist viel vertrackter, als es die erste Lektüre vermuten lässt. Denn Theodor Fontane (1819–1898) hat sein imaginäres weibliches Wesen mit extrem widersprüchlichen Attributen ausgestattet: einerseits soll es sich um eine „einfache Frau“ handeln, die andererseits aber „bourgeoishaft“ agiert und zudem Juwelen besitzt.
Die angeblich „einfache Frau“ wird als Ausbund der Eitelkeit denunziert; zugleich ist sie so begehrenswert, dass jeder, der mit ihr Umgang pflegt, sie besitzen möchte. Offenbar handelt es sich beim Publikum trotz seiner problematischen Eigenschaften um eine allerhöchste Instanz, der sich alle unterwerfen müssen. Das darf man auch als visionäre Vorausdeutung auf das Zeitalter des Quoten-Fetischismus deuten. Das Gedicht erschien erstmals 1889 in den Balladen. Liedern, Sprüchen Fontanes.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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