Thomas Rosenlöchers Gedicht „Rettender Engel“

THOMAS ROSENLÖCHER

Rettender Engel

Er ist der kleinste unter allen Engeln
und selbst sein Singen ist nur wie ein Strich.

Doch im Fach Demut hat er eine Fünf. 

Fliegt mit den Bienen auf und nieder,
wenn Glockenläuten durch die Äste schneit.

Und davon wird sein Kleid kirschblütenweiß.

Und leuchtet vor auf seinem langen Weg
durchs Labyrinth der finsteren Systeme,

die sich, von soviel Anmut rettungslos
verwirrt, entwirrn, und Friede, Friede flüstern.

1988

aus: Thomas Rosenlöcher: Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1998

 

Konnotation

Der sächsische Elbtalromantiker Thomas Rosenlöcher, Jahrgang 1947, sucht in seinen Gedichten sehr oft den Schutzbereich der Engel. Seine Engel sind durchweg liebenswürdige, weil sehr fehlerbehaftete, imperfekte Wesen, mit einer Tendenz zur schlitzohrigen Subversion der alten Welt- und Himmels-Ordnungen.
Es ist kein Zufall, dass sich der kleine Rettungs-Engel mit „kirschblütenweißem“ Gewand durchs irdische Territorium bewegt. Denn ein solches Weiß gehört zum Repertoire des romantischen Dichters, der von der traumhaft-luziden Illumination der Welt träumt. Die labyrinthisch gewordene Welt mit ihren „finsteren Systemen“ im Bereich des Politischen bedarf durchaus der Hilfestellung durch die Engel, die in Rosenlöchers Band Schneebier (1988) in stattlicher Zahl auftreten. Der Dichter leistet sich hier mit einem gewissen Augenzwinkern die schöne Naivität, die „Anmut“ des „kirschblütenweißen“ Engels zur großen Transformationskraft bei der Sicherung des Weltfriedens zu stilisieren.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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