Ulla Hahns Gedicht „Allein“

ULLA HAHN

Allein

Ich hab die Schnauze voll ich
bin auch müde und fürcht mich
jetzt schon vor dem ersten warmen Tag
den kleinen Kindern und den
schwangern Frauen und was das
Frühjahr noch erzeugen mag.

Ich bin allein ich hab nichts
zu verlieren als ein paar
Tage vom vergangnen Jahr
und Angst mit mir was Neues
zu probieren nicht zu krepiern
an dem was niemals war.

1901

aus: Ulla Hahn: Herz über Kopf. Gedichte. Deutsche Verlags-Anstalt, München 1981

 

Konnotation

Ist das weibliche Ich, das hier spricht, eine unberechenbare Rebellin oder doch eher eine Musterschülerin des poetischen Kanons? Mit ihrem Debütbuch Herz über Kopf (1981) polarisierte Ulla Hahn (geb. 1946) die literarische Welt, die sich erbittert über die Originalität und Legitimität dieses zwischen Schnoddrigkeit und Sentimentalität changierenden Tons stritt. Was hier mit einer Geste trotzigen Aufbegehrens beginnt, steuert im Verlauf des Textes immer mehr auf emotionale Ambivalenzen zu, in die das einsame Ich bis hin zur Handlungshemmung verstrickt scheint.
Es ist dieser Seelenzustand der verlassenen Geliebten, in den sich viele Leserinnen einfühlen konnten. Der Text selbst übersetzt mündliche Rede in ein kunstvoll mit unregelmäßigen Reimen organisiertes Gedicht. Ob es Wege gibt, die das Ich aus der lähmend Depression herausführen können, bleibt offen. Auf die entschlossene Willensbekundung des Ich in der ersten Zeile jeder Strophe folgt der Hinweis auf die inneren und äußeren Widerstände, die das neu gewonnene Selbstbewusstsein gefährden könnten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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