Ulla Hahns Gedicht „Im Märzen“

ULLA HAHN

Im Märzen

Im Märzen da reiß ich
den Samt vom Himmel der Sonne
mach ich die Laden dicht ich
hack der Krähe ein Auge

aus Amsel Drossel Fink und Star
dreh ich den Hals um dem Krokus
köpf ich die Knospen ich schmeiß
dir mit Veilchen die Fenster

ein jeder sehe wie
ich’s treibe wenn
du nicht sofort
die Rößlein einspannst.

1981

aus: Ulla Hahn: Herz über Kopf, Deutsche Verlags-Anstalt, München 1981

 

Konnotation

Seit die Dichterin Ulla Hahn mit ihrem lyrischen Debüt Herz über Kopf 1981 für Aufregung im Literaturbetrieb sorgte, streitet die Literaturkritik darum, ob es sich bei der 1946 geborenen Autorin um eine graziöse Formkünstlerin oder nur um eine biedere Musterschülerin des poetischen Kanons handelt. Ihre Lobredner bewundern ihren stilsicheren Umgang mit der lyrischen Tradition, ihre Kritiker halten das kokette Spiel mit eingängigen Formen und Motiven für reaktionär.
Ihrem März-Gedicht hat die Autorin sehr viel aufgebürdet: Die Zeichen des erwachenden Frühlings, der Auftritt der Vögel und die Entfesselung des Begehrens werden verbunden mit eigenwillig uminterpretierten Bauern- und Kinderliedern. Dass hier das aggressive Aufbegehren einer Liebenden poetisch nicht allzu aufrührerisch wirkt, liegt an der Koketterie, mit der Ulla Hahn die lieblich-idyllischen Töne vom „Bauern im Märzen“ und seinem „Rößlein“ reaktiviert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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