Ulrike Draesners Gedicht „musenpressen“

ULRIKE DRAESNER

musenpressen

reanimationsversuch am offenen
mund künstlicher brustdruck die
redekunst (beatmungsvorgang)
wiederbeleben, flüstere ich, ein
mehr einzelnes, mehr speichelndes
verhalten gegen die mundverzellungen
schlage ich vor, am offenen brustkorb,
sagt er, braucht es innenzug durch
kompression und drückt mir wieder
die rippen zusammen, in anderen künsten
tauche schließlich seit jahren hervorragende
erpresskunst auf, sagt er, begehrte
kriegsbeute, als er sich heftig
und beugt, über mich.

1995

aus: Ulrike Draesner: gedächtnisschleifen. Gedichte. Luchterhand Literaturverlag, München 2008

 

Konnotation

In einem Essay hat Ulrike Draesner (geb. 1962) das Gedicht als „Extrakt eines körperlichen Zustandes“ beschrieben, der nicht durch „simple Story-Wirklichkeit“ sichtbar gemacht werden könne, sondern nur durch „Störungen“ der semantischen Ordnung, durch „den krakeelenden oder tanzenden oder hüpfenden Schritt“ der Verszeile. Besonders die frühen Gedichte der Autorin dekonstruieren dabei die romantische Utopie der Liebe und protokollieren stattdessen den Zusammenhang von Eros und Gewalt.
Die körperliche Zuwendung, die hier einer Geliebten oder einer Muse gewidmet wird, gleicht einem klinischen Eingriff. Die Dichterin artikuliert sich als lyrische Kartographin des Körpers, die mit kaltem anatomischem Blick das Theater der Intimität beobachtet. Aus der Perspektive des 1994/95 entstandenen Gedichts schrumpft der Liebesversuch – der als Eroberung einer „Muse“ angelegt ist – zum erotisch überdeterminierten Kraftsport.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00