Ursula Krechels Gedicht „Als dann“

URSULA KRECHEL

Als dann

mein Vater in einem Traum
neben einem schwarzen warmen Ofen
einem Ofen mit vielen Schubladen
für Asche, für Gebeine, für was
und ich fragte: Vater, warum
Wärme, dieser Ofen im Mai
so viele Schubladenverstecke
in düstren Zimmern und ich sah
leuchten eine halbe Erdbeere
an die Ofenwand geklebt
warum hast du den schwarzen Ofen
die Erdbeere, warum mich
warum sprichst du nicht, Vater

2004/2005

aus: Ursula Krechel: Mittelwärts. zu Klampen Verlag, Springe 2006

 

Konnotation

Den erzählenden Gestus ihrer frühen Gedichte hat die 1947 geborene Dichterin Ursula Krechel in ihren späteren Werken immer häufiger aufgegeben und durch eine komplexere Bildlichkeit ersetzt. Wurden die Wörter in ihrer Phase der „Neuen Subjektivität“ zunächst ohne große Sprachskrupel in Dienst genommen, da werden ihnen in den Gedichten der 1980er Jahre als „semantisch ungebundenen Gesellen“ immer mehr etymologische Recherchen abverlangt. In dem Langgedicht „Mittelwärts“ – erschienen 2006 – ändert sich das Bild erneut.
1991 war Krechel für einige Wochen Gastdozentin an der Washington University von St. Louis. Aus den sprachlichen Funden, Verbalträumen und Wahrnehmungsnotizen dieser Zeit hat sie ein fast fünfzigseitiges Langgedicht entworfen, in dem die „Kinderneugier“ dominiert und die autobiografische Perspektive ihrer frühen Gedichte wieder Geltung erlangt. So auch in diesem mit sinnlichen Erinnerungsbildern aufgeladenen Vater-Gedicht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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