Wilhelm Müllers Gedicht „Letzte Hoffnung“

WILHELM MÜLLER

Letzte Hoffnung

Hier und da ist an den Bäumen
Noch ein buntes Blatt zu sehn,
Und ich bleibe vor den Bäumen
Oftmals in Gedanken stehn.

Schaue nach dem einen Blatte,
Hänge meine Hoffnung dran;
Spielt der Wind mit meinem Blatte,
Zittr’ ich, was ich zittern kann.

Ach, und fällt das Blatt zu Boden,
Fällt mit ihm die Hoffnung ab,
Fall ich selber mit zu Boden,
Wein’ auf meiner Hoffnung Grab

1821

 

Konnotation

Er sei nach Goethe der bedeutendste Liederdichter, hat Heinrich Heine über den Romantiker Wilhelm Müller (1794–1827) gesagt – ein Kompliment, das die Nachwelt längst vergessen hat. Müller wäre gänzlich aus dem Bewusstsein verschwunden, hätte nicht der Komponist Franz Schubert einen Zyklus aus Müllers 1821 publizierten „Gedichten aus den hinterlassenen Papieren eines Waldhornisten“ vertont: die „Winterreise“.
Der Winterreisende hat hier den Schauplatz des verflossenen Glücks schon hinter sich gelassen und ist in die Wildnis der inneren und äußeren Einsamkeit eingetreten. Den Herbst der fallenden Blätter erlebt er als Vorschein auf den Herbst seines Lebens. Es ist die volkstümliche Schlichtheit und der gefühlvoll ausgemalte Seelenschmerz, der einen in diesen Versen immer noch anrührt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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