Yvan Golls Gedicht „Ich will nichts weiter sein“

YVAN GOLL

Ich will nichts weiter sein

Ich will nichts weiter sein
Als die Zeder vor deinem Haus
Als ein Ast dieser Zeder
Als ein Zweig dieses Astes
Als ein Blatt dieses Zweiges
Als ein Schatten dieses Blattes
Als ein Wehen dieses Schattens
Der eine Sekunde
Die Schläfe dir kühlt

1933

aus: Yvan Goll: Die Lyrik, Bd. II. Wallstein Verlag, Göttingen 1996

 

Konnotation

Ein glühendes Liebesgedicht ist nicht immer Ausdruck einer unverstellten Leidenschaft oder romantischen Passion, sondern kann auch ein subtiles Mittel der Distanznahme sein. Der literarische Grenzgänger und Surrealist Yvan Goll (1891–1950), der sich gerne „Jeans sans Terre“ bzw. „Johann Ohneland“ nannte, hatte seiner exzentrischen Gefährtin Claire Goll (1901–1977) ewige Liebe geschworen, die aber durch seine Begegnung mit der österreichischen Dichterin Paula Ludwig (1900–1974) im Berlin des Jahres 1931 ins Wanken geriet.
Yvan Goll hat sein Liebesgedicht, das Bestandteil seiner Malaiischen Lieder ( 1935) ist, genau datiert: Es trägt den Vermerk „9. Aug. 33, Jardin Des Plantes“ und ist das Resultat seiner schwierigen Affäre mit Paula Ludwig. Die Demutsgeste und Selbstverkleinerung des Ich im Gedicht korrespondiert jedoch nicht mit der Strategie des Autors im wirklichen Leben: Goll empfahl seiner Geliebten die Einsamkeit der künstlerischen Produktion. Ein bewährtes Mittel der Dichterkönige, sich die Geliebte vom Leib zu halten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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