Mahmoud Darwish: Ein Liebender aus Palästina

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Mahmoud Darwish: Ein Liebender aus Palästina

Darwish/Karkutli-Ein Liebender aus Palästina

DER PASS

Sie erkannten mich nicht,
die Farben in meinem Paß waren verblaßt.
Sie betrachteten meine Wunde wie Touristen,
die Bilder sammeln,
eine Ausstellung.
Sie erkannten mich nicht,
ach, keine Sonne schien auf meine Hand.
Die Bäume kennen mich.
alle Regenlieder kennen mich.
Ich will nicht verblassen wie der Mond.

Alle Spatzen begleiteten mich zur Flughafentür,
die in die Ferne führt.
Alle Weizenfelder,
alle Gefängnisse,
alle weißen Gräber,
alle Grenzen,
alle winkenden Taschentücher,
alle schwarzen Augen,
alle Augen begleiteten mich.
Aber das steht nicht im Paß.

Nur der nackte Name.
Heimatlos in einem Land,
das meine Hand bebaut?
Hiob schreit heute gen Himmel:
Strafe mich nicht noch einmal!
Meine Herren! Meine Herren Propheten!
Fragt nicht die Bäume nach ihrem Namen,
fragt nicht die Täler nach ihren Müttern.

Meinen Gedanken entspringt Licht,
meiner Hand Wasser.
Meine Heimat – alle Menschenherzen.
Behaltet meinen Paß.

 

 

 

Eine autobiographische Darstellung

Berichte uns über deine Kindheit und die Welt, in der du gelebt hast. Welchen Einfluß hatten die Ereignisse dieser ersten Phase auf dich und deine weitere Entwicklung?

Ich breite meine Kindheit nicht deshalb vor euch aus, weil ich zu denen gehöre, die sich nach der „verlorenen Unschuld“ zurücksehnen, oder zu jenen, die in der Kindheit den entscheidenden Faktor für den weiteren Weg eines Dichters sehen, doch in einem Fall wie dem unseren kommt der Kindheit eine besondere Bedeutung zu, denn sie wird uns helfen – wenn auch nur wenig −, diese frühe, spontane Beziehung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen zu begreifen.
Meine Kindheit ist der Anfang meiner persönlichen Tragödie, die aus dem Beginn der Tragödie eines ganzen Volkes geboren wurde. Unvermittelt und ohne verständlichen Grund wurde diese Kindheit ins Feuer, ins Zelt und ins Exil gestoßen. Plötzlich fand das Kind sich behandelt wie ein reifer Mann, der alles ertragen kann, und teilte mit ihm sein Schicksal. Die Schüsse, die in einer Sommernacht des Jahres 1948 in den Himmel des ruhigen Dorfes al-Barwa gefeuert wurden, machten keine Unterschiede, und ich, ein Sechsjähriger, floh in die dunklen Olivenhaine und die schwer zugänglichen Berge… manchmal laufend, manchmal auf dem Bauch kriechend. Nach einer blutigen Nacht erreichten wir verängstigt und durstig – ein Land mit Namen Libanon.
Und als der Junge in den zerrissenen Kleidern – noch immer müde und voller Angst – erwachte, war sein kleiner Kopf voller Fragen, die ihn plötzlich und ungeordnet überfallen hatten. In jener Nacht endeten die Besonderheiten der Kindheitswelt, und das Kind wurde der Gegenstände und der Sprache, die es von den Erwachsenen trennten, beraubt. Erstaunlicherweise hatte es in jener Nacht das seltsame Gefühl, sich von nun an in nichts mehr von den Erwachsenen zu unterscheiden. Neue Worte drangen in seine Gedanken und Gefühle, von denen es wußte, daß sie von nun an sein Schicksal bestimmen würden: Grenze, Flüchtlinge, Besetzung, UNRWA, das Rote Kreuz, Zeitung, Radio, Rückkehr, Palästina…
Anscheinend war es für das Kind solange nicht wichtig gewesen, zu wissen, daß es aus Palästina stammt. Jetzt aber weiß ich: Meine erste Verbindung zu der Sache fing mit dem plötzlichen Verstehen jener Wörter an. Und als ich meine Eltern nach der Bedeutung dieser Wörter fragte, betrat ich eine Welt neuer Dinge, die mich, unabhängig von meinem Wollen, rasend schnell von der Kindheitswelt entfernten, mich aber ebensoschnell der Kindheitswelt wieder näherbrachten, dem Platz also, an den zurückzukehren mich erlöst von dem verletzenden Wort: Flüchtling. So wandelten sich meine Gefühle und verbanden sich mit dem Wort Rückkehr, das Verlangen und Sehnsucht bedeutet und die Erniedrigung. beendet. Ich begann zu warten, meine Gefühle, die Entbehrungen, das Unrecht und das „Verstreutsein“ beherrschten meine Gedanken. Alles, was ich an Liebe von der Welt empfangen hatte, wurde von der neuen Wirklichkeit niedergedrückt. Deshalb verlernte ich zu spielen, auf Bäume zu klettern, Blumen zu pflücken, Schmetterlinge zu fangen. Ich übernahm von meiner Familie die Gewohnheit, abzuwarten, zu schweigen und nachzudenken. Und jetzt, aus der Ferne, kann ich feststellen: Die erste Begabung, die mich zur Poesie brachte, war das Nachdenken. Es verband mich inmitten einer bedrückenden Atmosphäre der Fremdheit in ermüdender Weise mit den Sorgen, die von den neuen Wörtern herrührten und meine Gefühle gegen die Ursachen des Elends vertieften. Deshalb bin ich auch sehr empfindlich gegenüber Aggressionen, denn meine Kindheit fiel der Aggression zum Opfer. Und nun, nach dieser Überprüfung, meine ich, die Kindheit war nicht eine Phase meines Lebens, sondern meine Heimat. Und in der Heimat meiner Kindheit durchlebte ich die Stufen: Entbehrung, Angst, Fragen stellen. Einsamkeit, Nachdenken, den Zorn auf zwei Dinge: auf die Wirklichkeit und auf jene, die meine Kindheit, meine Heimat besetzt und mich zu dieser neuen Wirklichkeit gebracht haben. Das ist die Erfahrung einer verbannten Kindheit. Dann folgte eine andere Erfahrung.
Eines Abends sagte man zu mir: „Heute kehren wir nach Palästina zurück.“ In der Nacht liefen wir… zig Kilometer über Berge und durch schwer zugängige Täler, mein Onkel, ich und ein Führer. Der Führer war ein Kenner der Wege durch die Berge, der seine Kenntnisse dazu benutzte, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Am Morgen fand ich mich vor einer stählernen Wand der Enttäuschung. Ich war nun im versprochenen Land Palästina. Wo aber war es? Nein, das war nicht Palästina. Dieses bezaubernde Land, die Erlösung von Ungerechtigkeit und Entbehrung, umarmte mich nicht, wie ich es mir vorgestellt hatte. Das Kind, das nach zwei Jahren Erwartung zurückkehrte, fand sich auf andere Art gefangen von dem Schicksal eines im Exil Lebenden. Es mußte auf einem Boden leben, der ihm nicht mehr gehörte…
Das ist die zweite Wahrheit. Sie ließ mich am stärksten. die Tragödie fühlen, und sie war auch die Ursache für meine ersten dichterischen Versuche.
Ich konnte nicht in unser Haus in unserem Dorf zurückkehren. Ich hatte große Mühe zu begreifen, daß unser Dorf total zerstört war, und ich war tief traurig. Wie konnten sie Dörfer zerstören? Und warum? Und wie kann man sie wieder aufbauen?
Und wiederum eine neue Sprache: mein Name lautete nun: ein palästinensischer Flüchtling in Palästina! Noch einmal wiederholten sich UNRWA, Fremdheit, Verfolgung durch die Polizei, weil wir keine israelischen Kennkarten hatten, weil wir Eindringlinge waren! Wenn ich jetzt diese Erfahrung bewerten soll, die Erfahrung, die ein palästinensischer Flüchtling in seiner Heimat macht, so meine ich, daß sie viel gefährlicher ist als die eines Flüchtlings im Exil. Sie gleicht einem psychologischen Mord, denn im Exil hat man noch das Gefühl der Erwartung und meint, die Tragödie gehe vorüber. Das gibt ein Fünkchen Hoffnung. Man kann das Leid des Exils auch ertragen, wenn man sich das Haus, das Feld, die Schönheit der Natur, das Glück und anderes vorstellt. Aber die andere Erfahrung, Flüchtling in der Heimat zu sein, ist unerklärbar und in den Grenzen eines kindlichen Bewußtseins kaum zu begreifen. Sogar in den schönsten Träumen fühlte man sich zermalmt und gewürgt, und die Widerspiegelung der Wirklichkeit war nahezu symbolhaft. Ich kam mir vor wie einem alten Buch entstiegen, das mich geheimnisvoll beeindruckte, weil ich es nicht lesen konnte. Aber der Alptraum setzte sich in dieser Form nicht fort. Der „palästinensische Flüchtling in Palästina“ wird seinen Entbehrungen nicht „frei“ überlassen. Hinzu kommt ein neues Element, die Herausforderung durch den Dieb, die zweischneidig ist: Die erste Schneide steigert das Gefühl der Zerrissenheit, die zweite bringt das Gefühl an irgendeinem Punkt zur Entladung. Sie wird zur Gegenherausforderung und entwickelt sich zu Arbeit und Kampf.

Wie bist du zur Dichtung gekommen? Sprich bitte über dein erstes Gedicht, das veröffentlicht wurde, und wie diese Veröffentlichung auf dich und dein Leben wirkte. Und danach über die literarischen und politischen Strömungen, die dich in dieser Phase beeinflußten.

lch erinnere mich nicht genau, wann ich das erstemal zu dichten versuchte. Ich weiß auch nicht mehr die unmittelbare Motivation, die mich dazu trieb, mein erstes „Gedicht“ zu schreiben, aber ich entsinne mich, daß ich schon frühzeitig versucht habe, ein langes Gedicht über meine Rückkehr in die Heimat zu verfassen, wobei ich die alte klassische Form nachahmte. Es rief bei den Erwachsenen ein spöttisches Lächeln hervor und Erstaunen bei der Jugend. Soweit ich mich erinnere, publizierten einige Zeitungen meine dichterischen Versuche noch während meiner Grundschulzeit. Ich habe lange auf meinen gedruckten Namen in der Zeitung gestarrt und gehofft, daß er noch oft gedruckt würde. Während ich die Oberschule besuchte, galt der größte Teil meiner Interessen dem Gedichtschreiben. Ich ließ mich leicht von dem Dichter beeinflussen, den ich zuletzt gelesen hatte. Charakteristisch für meine Versuche sind dekorative Elemente und klingende Worte. Es drängte mich nach melodiösen Formen, wobei ich manchmal die Idee aus den Augen verlor. In diesen Jahren war ich ständig auf der Suche nach mir selbst und nach dem besten Weg, etwas zu schreiben. Sicherlich war meine Generation vom Romantizismus gepackt, aber die neuen Gedichte, die wir in al-Ittihad und al-Gagid (Organe der Kommunistischen Partei Israel) von al-Sharkawi, al-Bayati, al-Baghdadi, Bessiso, as-Sayyab und anderen lasen, brachten uns ihnen gefühlsmäßig näher und inspirierten uns durch ihre direkte Verbindung zur Wirklichkeit. Diese Gedichte führten mich auf den richtigen Weg. Ich trennte mich von meiner starken Vorliebe für die Romantiker, fand aber noch nicht die richtigen Ausdrucksmittel. In dieser Phase drückte ich, als ein junger Mensch, der zu einem unterdrückten und zermalmten Volk gehört, meine Unruhe, meine Zerrissenheit und meinen Zorn aus. Dies schien mir die beste Form, sie lag meinem Herzen am nächsten. Wie sonst hätte ich meine Liebe zu einem Mädchen mit der Liebe zu unserer Sache verbinden können? In jenen Jahren stellte ich mir vor, mein Bild bestehe aus zwei unterschiedlichen Charakteren. Jeder revolutionäre Sieg irgendwo auf der Welt beeindruckte mich sehr, und ich würdigte ihn rasch durch ein Gedicht.
In dieser Zeit wurden wir auch einer kulturellen Gehirnwäsche unterzogen. Wir fanden heraus, daß sie uns in der Schule mehr über Theodor Herzl beibrachten als über Mohammed, und wir mußten mehr Gedichte des jüdischen Dichters Chaim Nahuman Bialik lernen als von al-Mutanabbi. Das Studium der Thora war obligatorisch, aber es gab keines für den Koran. Die kulturelle Eroberung schlich sich leise wie eine Schlange ein – durch die Verbreitung der hebräischen Sprache. Wir mußten uns schützen, und das beschleunigte unsere Annäherung an die linken Kreise. Wir fingen an, die Grundlagen des Marxismus-Leninismus, die uns begeisterten und mit Hoffnung erfüllten, zu studieren. Wir fühlten die tiefe Notwendigkeit, zur Kommunistischen Partei zu gehören, die den Kampf um die Verteidigung der nationalen Rechte und der sozialen Rechte der Arbeiter führt. Und als ich mich würdig fühlte, Mitglied zu werden, trat ich in die Partei ein. Das war im Jahre 1961. So war mein Weg fest umrissen, und ich blickte klarer und voller Vertrauen in die Zukunft. Dieser Schritt hinterließ deutlich seine Spuren in meiner Haltung und meinen Gedichten.
Meinen ersten Gedichtband, Vögel ohne Flügel, schrieb ich während der letzten zwei Oberschuljahre, er erschien 1960 und enthält meine noch nicht voll ausgereiften Versuche.
Meinen zweiten Band, Blätter des Olivenbaums, der 1964 erschien, betrachte ich selbst als den ernsthaften Anfang des Weges, den ich seither verfolge. Allgemein gesagt: Diese Gedichte kennzeichnen den Übergang von der Phase der Trauer und Klage zu der der Herausforderung, des Zorns und der Verschmelzung der privaten mit der allgemeinen Sache, das heißt den Übergang vom revolutionären Träumer zum bewußteren Revolutionär. Dieser Band besingt den Duft der Erde, das Leiden der Menschen, die Heimat, den Kampf, die Ablehnung der bestehenden Tatsachen und die Sehnsucht der Verstreuten nach ihrer Heimat.
Er ist ein Versuch, den Widerstand der Menschen gegen das Leid zu wecken.

Bei euch wird viel gekämpft. Sprich bitte über deine kulturellen und sozialen Kämpfe und die Maßregelungen seitens der Machthaber gegen euch und eure Gedichte.

Fast alle diese Kämpfe gehören in den Bereich der politischen Kämpfe, ob nun die Machthaber die direkten Gegner sind oder die reaktionären Anschauungen – der Opportunismus oder der Nihilismus −, die von den Machthabern als Teil ihrer Gewalt bevorzugt und gefördert werden. Der Kampf gegen die Versuche der Machthaber, den Nihilismus in den Reihen der jungen arabischen Generation zu verbreiten, ist zu unserem täglichen Kampf geworden. Die Machthaber verwenden viel Mühe darauf, die Anziehungskraft unserer Partei für die Jugend durch ständige Angriffe auf die linken Ideen und den Sozialismus zu schwächen. Sie verstärken diese Angriffe durch terroristische und unmoralische Methoden und öffnen weit die Türen für die amerikanische Kultur und Lebensweise.
So haben die Machthaber einen ihrer Agenten aufgefordert, von Zeit zu Zeit eine breite Diskussion über die Frage „Sind die Araber ein Volk?“ anzuzetteln. Ihre Zeitungen waren dann voller „definitiver, wissenschaftlicher Beweise“, daß die sogenannten arabischen Völker gar keine Araber sind! Es ist nur normal, daß wir gegenüber solchen Behauptungen nicht ruhig blieben und lange Schlachten gegen diejenigen führten, die diese „Ideen“ vertreten.
Dann kämpften wir gegen die Erziehung der jüdischen Jugend im Geiste des Chauvinismus, der nationalen Überheblichkeit und des Rassismus und gegen die Geschichtsverfälschungen in den Erziehungsprogramm, den Zeitungen, der Literatur und der Ideologie.
Auf dem Gebiet der Literatur schlugen wir Schlachten um die Frage des „Engagements“ wie auch um die Frage „Was ist Literatur?“. Ist sie für das Leben oder ist sie eine Literatur an sich? Und noch viele andere Themen beschäftigten unser literarisches Leben. Wichtig war für uns auch das Problem der modernen Dichtung. Ebenso hatten wir viele Diskussionen über Probleme der Kunst und Literatur, vor allem über die billigen arabischen Romane, mit denen unsere Buchhandlungen überschwemmt werden.
Was die Maßnahmen der Machthaber gegen die Gedichte meiner Freunde und meine eigenen betrifft, so haben sie anfangs versucht, unsichtbar zu bleiben, zumal sie vor der ganzen Welt prahlten, „eine Oase der Demokratie in der arabischen Wüste“ zu sein. Ihr ungeschriebenes Motto war: „Schreibe, was du willst, aber bezahle, was wir wollen.“ Doch was ist dieser Preis? Du darfst nicht arbeiten, dich nicht ungehindert bewegen, du bist nicht frei, und dir droht Verhaftung. Die Ausnahmegesetze aus der Mandatszeit werden noch immer angewendet und geben der Militärverwaltung die Möglichkeit, alle Maßnahmen gegen die Bürger zu verhängen, ohne dafür Gründe angeben zu müssen oder die Betroffenen vor ein Gericht zu stellen. Auf diese Weise erließ die Militärverwaltung Anordnungen über Aufenthaltsbeschränkungen für ausnahmslos alle fortschrittlichen arabischen Dichter. Ich zum Beispiel durfte Haifa vier Jahre lang nicht verlassen. Samieh al-Kassem wurde angewiesen, drei Monate lang zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang sein Haus nicht zu verlassen. Taufik Sayyad und Salim Gibran durften sich nicht außerhalb des Gebietes von Galiläa aufhalten.
Dann gibt es auch noch die Militärzensur für die Herausgabe von Gedichten. Der Dichter oder der Druckereibesitzer kann keinen Gedichtband ohne die Genehmigung der Militärzensur drucken. Es ist klar, daß der Zensor dafür sorgt, nicht arbeitslos zu werden oder müßig zu sein.
Außerdem droht der Verlust der Arbeitsstelle, wenn man Beamter ist. So erging es Issa Loubani, Samieh al-Kassem und anderen, die als Lehrer entlassen wurden.
Und es gibt auch die Gefängnisse, obwohl es die Machthaber bis jetzt nicht gewagt haben – und zwar aus Propagandagründen −, einen Dichter wegen seiner Gedichte vor Gericht zu stellen. 1961 versuchten sie, mich wegen eines Gedichtes über Gaza anzuklagen. Die Zeitungen berichteten, die Strafe betrage fünf Jahre, doch bis jetzt bin ich nicht verurteilt. Aber sie verurteilten mich, weil ich nach Jerusalem fuhr, um ein Gedicht vorzutragen. Dafür saß ich zwei Monate im Gefängnis. Ich entsinne mich, daß ich mich – ebenfalls 1961 – zehn Tage in Untersuchungshaft befand, ohne angeklagt zu sein und ohne verhört zu werden. Während des Junikrieges wurde ich wiederum verhaftet.
Aber die Machthaber begnügten sich nicht mit diesen direkten Maßnahmen gegen den Dichter. In den Zeitungen führten sie einen psychologischen Krieg gegen ihn. Wenn man mich in den offiziellen Zeitungen erwähnt, werde ich als Monster bezeichnet, weil mein Kampf nur rassistisch sei und ich unter einem Haßkomplex gegen die Juden litte. Diesen Titulierungen stehe ich mit kühlem Kopf gegenüber, denn ich unterscheide konsequent zwischen den zionistischen Machthabern und den Juden. Ich erinnere mich, daß beispielsweise die Zeitung Dafar ein Gedicht von mir über den Krieg als eine „Verunglimpfung der höchsten Werte des jüdischen Volkes“ bezeichnete. Ich antwortete Dafar: „Sie sind es, die Ihr Volk verunglimpfen. Ich protestiere gegen die Aggression, den Mord, die Zerstörung und die Verpestung des Lebens der anderen, und Sie werfen mir vor, das sei eine ,Verunglimpfung der höchsten Werte des jüdischen Volkes‘.“
Es ist nützlich, zu wissen, daß gegen unsere Gedichte nicht nur von Journalisten agitiert wird, sondern auch vom Stellvertreter des ehemaligen Ministers Shimon Peres, der, als er die Notwendigkeit der Militärverwaltung für die Araber beweisen wollte, keinen anderen Grund als unsere Gedichte fand, um die Militärverwaltung aufrechtzuerhalten.

Wie hast du die Niederlage des Junikrieges ertragen? Welchen Einfluß hatte sie auf dein Leben und deine Ansichten? Wie lassen sich deine Gedichte während und nach dieser Zeit charakterisieren?

Auf die Literatur hatte sie keinen besonderen Einfluß, sie brachte weder mein Denken durcheinander, noch zerstörte sie meine Werte, wie es anderen erging. Und vielleicht war es gut, daß es vielen arabischen Dichtern außerhalb so erging. Ich lebte nicht in einem Elfenbeinturm, deshalb bedurfte es auch nicht dieses ungeheuren Beweises, um mich von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß man auf die Straße hinuntersteigen muß. Aber die Niederlage war eine schmerzliche Offenbarung. Sie bewies denen, die bis dahin nicht daran geglaubt hatten, daß es notwendig ist, wahrhaft revolutionär zu denken und zu arbeiten und daß die Literatur keine Ware und kein Zeitvertreib ist. Wir dagegen wußten das im Innern, wir handelten danach in Worten und Taten, und nach dem Junikrieg waren wir nur noch überzeugter davon. Für diejenigen, die tonnenweise Papier gegen das Engagement des Schriftstellers für seine Sache beschrieben und dagegen, daß er sich mit wahren, revolutionären Ideen bewaffnet, war die Niederlage nützlich. Es ist wirklich schmerzlich, daß der Schriftsteller eine solche Katastrophe braucht, um diese Selbstverständlichkeiten zu entdecken. Ich erinnere mich, daß ich zu Fadwa Toukan bei unserem ersten Treffen in Haifa sagte: „Fadwa, merkst du nicht, daß ein Monat Besatzung für dich die langen Diskussionen über das Gedicht beendet hat?“ Nach der Besetzung von Nablus zeigt sich in Fadwas Gedichten eine deutliche Wende. Voller Schmerz sagte ich zu ihr: „Ich hoffe, daß alle aus dem, was geschehen ist, lernen, damit beispielsweise Nizar Quabbani uns nicht auch noch besuchen kommt.“
Natürlich versucht keiner, den schweren Schlag, die neuentstandene Wunde und die alte, die zwei- oder dreimal wieder aufgebrochen ist, leichtzunehmen. Mir selbst haben im Gefängnis die Nerven versagt. Nach meiner Entlassung wagte ich nicht, zu schreiben, weil die Spannung in mir und die Visionen von Feuer und Blut, die sich mir aufdrängten, mich unfähig machten, den Weg herauszukristallisieren, um ein solch ungeheures Problem zu behandeln. Die künstlerische Schwierigkeit bei solchen Angelegenheiten ist, eine kleine Öffnung zu finden, durch die man das Problem überschauen und seine Begrenzung erkennen kann. Es scheint, daß die Gefühlswallungen, die die Vernunft übersteigen, den schöpferischen Prozeß genauso verderben wie die erkalteten Gefühle, die die Vernunft unterschreiten.
Nach einigen Monaten konnte ich mit scheinbarer Ruhe die Gedichte schreiben, die der Gedichtband Am Ende der Nacht enthält. Was mir die Sache erleichterte, war die Erkenntnis, daß mir nichts geblieben ist außer meiner Überzeugung und dem Wort.
„Warum sie fallenlassen? Sie sind meine Mittel für die Freundschaft mit dem Leben und meine letzte Entschädigung. Ich konnte in diesen Gedichten – und das sage ich mit einigem Stolz – meine Menschlichkeit vor dem Ersterben retten. Und das in einer schweren Phase, in der der Menschlichkeit des Menschen große Gefahr drohte. Als sich der Traum entlud, klammerte ich mich an das edelste Erbe, an meine Menschlichkeit.“

Deine Gedichte und die deiner Freunde sind ein Bestandteil der arabischen und der weltweiten Widerstandsdichtung. Berichte uns über dein Verständnis der Widerstandsdichtung.

Die Widerstandsgedichte, wie ich sie verstehe, sind Ausdruck der Ablehnung vollendeter Tatsachen. Die Fortsetzung dieser vollendeten Tatsachen ist irrational, weil die Veränderung notwendig ist und die Überzeugung besteht, daß es Möglichkeiten für die Veränderung gibt. Die meisten dieser Gedichte versuchen, den Schmerz und die Ungerechtigkeit auszudrücken, dann folgen Protest, Zorn und Ablehnung. Aber damit diese Gedichte den Veränderungsprozeß beeinflussen können, müssen sie sich mit revolutionärer Theorie und sozialem Inhalt bewaffnen. So werden sie volksverbunden.
Von ihrer Natur her ist die Widerstandsdichtung eine revolutionäre Dichtung, und weil sie volksverbunden ist, sind die sogenannten Dichter, die, wenn auch in bester Absicht, große, wohltönende Worte als grundlegende Elemente ihrer Dichtung wählen, verloren. Die „künstlichen“ Spielereien werden in der Widerstandsdichtung entlarvt. Der Dichter muß mit der Wirklichkeit verbunden sein und Worte benutzen, die frei sind von Rhetorik. Ich meine, ein echtes Merkmal der Widerstandsdichtung ist ihre allseitige menschliche Reinheit. Der Schrei eines unterdrückten, Widerstand leistenden Menschen, ganz gleich wo, ist ein menschlicher Schrei, der alle Menschen angeht. Die Ungerechtigkeit, das Gefängnis, Mord und Unterdrückung sind unmenschliche Handlungen, für die es keine geographischen Grenzen gibt. Der Widerstand des Menschen dagegen ist eine menschlich edle Handlung.
Die Widerstandsdichtung hat natürlicherweise einen hochempfindlichen Bezug zur Geschichte, wo ihr Ursprung und ihre tiefen Wurzeln liegen. Daraus zieht sie die Kraft, zu widerstehen, Mut zu haben, die Ungerechtigkeit zu verachten und ihr entgegenzutreten.
Ich betrachte mich als Fortsetzung – mit palästinensischen Zügen – der Dichter des Protestes und des Widerstands, angefangen von den unbekannten Dichtern bis hin zu Hikmet, Lorca und Aragon, deren Dichtungen und Lebenserfahrungen mich moralisch ungeheuer gestärkt haben.

Deine Gedichte enthalten viele Symbole und Dinge aus der Natur (Oliven, Apfelsinen, Boden), die verschiedene Ausmaße und Bedeutungen haben. Es heißt, diese symbolischen Mittel „entfernen“ den realistischen Dichter von seinem Realismus.
Wie denkst du aufgrund deiner dichterischen Erfahrungen darüber?

Diese Dinge der Natur werden bei mir meistens in Symbole verwandelt. Apfelsinen und Oliven zum Beispiel sind die stärksten Kennzeichen der Natur meines Landes, aber sie sind keine abstrakte Natur. Ich bin kein Anhänger einer Dichtung, die die Natur wie ein schönes Bild beschreibt und verherrlicht. Die Natur erhält ihre Lebendigkeit, ihre Bedeutung und ihre Werte durch die menschliche Bearbeitung. Mein Interesse an Apfelsinen und Oliven rührt her von dem täglichen Leben des Menschen, der diese Bäume gepflanzt, sie mit Schweiß und Hoffnung begossen hat und auf die Früchte, die sie hervorbringen, wartet. Dieses Verhältnis zwischen Bauer und Baum bedeutet Fortsetzung des Lebens, Hoffnung und Patriotismus. Aber auf tragische Weise wird dieses Verhältnis mit Blut befleckt, wodurch beispielsweise die Farbe des Baumes nicht die gleiche bleibt: Das Grün der Blätter mischt sich mit dem Rot des Blutes und dem Schwarz der Nacht. Den Bauern treffen drei Schicksale: Entweder er stirbt unter dem Baum, oder er wird zwangsweise von ihm vertrieben, dann lebt der Baum in der Erinnerung als Symbol der Heimat und des Wartens auf die Rückkehr. Oder er steht ihm gegenüber wie einer Frau, die er nicht umarmen kann. Seine Beziehungen finden keine Fortsetzung, sie verwandeln sich in eine Quelle des Durstes, und Frau wie Baum werden vor seinen Augen vergewaltigt. So bleiben von dem Baum nur die Bedeutungen, das heißt, die Wirklichkeit wird in ein Symbol verwandelt. Aber das Symbol ist nicht starr, nicht vollendet, es verändert sich mit der Entwicklung des menschlichen Problems und dadurch, was es an psychischen Zuständen mit sich bringt. Aber das Symbol, das in allen Veränderungen der Olive bei seiner „Wahrheit“ bleibt, ist letzten Endes die Klammer zur Erde, ist die Fähigkeit, sich der Zeit entgegenzustellen, ist der lange Atem und das ewige Grün.
Es ist klar, daß dieses Bild nicht von Anfang an sein jetziges Ausmaß bei mir hatte. Ich gelangte dahin durch die Notwendigkeit, auf Einzelheiten des dichterischen Bildes zu verzichten. Ich begnügte mich mit dem Symbol, um die materielle Wirklichkeit zu deuten, ohne sie ganz aufzugeben. Wie ich meine, ist das Symbol bei mir nicht unklar, man kann es schnell entdecken, und es ist von Anfang bis Ende ein Ersatz für den direkten Ausdruck.
Es gibt noch eine weitere Erklärung. Vielleicht kann sie uns eine andere Deutung des organischen Zusammenhanges zwischen Sinn und Form geben. Was mich anfangs zu dem Symbol trieb, war mein Versuch, die Wirklichkeit zu überwinden, wo ich – entweder aus politischen oder anderen Gründen – nicht direkt sprechen konnte. Ich mußte eine künstlerische „Schwindelei“ betreiben, um meine Wirklichkeit widerzuspiegeln. So war das Symbol Notwendigkeit und Bedarf, und dann wurde es zu einem Ausdrucksmittel.
Warum das Symbol, wo ich doch Realist bin? Ich glaube, was ich über das Symbol sagte, ist die Antwort, denn die Benutzung des Symbols hat meine Wirklichkeit bereichert und ihr gedient. Der Realismus, wie ich ihn verstehe, ist ein Weg, das Leben zu begreifen, widerzuspiegeln und neu zu gestalten, und nicht ein fertiges, mechanisches Ausdrucksmittel. Deshalb sehe ich keinen Widerspruch zwischen meinem Engagement für eine Sache und meinem persönlichen Stil.

Deine Gedichte enthalten Züge der Mythologie und Folklore. Welche Mythen und Volkserzählungen haben dich beeinflußt?

Diese Züge sind in meinen Gedichten nicht hervorstechend, und wenn ich manchmal die Mythologie benutze, dann nicht, um sie neu zu gestalten, sondern um das Symbol zu verwenden, wenn das Symbol meinem Thema dient und zu mir paßt, das heißt, wenn ich die Anregungen finde, wenn das Symbol dem ähnelt, was ich möchte.
Mir hatte es vor allem die griechische Mythologie angetan, aber auch die Geschichten des Korans und der Thora. Ich habe auch die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht gern gelesen.

Wie bringt ihr die neue Gedichtform in Einklang mit der Notwendigkeit, eure Gedichte vor großen arabischen Massen in Israel vorzulesen? Berichte uns von euren Erfahrungen in dieser Hinsicht.

Zuerst möchte ich betonen, daß sich die Festivals des arabischen Gedichtes in Israel in Volksfeste verwandelt haben, auf deren Stattfinden die Menschen warten. Voller Freude erinnere ich mich an diese Periode. Die Plätze im Dorf, in der Stadt und in den Kinos waren voller Menschen aus allen Schichten und jeden Alters. Alle hörten den Gedichten voller Begeisterung zu und reagierten dementsprechend, bis die Machthaber über dieses „gefährliche Phänomen“ ärgerlich wurden und ihm mit allen Mitteln entgegentraten, zuletzt erteilten sie den Dichtern Aufenthaltsbeschränkungen für die Orte, in denen sie wohnten.
Die Zuhörer achteten dabei nicht auf den Bau der Gedichte, ihr Interesse galt den Bildern und dem Sinn, den sie enthielten. Ich erinnere mich, daß die ersten neuen Gedichte, die ich hörte, auf einem solchen Festival von dem Dichter Hanna Abu Hanna vorgetragen und – wegen ihrer künstlerischen Eleganz, ihrer tiefen Einfachheit und Ihres revolutionären Inhalts – mit unbeschreiblichem Jubel aufgenommen wurden.
Die Anhänger der „alten Gedichtform“ in unserem Land sind sehr genau, wenn das Gedicht gedruckt ist, aber sie üben viel Toleranz, wenn es vorgetragen wird. Und das zeigte mir, daß viele Leser Schwierigkeiten haben, die neuen Gedichte zu lesen, weil sie nicht erkennen, wo die neue Strophe anfängt, wo ein Bild aufhört und ein neues beginnt und so weiter.
Was mich betrifft, so war ich eines Tages überrascht, daß die Zuhörer darauf bestanden, einige meiner in neuer Form geschriebenen Gedichte zu hören. Ich erinnere mich: Als ich zum ersten Male wagte, das Gedicht „Kennkarte“ in neuer Form vorzutragen, mußte ich es viermal wiederholen. Aus vielen Erfahrungen weiß ich, daß humanistische Gedichte; wie immer ihre Form auch ist, dem Publikum ohne Schwierigkeiten vorgetragen werden können. Die rhetorischen Gedichte erzeugen eine lärmende Stimmung, die neuen Gedichte aber erregen bei den Zuhörern die Aufmerksamkeit, die der Dichter liebt. Ich behaupte nicht, daß die Zuhörer gleich beim ersten mal alles verstehen, was ein Gedicht enthält, aber sie leben und denken in seiner Stimmung. Ich glaube, die neuen Dichter müssen, um die Stellung der neuen Gedichte zu festigen, diese oft vor dem Publikum lesen, damit es sich an sie gewöhnt und seine Ohren von der alten, großartigen Betonung, die sich von einer Generation auf die andere vererbte, befreit werden.

Berichte uns über die literarischen Strömungen der arabischen Schriftsteller in Israel. Gibt es Leute, die sich dem Teufel verkauft haben und die Gedanken propagieren, die den Machthabern dienen?

Ich kann feststellen, daß die fortschrittliche Strömung die konsequenteste in unserer kulturellen Bewegung ist. Als Beweis dafür dient, daß die anderen Strömungen nicht wagen, sich uns entgegenzustellen. Die reaktionäre Strömung hat keinen Einfluß, und zum Glück sind diese Reaktionäre arm an Begabung. Nehmen wir als Beispiel das Gedicht, das die arabische Literatur in Israel verkörpert. Ausnahmslos alle bekannten und begabten Dichter sind nicht nur fortschrittlich, sie gehören auch der Kommunistischen Partei an.
Bei uns gibt es direkte Kämpfe zwischen den fortschrittlichen Dichtern und den Machthabern. Aber die kulturelle Stütze, auf die sich die Machthaber lehnen wollten, war viel zu schwach, um uns zu widerstehen. Das Ergebnis dieser Tatsache war eine neue Erscheinung: das Schweigen. Mag sein, daß einige Begabte unter einer psychischen oder ideologischen Krise leiden, weil sie vor der Wahl stehen, entweder zu schreiben – und Schreiben kann bei uns kaum Flucht vor der Realität sein – oder sich das tägliche Brot und die Ruhe zu sichern. Diese Schichten haben den zweiten Weg gewählt, einige schweigen ganz, andere wagen keinen Widerstand.
Die reaktionären Elemente versuchen zu propagieren, die arabische realistische Literatur habe keinen Sinn und verbreite Hoffnungslosigkeit und Zweifel. Die Podien dieser reaktionären Elemente sind zusammengebrochen, und alle kulturellen Zeitschriften der Regierung, die von ihr großzügig unterstützt werden, mußten ihr Erscheinen einstellen, nicht weil sie finanziell, sondern weil sie ideologisch bankrott und unfähig waren, neue Schriftsteller und Leser zu gewinnen. Dieses Phänomen, daß Regierungszeitungen keinen Erfolg haben, beweist den großen Einfluß der fortschrittlichen Strömung in unserer humanistischen Literatur. Sie bringt die Gefühle der Massen und ihr Streben nach einem besseren Leben, befreit von Chauvinismus, Nihilismus und Nationalismus, zum Ausdruck. Ein Beweis dafür sind die kommunistischen Zeitschriften al-Ittihad und al-Gadid und al-Ghad, deren finanzielle Quellen spärlich sind, die aber die Unterstützung und Sympathie ihrer Leser genießen.

Welche Rolle willst du mit dem und durch das Gedicht spielen?

… Ich will die Sache meines Volkes in allen Ausmaßen auf den Seiten des humanistischen Gedichtbandes festhalten, wie sie es verdient. Diese Sache ist ein Bestandteil des Kampfes des zermalmten Menschen, den Platz im Leben, der ihm zusteht, einzunehmen. Es wäre ungerecht, von anderen zu verlangen, diese Rolle zu spielen.
Wie klein auch immer ein Instrument sein mag, so hat es doch seinen Platz in dem großen menschlichen Lied.
Die Stimmen der Dichter, die aus aller Welt kommen, komponieren dieses Lied, und mein Spiel auf dem palästinensischen Instrument steht nicht im Gegensatz zu meinem Bewußtsein und dem umfassenden menschlichen Kampf. Viele Bäume bilden den Wald.

Mahmoud Darwish, aus: Al-Tariqu, Heft 10/11, Oktober/Dezember 1968, Beirut, Libanon

Nachwort

Nach wie vor nimmt die Lyrik einen beachtlichen Platz sowohl in der arabischen Literatur wie auch im Leben der arabischen Gesellschaft ein. Die Tradition des Rezitierens von Gedichten durch die Dichter selbst lebt ungebrochen in allen arabischen Ländern weiter, und Abende mit bekannten Dichtern ziehen Hunderte und Tausende von Zuhörern an.
Bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bildeten in der arabischen Lyrik Liebe, Sehnsucht, Treue, Trauer, religiöse Erbauung, Mystik, Naturschilderungen, Ritterlichkeit, Spott und Prahlerei die hauptsächlichsten Inhalte, wobei sich die Form kaum von der klassischen Gedichtstruktur entfernte.
Erst die Zeit der Kolonialherrschaft brachte hier eine Veränderung. Mehr und mehr spiegelte sich der antiimperialistische Kampf in den Gedichten wider, was nicht nur zu Veränderungen der Inhalte, sondern auch der Form führte. Neben der Dichtung in der klassischen durchgehenden Reimform, der Kassida, wurden von den Vertretern der jüngeren Generation immer öfter Gedichte im freien Rhythmus geschrieben, eine Neuerung, die es unter anderem erleichterte, auch außerarabische literarische Strömungen und Anregungen aufzunehmen und in den eigenen Stil umzusetzen.
Nach Beendigung des zweiten Weltkrieges setzte sich diese literarische Erneuerungsbewegung in allen arabischen Ländern durch. So mannigfaltig von nun an die gewählten Themen waren, so vielgestaltig waren auch die Formen der Gedichte.
Die Besetzung Palästinas durch die Israelis im Jahre 1948 beeinflußte die arabische Literatur nachhaltig, denn nahezu alle namhaften arabischen Dichter nahmen sich in der Folgezeit eines der neuentstandenen Probleme wie zum Beispiel Verlust der Heimat, Vertreibung und Flüchtlingsdasein an und gestalteten es in der ihnen gemäßen Weise. Im besetzten Palästina selbst entstand eine neue Literatur, die Widerstandsliteratur.
Zur gleichen Zeit wurden viele Palästinenser aus ihrer Heimat vertrieben, darunter auch zahlreiche Intellektuelle und Lehrer, was sich negativ auf die Kultur und das Erziehungswesen der in Palästina verbliebenen Araber auswirken mußte. Die israelischen Besatzer wachen streng darüber, daß sich dieser Riß nicht wieder schließt, und durch die Einführung der hebräischen Sprache versuchen sie, diese Kluft in ihrem Sinne zu füllen. Der namhafte palästinensische Schriftsteller Ghassan Kanafani (am 8. Juli 1972 von den Israelis in Beirut heimtückisch ermordet) beschrieb diesen Zustand treffend als „kulturelle Belagerung“.
Die im Lande verbliebenen Palästinenser sehen sich vielfachen Repressalien ausgesetzt: Die Israelis enteignen aufgrund von Militärgesetzen oder irgendwelcher Vorwände Häuser und Boden, machen Dörfer und Friedhöfe dem Erdboden gleich, um neue Kibbuzim zu errichten oder die Umgebung überhaupt zu verändern. Sie erlassen zahlreiche willkürliche Befehle: Zum Beispiel dürfen die Palästinenser in bestimmten Gebieten ihre Wohnungen zwischen Sonnenuntergang und -aufgang nicht verlassen, sie brauchen Arbeitsgenehmigungen, und selbst für einen Verwandtenbesuch im nächstgelegenen Dorf oder in der Stadt müssen Anträge für Passierscheine gestellt werden, denen meistens nicht stattgegeben wird.
Die Israelis verlangen nicht nur, daß die Palästinenser diesen brutalen Zustand widerspruchslos erdulden, sondern wollen darüber hinaus, wie Mahmoud Darwish später schrieb, „daß wir die bestehenden Tatsachen akzeptieren, aufhören, die Rechte des palästinensischen Volkes zu verteidigen, die Kampfoperationen in den besetzten Gebieten verurteilen, stolz darauf sind, Israelis zu sein und die Gegner Israels bekämpfen“.
Aber die Palästinenser sind zu einer solchen Kapitulation nicht bereit. Ihre Dichter weigerten sich, die von den Besatzern geforderten unpolitischen Gedichte zu schreiben, deshalb konnte die Militärverwaltung zunächst nur einige klassische arabische Gedichte oder ältere Liebesgedichte veröffentlichen, während die Dichter den Weg der Herausforderung wählten, um die palästinensische Heimat und die Menschenrechte zu verteidigen. Die nationale Revolution Ägyptens von 1952 bekräftigte sie in ihrer Haltung und gab ihnen Hoffnung.
Um ihre neuen Gedichte einem größeren Publikum zugänglich machen zu können, verschleierten die palästinensischen Lyriker ihr Anliegen durch die Verwendung von Symbolen und bevorzugten private Feste, auf denen sie ihre Werke vortrugen. Zu den schon bekannten Dichtern wie Taufik Zayyad (Mitglied des ZK der KP Israels und Bürgermeister von Nazareth), Salim Gibran, Hanna Abu Hanna und Abu Ias kamen aus der jüngeren Generation Mahmoud Darwish, Samieh al-Kassem, Rashid Hussein und Naif Selim hinzu. Sie bildeten gemeinsam den Kern der Widerstand leistenden palästinensischen Dichter in Israel und mobilisierten das politische und kulturelle Leben ihrer Landsleute. Ihre Gedichte verbreiteten sich mündlich sehr schnell unter den Massen, und ihre Leseabende verwandelten sich in Demonstrationen.
Mahmoud Darwish selbst schildert in seiner autobiographischen Darstellung die Wirkung, die die anläßlich solcher Veranstaltungen vorgetragenen Gedichte in neuer Form auf die Zuhörer hatten und welche Reaktionen sie bei den Machthabern auslösten. Das Organ der Kommunistischen Partei Israels al-Ittihad und die Zeitschrift al-Gadid veröffentlichten die Dichter des Widerstandes, wodurch diese erstmals – wenn auch in einem begrenzten Rahmen – in den arabischen Ländern bekannt wurden. Da aber die meisten von ihnen auch Mitglieder der Kommunistischen Partei sind, wird die Verbreitung ihrer Lyrik durch die arabischen Regierungen sehr erschwert.
Diese mutige Gruppe setzt mit ihren Werken die Tradition der palästinensischen antiimperialistischen Dichtung fort, die mit den Vertretern der ersten Generation wie Ez-el Dinal-Kassem, Abd-el-Rehim Mahmoud, Ibrahim Tourkan und Abd-el-Karim al-Karmi (Abu Salma) nach dem antikolonialen Aufstand von 1936 begonnen hat. Andererseits übernimmt sie auch die nicht, im Reim gebundene Gedichtform arabischer Dichter und verwendet sie entsprechend dem Inhalt der palästinensischen Widerstandsdichtung. Nach der Niederlage im Junikrieg 1967 wurde die palästinensische Widerstandsliteratur in fast allen arabischen Ländern verbreitet. Die Massenmedien fanden in ihr eine reale Stütze, um die moralische Wiederbelebung der arabischen Menschen in Gang zu setzen und ihren Widerstandswillen gegen Imperialismus und Zionismus zu stärken. Mit der israelischen Besetzung des westlichen Jordanufers, des Gazastreifens, der Altstadt von Jerusalem sowie der Sinaihalbinsel und der Golanhöhen kommt zu den palästinensischen Lyrikern in Israel noch die bekannte Dichterin Fadwa Tourkan (geb. 1923) hinzu. Auf der anderen Seite engagieren sich jetzt auch viele Dichter der arabischen Länder für den Widerstand gegen Imperialismus und Zionismus.
Der bewaffnete Kampf der nationalen Befreiungsbewegung Palästinas (Feddain) innerhalb und außerhalb der okkupierten Gebiete fügt der Widerstandsdichtung neue Elemente hinzu und trägt viel zu ihrer Verbreitung bei. Auch gingen neue junge Dichter wie Ez-el-Din al-Manassra, Achmed Dahbour, Kamal Nasser (von einem israelischen Kommando in Beirut ermordet) und andere aus ihren Reihen hervor. Zahlreiche Gedichte oder auch nur Verse der palästinensischen Widerstandsdichtung erreichen eine so große Popularität in den arabischen Ländern, daß sie schon volksliedhaften Charakter haben.
Die hier nur in groben Zügen angedeutete Entwicklung der palästinensischen Widerstandsliteratur soll vor allem auf die Rolle Mahmoud Darwishs, der 1941 in dem Dorf al-Barwa bei Akka geboren wurde, innerhalb des palästinensischen Widerstandskampfes und der Widerstandsliteratur hinweisen.
Als Kind wurde Darwish mit dem erschütternden Erlebnis der Zerstörung seines Heimatdorfes durch die Israelis konfrontiert, als Heranwachsender mußte er eine fremde Nationalität annehmen, unter einer fremden Fahne weiterleben und in einer fremden Sprache sprechen. Einerseits war also sein Leben von einer vielfachen Verfremdung geprägt, andererseits beschleunigte das die Entwicklung seines Klassenbewußtseins. Es führte ihn, wie Taufik Zayyad einmal sagte, „von den Windeln direkt auf das Schlachtfeld“.
Ebenso stürmisch verlief auch seine dichterische Entwicklung. Innerhalb von achtzehn Jahren erschienen von ihm zehn Bände Lyrik und zwei Bände lyrische Prosa. Hinzu kommen noch unzählige Beiträge für Zeitschriften und Zeitungen sowie viele Dichterlesungen, zunächst nur im besetzten Palästina und – nachdem ihm die Israelis 1970 die Ausreise gestatteten – auch in Ägypten, dem Libanon, der Sowjetunion und in vielen anderen Ländern.
So umfangreich sein Schaffen ist, so vielseitig sind auch die Themen. Darwishs Lyrik wie auch seine lyrische Prosa lassen vor allem folgende Sujets erkennen: die verlorene Heimat, Gleichsetzung von Liebe zur Heimat und Liebe zur Frau, Verlust der eigenen Identität, Suche nach einer Stellung innerhalb einer verfremdeten Umwelt; Zorn und Aufbegehren schlagen um in eine neue Qualität, der Kampf um die eigene Identität wird verbunden mit dem Kampf um die nationalen Rechte Palästinas.
Alle diese Komplexe sind jedoch nicht in sich abgeschlossen, sondern kreuzen sich zeitlich und inhaltlich. Frühere Erlebnisse werden auch später nochmals aufgegriffen, und der Dichter setzt sich erneut mit ihnen auseinander. In seiner ersten Schaffensphase waren seine dichterischen Bilder einfach, oft dem kulturellen Erbe verbunden. Sie entwickelten sich jedoch schnell zu konzentrierten, eindringlichen Symbolen, die aber immer erkennbar bleiben.
Die Lyrik Mahmoud Darwishs unterscheidet sich von der seiner Gruppe durch die konsequente Anwendung der Dialektik: Palästina ist nicht nur Geliebte, sondern auch Liebende. Um es (im Arabischen „sie“, da Palästina weiblich) zu besitzen, muß man sich selbst aufgeben. Es ist die Wunde und die Heilung, in seiner Umarmung liegt der Tod, und nur durch den Tod werden seine bitteren Apfelsinen süß. Palästina ist die Rose und die Handgranate, und der Palästinenser ist der Anbeter, der Angebetete und der Tempel.
Darwishs Worte atmen, wachsen, entflammen und explodieren, sie prägen sich dem Zuhörer ein und treiben ihn zur Aktion.
Mahmoud Darwish selbst ist der Liebende aus Palästina. Er lebt, kämpft und dichtet für seine Geliebte, wie die hier vorgelegten Gedichte zeigen.

Moustapha Haikal, Januar 1979

 

„Ich betrachte mich als Fortsetzung −

mit palästinensischen Zügen – der Dichter des Protestes und Widerstandes, angefangen von den unbekannten Dichtern bis hin zu Hikmet, Lorca und Aragon, deren Dichtungen und Lebenserfahrungen mich ungeheuer moralisch gestärkt haben“, bekennt Mahmoud Darwish, geboren 1941 in al-Barwa in Palästina, einem Dorf, das 1948 die israelischen Besatzer dem Erdboden gleichmachten.
Der Schriftsteller wurde zunächst durch seine Untergrundgedichte bekannt. Eine wachsende Populatität machte ihn für die israelische Regierung unbequem und gefährlich. Nach mehreren Gefängnisstrafen und vierjährigem Verbot, die Stadt Haifa zu verlassen, ging Darwish „freiwillig“ ins libanesische Exil. Er lebt heute in Beirut.
Alle Texte der hier vorliegenden Auswahl, ganz gleich ob Lyrik oder Prosa, weisen darauf hin, daß Mahmoud Darwish die Tradition palästinensisch-arabischer Volksdichtung fortsetzt, sie zudem aber um neue, eigenständige Elemente bereichert. Und sie bezeugen vor alle, wie ernst der palästinensische Autor sein Anliegen nimmt, den Kampf eines Volkes um die Freiheit mit seinen Arbeiten zu verteidigen.

Verlag Volk und Welt, Klappentext, 1979

 

Am Anfang war die Erinnerung

– Identität und Erinnerung in den frühen Gedichten. –

Niemals wird es einem Palästinenser erlaubt sein, zu vergessen. Verantwortung für die Existenz unseres Volkes übernehmen heißt: nicht vergessen.
(Sumaya Farhat-Naser)1

Mit Gewalt aus seinem Lande vertrieben bewahrte es ihm in allen Ländern der Diaspora die Treue und hörte niemals auf, um die Rückkehr in sein Land und Erneuerung seiner politischen Freiheit in ihm zu beten und auf sie zu hoffen.2

In diesem Zitat aus der Proklamationsurkunde des Staates Israel, von David Ben Gurion am 14. Mai 1948 in Tel Aviv verlesen, spiegeln sich zentrale und bis heute aktuelle Forderungen der Palästinenser wider: die Rückkehr (al-‘awda) in das Heimatland (al-waṭan) und die Wiedererlangung der politischen Freiheiten. Für die israelischen Juden wurde mit der Gründung des Staates Israel nach 2000 Jahren Diaspora, Pogromen und Shoah der Traum der Rückkehr Wirklichkeit.3 Für die staatenlosen Palästinenser hingegen bleibt Rückkehr ein unveräußerliches Lebensziel.
Es verwundert nicht, dass sich Analogien zwischen dem Schicksal der Juden bzw. israelischen Juden4 und dem der Palästinenser ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie ein roter Faden durch das Denken vieler palästinensischer Intellektueller und Literaten ziehen. Häufig taucht dabei die Vorstellung auf, die israelischen Juden hätten sich durch die Vertreibung und Unterdrückung der Palästinenser von Opfern einer Jahrtausende dauernden Verfolgung und Diskriminierung selbst zu Tätern gewandelt, während den Palästinensern nun die Rolle der „neuen Juden“ zukomme.5 Der Vergleich zwischen den beiden Völkern ist in diesem und den folgenden Kapiteln, in denen die Erinnerung zentrales Thema sein wird, von besonderer Relevanz.6 In der Tat stößt man auf erstaunliche Ähnlichkeiten, die sich vor allem aus der Geschichte beider Gemeinschaften ergeben, die jedoch durch die Konfliktsituation beider Parteien entweder ignoriert oder als unüberbrückbare Differenzen gesehen werden.
Die Bedeutung von Erinnerung und kollektivem Gedächtnis für beide Seiten ist beispielsweise daran erkennbar, dass sowohl Palästinenser als auch Juden ihren Anspruch auf das Land Palästina/Erez Israel unter anderem mit religiösen Mythen und Legenden begründen.7
Auch die jüdische Idee der Rückkehr nach Israel konnte über die lang andauernde Diaspora nur bewahrt werden, weil sich innerhalb der jüdischen Gemeinden eine starke Erinnerungskultur entwickelte und Erinnerung zum wesentlichen Pfeiler des Selbstverständnisses und der kollektiven Existenzsicherung der Juden wurde.8
Man kann sagen, dass jüdische Religion auf erinnerter Geschichte basiert, die als „Heilsgeschichte“9 aufgefasst wird. Diese ursprünglich religiöse Heilsgeschichte transformierte der Zionismus in eine politische und machte sie zur Grundlage für den Aufbau eines Nationalstaates, mit dem Ziel, einen ersehnten, vor über 2000 Jahren verloren gegangenen Gesellschaftszustand wieder herzustellen.10 Dabei wurde nicht nur von Seiten der zionistischen Denker der Konstruktion einer kontinuierlichen geistigen Anwesenheit im „heiligen Land“ eine hohe Bedeutung beigemessen.11 Besonders nach der Staatsgründung sollten Archäologie und Geschichtsforschung die alttestamentarische Gegenwart der Juden in Palästina bzw. Israel beweisen.12
Die Funktion von Erinnerung zum Aufbau einer nationalen Identität beschränkt sich natürlich nicht nur auf den israelisch-zionistischen oder palästinensischen Geschichtsdiskurs, sondern spielt in den meisten, wenn nicht in allen nationalistischen Bewegungen eine wichtige Rolle.13 Im Folgenden soll danach gefragt werden, auf welche Weise die Gedichte Mahmud Darwischs durch Erinnern die palästinensische Erfahrung ins kollektive Gedächtnis einzuschreiben versuchen und wie sie zur Formierung einer kulturellen und nationalen palästinensischen Identität beitragen.14

 

Erinnerung und Exil

Eine Flüchtlingslager- oder Vertriebenensituation beschreibt Darwisch in einem seiner frühesten Gedichte. „Ich war noch ein Kind“15 erschien 1960 in dem Gedichtband ‘Aṣāfīr bi-lā aǧniḥa (Vögel ohne Flügel), von dem sich Darwisch später aufgrund seiner pathetischen und romantisch gefärbten Lyrik deutlich distanzierte.16 In unserem Kontext ist das Gedicht aber sehr aufschlussreich, da es in einer direkten Weise die herausragende Funktion von Erinnerung zur Identitätsbildung offenbart und zugleich zeigt, wie die als primordial aufgefasste Identität sozial konstruiert wird. Dies geschieht auf zwei Ebenen: Auf einer inneren Ebene werden dem Kind durch das Erzählen der Erwachsenen Heimatbilder einverleibt, und auf einer äußeren Ebene finden die im Gedicht evozierten Erinnerungen durch das Lesen Eingang in das kulturelle Gedächtnis der Palästinenser.
Das lyrische Ich des Gedichts ist ein kleiner Junge, der mit dem Imperativ „Erzählt mir von meiner Heimat!“ die Erwachsenen auffordert, ihm von seinem verlorenen Ursprungsort zu berichten.

Erzählt mir!
Vielleicht erinnere ich mich an meine Heimat
Die nur auf meinen Lippen duftet.
Ich erinnere mich nicht an jene „guten Tage“,
Lasst sie nochmal in meinem Ohr erklingen
.
17

Der als Flüchtling (lāǧī’) lebende Junge gehört einer Generation an, die die „guten Tage“, die Zeit vor der Nakba, nur noch vage in Erinnerung hat.18 Seine Heimat hat das lyrische „Ich“ also nicht bewusst kennengelernt, denn der Junge scheint in einem Flüchtlingslager aufgewachsen zu sein oder zumindest mit seiner Familie aus seiner Heimat vertrieben und von ihr getrennt ein Flüchtlingsdasein zu fristen.
Sein Körper trägt zwar die Spuren der Heimat an sich und mit sich, braucht aber die Erzählungen, um seine Herkunft nicht zu vergessen und die Verbundenheit mit der Heimat immer wieder neu zu beleben.
Die Eindringlichkeit, mit der das Kind erinnern will, wird besonders durch den zehnmal wiederholten Imperativ „Erzählt mir!“ unterstrichen, was dem Gedicht einen stark appellativen und zugleich repetitiven Charakter verleiht.
19 Die Wortwiederholungen des „Erzählt mir!“ erinnern an den heute noch gängigen Unterrichtsstil des Memorierens in arabisch-islamischen Gesellschaften. Dem Leser wird auf diese Weise der Eindruck vermittelt, der Junge müsse sich seine Heimat wie andere Lerninhalte regelrecht einverleiben. Wie oben erwähnt, waren die Palästinenser in den Jahrzehnten nach der Nakba ohne autonomes Bildungssystem, welches die Zugehörigkeit zur Nation, zu ihrer Kultur und Geschichte bei der jungen Generation hätte ausbilden können.20 So blieb den verstreuten Palästinensern nichts anderes übrig, als durch das Erzählen persönlicher Erfahrungen und Erinnerungen die junge Generation mit ihrer Herkunft vertraut zu machen:

Erinnert mich!
Nie werde ich satt von jenen Geschichten
21

Darwisch benutzt des Weiteren ein der mystischen Erziehung entlehntes Bild, wenn er den Jungen sagen lässt:

Mein Herz ist eine leere Tenne,
die sich nach der Umarmung mit der Ähre sehnt.
Füllt es mit Geschichten von der Heimat,
sie sind die schönsten für mich
.
22

Der Unterschied zum mystischen Novizen, dem Murīd,23 liegt darin, dass der Junge im Gedicht nicht die Eigenschaften des Meisters bzw. die göttlichen Eigenschaften erlernt, sondern sich mittels Naturbildern mit Heimatgefühlen erfüllen und daran „satt“ essen möchte. Dabei ist „satt“ auf zwei Arten zu verstehen, denn einerseits ernähren die Erzählungen das Kind und sind ihm so wichtig wie das tägliche Brot, andererseits reichen sie nie völlig aus, so dass der Junge nie befriedigt ist. Die Nahrung des Herzens, das von seinen Eltern und dem ganzen Volk Verlorene soll ins Herz eingeschrieben werden.
Jan Assmann stößt bei seiner Beschäftigung mit dem 5. Buch Mose, dem Deuteronomium, welches in der religiös-jüdischen Erziehung wie beispielsweise der Liturgie des Seder-Mahles24 einen wichtigen Platz einnimmt, auf ein analoges Motiv. Er beschreibt die verschiedenen „Mnemotechniken“, in diesem Falle diejenigen Techniken, die dem noch frischen Mitglied die kollektiven Erinnerungen seiner Gruppe einprägen sollen. An erster Stelle dieser Mnemotechniken steht die „Einschreibung in das eigene Herz“.25 Während es in der jüdischen Tradition hingegen um kollektiv erlebte Ereignisse wie den Auszug aus Ägypten oder die Erinnerung an das verloren gegangene jüdische Land geht, soll das Herz des palästinensischen Jungen ganz mit der Heimat Palästina erfüllt werden:

Erzählt mir von meiner Heimat!
Sie ist ein Traum, der mein Leben erfüllt.

Die Bindung zur Heimat erscheint hier als wichtigstes, sinnstiftendes Element. Was den jungen Palästinenser dazu bewegt, seine Heimat so eifrig „lernen“ zu wollen, wird ebenfalls genannt. Es sind die Hoffnungen der Eltern und damit die elterliche Identität, die sich auf das Kind überträgt:

Ich erinnere mich nicht an sie
[die „guten Tage“ der verlorenen Heimat, Anm. d. Verf.]
Aber sie sind eine Hoffnung,
Die die Welt meiner Eltern erfüllt,
Und ihren Augen warmen Glanz gibt.

Angesichts der komplizierten und lebensfeindlichen Situation, in der die Kinder in den Flüchtlingslagern aufwachsen mussten, erstaunt die in dem Gedicht zutage tretende Haltung kaum.26 Ihren Eltern, die mehrheitlich Bauern waren und dadurch eine tief verwurzelte Bindung an ihr Land besaßen, wurde weit entfernt von ihrer Heimat ein Flüchtlingsdasein aufgezwungen, welches sie ihrem bisherigen Lebenskontext völlig entriss und auf diese Weise orientierungslos machte. Diese Orientierungslosigkeit ergab sich aus dem Verlust des Landes und der bisherigen Tätigkeit, aber auch aus der völlig fremden und oft feindlich gesinnten neuen Umgebung, die die Flüchtlinge in den Aufnahmeländern erwartete. Dementsprechend wurde das Exil27 als etwas rein Negatives, ja sogar oft als (göttliche) Strafe aufgefasst, die für viele Betroffene unerklärbar war und sie mit einer neuen Realität konfrontierte, deren Ursachen sie teilweise gar nicht durchschauen konnten. Damit gibt dieses Gedicht von 1960 schon den maßgeblichen Tenor der ersten Phase des dichterischen Schaffens Darwischs wieder, die ganz dem Traum der Rückkehr, dem Kampf für die verlorene Heimat und der Verteidigung der palästinensischen Identität verpflichtet ist.
Die Erinnerung an das Land hat also die Funktion, den in der Fremde (ġurba) Lebenden einerseits einen Lebenssinn einzuhauchen, andererseits Orientierung und Halt zu verschaffen:

Ist es wahr, dass die Entfernung vergessen lässt?
Ist es wahr, dass die Liebe im Herzen erstirbt?
Ein Eid wurde geschworen beim Elend unserer Geschichte!
Er lebt noch in unserem Herzen
.28

Dieses Festhalten an Erinnerungen deutet zugleich auf die Angst vor dem Vergessen hin.29 Da dem Erinnern der Heimat im Exil ein räumlicher und dinghafter Bezugsrahmen fast gänzlich fehlt, durch den die Heimat rekonstruierbar würde, kommt der Kommunikation eine herausragende Rolle zu:

Man erinnert nur, was man kommuniziert und was man in den Bezugsrahmen des Kollektivgedächtnisses lokalisieren kann.30

Der Austausch und das Aufschreiben biographischer Erinnerungen wird so zur Existenz sichernden Praxis der kollektiven Identität. Erst dadurch wird die Gemeinschaft im Exil überlebensfähig. Das Schweigen der Erwachsenen hingegen, welches als Folge des traumatischen Erlebnisses der Vertreibung gesehen werden muss, stellt eine Bedrohung der Erinnerung dar.
Festzuhalten ist ebenso, dass vor allem die Natur des verlorenen Ortes erinnert wird. Ähnlich wie andere Widerstandsdichter der 1960er Jahre entlehnt Darwisch viele seiner Bilder und Symbole der Pflanzen- und Tierwelt Palästinas.31 Der Junge saugt „das Rauschen der Maulbeerbäume“ ebenso auf wie „die riesigen Weinberge“ und „fruchtbaren Felder“ und sehnt sich „nach der Umarmung mit der Ähre“.32 Die in den Versen kraft des Erinnerns beschworene Einverleibung der heimatlichen Natur, des angestammten Ortes, ist über die Entfernung hinweg nur durch eine magisch anmutende Verbindung mit der Natur bzw. dem Wind möglich:33

Ohne einen Atemzug vom Duft der Erde,
(…)
die wir aus der Ferne
trinken vom Mund des Windes, der über die Weite weht,
müssten wir aufhören zu hoffen
.
34

Indem Darwisch durch das Schreiben von romantisch-naiver Naturlyrik bäuerliche Werte aufgreift und durch die Personifizierung von Naturelementen die Bindung des Palästinensers an die Heimat noch verstärkt, wendet er sich gegen die fortschreitende Entfremdung von der Erde, die die Flüchtlinge im Exil unweigerlich traf. Die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung verwandelte sich aufgrund der Vertreibung und Enteignung ihres Landes nach 1948 vom Bauer zum unqualifizierten Billiglohnarbeiter.35 Gerade die palästinensische Dichtung der 1960er Jahre trug maßgeblich dazu bei, bäuerliche Werte und Lebenseinstellungen zu konservieren und sie in Widerstandswillen und revolutionäre Kampfbereitschaft umzuwandeln. Traditionelle, bäuerliche Werte bewahren hieß auch, der fortschreitenden Entwurzelung (iqtilā‘), der sich die Palästinenser ausgesetzt sahen, etwas entgegenzusetzen. In der traditionellen arabischen Gesellschaft ist die regionale neben der familiären Herkunft entscheidend für die Bildung einer stabilen Identität. Der Verlust der Bindung an die heimatliche Erde und die daraus resultierende Entfremdung (iġtirāb) würden aus diesem Blickwinkel einem Verlust der eigenen Geschichte und Identität gleichkommen.36
Die äußerst emotionale Rede des Jungen findet ihren Höhepunkt letztendlich in der Gleichsetzung der leiblichen Mutter mit Palästina,37 womit die natürliche Bindung an das Land und die Ungerechtigkeit, welche sich aus der Trennung zwischen Mutter/Palästina und Kind/Palästinenser ergibt, noch einmal bis zu einer paradox anmutenden Aussage gesteigert wird:

Sie ist meine Mutter, und ich kenne sie nicht.38

Der Palästinenser als Waisen- oder Findelkind, als eltern- und somit identitätsloser Mensch, ist ein rekurrentes Motiv in der Lyrik Darwischs, welches sich bis in die jüngsten Gedichte fortsetzt.

 

Erinnerung und Widerstand

Indem Dichtung die in den Lagern entstehende Kultur aufgriff und mit der noch frischen Vergangenheit vermischte, schuf sie eine neue palästinensische Kultur, die bald Teil der palästinensischen Identität werden sollte:

The character of society that developed there [in den Flüchtlingslagern; Anm. d. Verf.] was unique, weaving memories and culture from pre-war Palestine with the povertystricken, harrowing life in the camps.39

Beschränkten sich die ersten Abschnitte des Gedichts „Ich war noch ein Kind“ noch auf die friedliche Evozierung von Erinnerungen und auf die Betonung der Bindung an die Heimat, wandelt sich die Atmosphäre in den letzten Versen mit einer erneuten Aufforderung zu erzählen. In knappen Sätzen, die immer wieder durch Imperative unterbrochen werden, wird zur Mobilisierung und Aktivierung, letztendlich zum Leisten von Widerstand aufgerufen:

Erzählt mir!
Vielleicht wächst meine Sehnsucht,
vielleicht wird meine Flamme zum Vulkan.
(…)
Erzählt mir!
Vielleicht spricht meine Wunde
Den fordernden Ruf meiner Heimat höre ich in mir:
Du Sohn, stürme vorwärts!
(…)
Wir haben geschworen: wir gehen vorwärts.
Alles in uns ist Widerstand
40

Passivität und Beweinen des Verlustes der Heimat und der leidvollen Gegenwart werden in Darwischs Gedicht nun zugunsten einer Haltung aufgegeben, die einerseits das Exil bzw. das Leben im Flüchtlingslager vemrneint,41 andererseits den aktiven Widerstand sowie den Kampf für die Befreiung der verlorenen Erde propagiert.42 Darwisch drückt diese neue Identität 1973 kurz und knapp aus:

Wir sind nicht mehr Flüchtlinge, wir sind Kämpfer.43

Exil und Diaspora stehen diametral zur Hoffnung auf Rückkehr und Befreiung der Heimat. Die Gedichte, die der palästinensische Dichter in den 1960er Jahren schrieb, bewegen sich zwischen dem Beweinen44 der Heimat und dem Propagieren einer kämpferischen Haltung für die Befreiung des verlorenen Landes. Diese beiden gegensätzlichen Haltungen spiegeln auch den damals bestehenden Generationenkonflikt wider. Während die Eltern im Weinen und Klagen verharrten, propagierte die jüngere Generation, die Generation der Revolution, den bewaffneten Kampf:

Meine Seele gleicht der roten Glut der Hölle.
Tadelt mich nicht!
45

Und weiter unten heißt es:

Kann ich das Schweigen dulden,
wenn die Mutter leidet?
46

So ruft die junge Generation, für die das „Ich“ stellvertretend spricht („ich stehe für eine Generation, nicht ich allein bin Revolutionär“),47 zum Widerstand auf. Erinnerung wird so gesehen zu einer notwendigen Station auf dem Weg zum Befreiungskampf. Lebt die alte Generation in der Vergangenheit, so gehört die Zukunft der jungen Generation, die einen Eid schwört, der zum Kampf für ein gemeinsames Ziel zusammenschweißt48:

Ein Eid wurde geschworen
beim Elend unserer Geschichte.49

Jan Assmann formuliert dies in Bezug auf die jüdische Geschichte folgendermaßen:

Der Bund wird geschlossen zwischen einem überweltlichen, fremden Gott (…) und einem Volk, das sich auf der Wanderung (…) befindet. Der Bundesschluss geht der Landnahme voraus. (…) Er ist extraterritorial und daher von keinem Territorium abhängig.50

Bekanntlich propagieren die Gedichte unseres palästinensischen Widerstandsdichters ebenfalls die Rückeroberung des palästinensischen „Territoriums“ aus dem Exil. Der Eid ist symbolischer Ausdruck des gemeinsam getragenen Ziels, welches sich aus dem gemeinsamen Schicksal nährt und die kollektive Identität festigt.
Stilistisch gesehen werden die Sätze in diesem zweiten Teil des Gedichts knapper, verlieren an Melodie und gewinnen an Rhythmus, so dass das Gedicht mehr und mehr einem Kampflied ähnelt. In dem Maß, in dem anschauliche, ästhetische Bilder und Metaphern ausbleiben, werden die zuvor dominierenden Naturbeschreibungen durch Bilder des eigenen Körpers ersetzt, der vollständig in den Akt des Sprechens einbezogen ist. Auch das Personalpronomen „Ich“ geht in den letzten Zeilen ganz im „Wir“ auf und verbindet seine Person mit dem Kampf des Kollektivs.
Daraus lässt sich erahnen, wie sehr die früheste Lyrik von Darwisch im Zeichen des kollektiven Bewusstseins steht, denn das sprechende „Ich“, das teilweise ganz vom „Wir“ vereinnahmt wird, gibt sich nicht als eine dem Kollektiv entgegengesetzte, sondern das Kollektiv repräsentierende Stimme.51 Dadurch gerät die Dichtung in die Nähe der Ideologie.
Die Bilder, Symbole und Motive sind zwar persönlichen Erlebnissen entlehnt, jedoch stark typisiert und allgemein gehalten. Persönliche Erinnerung, die im Falle der Palästinenser eng mit der kollektiven Erfahrung verwoben ist, hat in dieser frühen Phase der Dichtung vorrangig die Aufgabe, durch eingängige und der Mehrheit bekannte Erinnerungsfiguren und Symbole ein von allen geteiltes Gedächtnis mitzuformen und zu festigen.
Die überwältigende Bedeutung der Heimat vermittelt den Eindruck, dass die intakte Beziehung zum Land aus Sicht des palästinensischen Dichters die wichtigste Basis für die menschliche Würde darstellt.52 Diese Heimat lebt aber nicht nur in der Erinnerung des Palästinensers weiter, sondern auch auf dessen Haut.

 

Palästina auf den Körper geschrieben

Bei der Lektüre des Gedichts „Ich war noch ein Kind“ sahen wir, wie die heimatliche Natur Eingang in das Imaginäre des Jungen findet. Die Naturbilder durchziehen auch die palästinensischen Träume, so dass der Leser den Eindruck gewinnt, die Erde sei untrennbar mit der palästinensischen Person verbunden:

Erzählt mir von den Nestern, die der Wind verstreut,
Vom Rauschen der Maulbeerbäume mitten im Dorf,
Von ihrem Duft, der durch unsere Träume zieht
.53

Das einem Schlummerlied ähnelnde Gedicht „Suqūṭ al-qamar“ (Der Mond ist herabgefallen) aus dem Band Die Vögel sterben in Galiläa geht noch einen Schritt weiter und beschreibt explizit den Vorgang des Einschreibens der Heimat auf den Körper. Wieder dient das Dichten der Bewahrung von Erlebtem, das nur all zu schnell vergessen wird:

Wir denken schnell an die Welt,
und keiner weint um den anderen
54

Das lyrische „Ich“ will jedoch das Gedenken an das „Herabfallen des Mondes“, die den Palästinensern widerfahrene Katastrophe, und die Zeit davor, seine Kindheit, wach halten und behüten. Darwisch bewegt sich in „Der Mond ist herabgefallen“ auf zwei Ebenen: Er erzählt die Geschichte seiner Kindheit („wir waren klein / und die Bäume (…) hoch. / Du warst schöner als meine Mutter / und als mein Dorf…“)55 und das Ereignis, welches die Kindheit jäh beendete und die Heimat den wehrlosen Palästinensern wegnahm („dein Körper war gefangen (…) meine Hände waren schlammbedeckt“).56 Auf einer zweiten, das rein Narrative übersteigenden poetologischen Ebene thematisiert das Gedicht aber den Prozess des Dichtens selbst:

Ich habe in Gedanken ein Lied,
Schwester,
Über meine Heimat,
Schlafe
Damit ich es aufschreibe
57

Wie in zahlreichen anderen Versen sprechen Darwischs Figuren den inneren Drang aus, das erfahrene Leid auf eine kreative Weise zum Ausdruck zu bringen, wodurch der Eindruck entsteht, das lyrische Ich sei mit dem Dichter identisch. Die poetologischen Stellen, die uns hier besonders interessieren, bilden nicht nur den strukturellen Rahmen für das Erzählen des Vergangenen. Sie demonstrieren durch den Vergleich des Dichtens mit dem Eintätowieren (al-wašm; eig. tawšīm); dem Einritzen des Liedes über die verlorene Heimat auf die eigene Haut, jene Fixierung der kollektiven Identität auf den Körper, die sich der Dichter selbst zufügt:

Ich habe in Gedanken ein Lied
Schwester
Über meine Heimat
Schlaf… damit ich es einritze
Wie eine Tätowierung auf meinen Körper
.58

Hier werden Erinnerungen nicht nur kognitiv aktiviert, um Vergangenes zu evozieren, wie wir bei der Interpretation des Gedichts „Ich war noch ein Kind“ gesehen haben. Mit dem Eintätowieren des Liedes auf den Körper wird der Körper palästinensisch.59 Dies markiert gleich einem Initiationsritual die soziale Zugehörigkeit, die physisch vor dem Vergessen bewahrt werden muss, denn „das auf den Körper geschriebene Gesetz ist eine unvergessliche Erinnerung.“60
Das Gedicht „Ein Fremder in einer fernen Stadt“ („ġarīb fī madīna ba‘idā“) weist ebenfalls auf die herausragende Rolle hin, die der Erinnerung im Allgemeinen und dem erinnernden Körper im Besonderen zukommt. Erneut wird die Geschichte der Palästinenser in zwei Phasen eingeteilt: Die Phase vor der Nakba wird als heile, idyllische Kindheit dargestellt, in der „die Rose mein Haus“61 war, während die Zeit danach als blutende Wunde erscheint:

Die Rose wurde eine Wunde und die Quelle zu Blut.62

Doch trotz des Leids und des vergossenen Blutes behauptet das „Ich“ von sich, sich nicht wesentlich verändert zu haben, wenn es eine anonyme Person auffordert, seinen Körper zu betrachten:

Starre auf meine Stirn!
Du erkennst die Rosen als Dattelpalmen
und die Quellen als Schweiß
.63

Der Körper ist hier der Träger der Identität der Kindheit. An ihm wird offenbar, was sonst vielleicht dem oberflächlichen Betrachter entgehen könnte. Die in der Zeit konstante, palästinensische Identität, in den Körper eingeschrieben, „verhindert das Vergessen.“64
Die Bereitschaft, seinen Körper zu opfern, um das Gedenken an die Heimat zu sichern, wird in dem berühmten, 1966 veröffentlichten Gedicht „Ein Liebender aus Palästina“ („‘Āšiq min filasṭīn“) aus dem gleichnamigen Band geschildert. Mit fast gewaltsamer Bildlichkeit will der liebende Palästinenser „ein Tuch weben aus (…) Wimpern, / um darauf Gedichte zu schreiben für deine Augen [die Augen der Heimat; Anm. d. Verf.].“65
In einigen Gedichten verbindet Darwisch, der in seiner Zeit des politischen Engagements in Israel eine internationalistisch-kommunistische Gesinnung vertrat, das Motiv der Wunde auf der Haut mit seiner spezifisch palästinensischen Erfahrung und setzt diese in den Kontext der Befreiungsbewegungen der „Dritten Welt“. So ist in dem frühen Gedicht „Das Brandmahl der Sklaven“ die Unterdrückung und Ausbeutung durch die Römer und andere „Kolonialherren“ ebenfalls als Wunde in den Körper des Unterdrückten eingeschrieben. Palästinensische Identität wird mit dem Schicksal unbewaffneter Sklaven mit Gefangenennummern, letztendlich mit dem Schicksal aller unterdrückten und kolonisierten Völker der „Dritten Welt“ gleichgesetzt.66
Auch die Verse des „Tagebuchs der palästinensischen Wunde“ (Yawmīyāt al-gurḥ al-filasṭīnī) erzählen, wie der Palästinenser seine Heimat als Wunde mit sich trägt, denn der Stimme Heimat ist wie ein „Messer, Wunde und Binde“ in einem.67 Die Heimat ist ganz mit dem Körper verschmolzen:

Wir [die Palästinenser; Anm. d. Verf.] sind im Fleisch meiner Heimat… und sie ist in uns. 68

In der jüdischen Tradition finden wir ein bemerkenswert ähnliches Motiv:

Du sollst sie [die Erinnerung an die Heimat; Anm. d. Verf.] zum Denkzeichen an deine Hand binden und sie als Merkzeichen auf der Stirne tragen.69

Die Erinnerung an Israel und an den Bund mit Jahwe sollte den Juden nicht nur sprachlich, sondern auch körperlich auszeichnen. In Anlehnung an den Ethnologen Pierre Clastres beschreibt Aleida Assmann die „egalitäre“ und „minoritäre“ Identität staatenloser Gesellschaften, für die sie als Beispiel das jüdische Volk anführt. Interessanterweise lässt sich der „minoritäre“ Charakter der jüdischen Identität auch auf die heutigen staatenlosen Palästinenser übertragen, denn sowohl die geistige als auch körperliche Fixierung der Gruppenidentität spielt beim Überleben der Gemeinschaft eine wichtige Rolle:

Die minoritäre Identität Israels schließlich ist die paradigmatische Form, in der kulturelle Identität diaspora-fähig wird.70

Die Diaspora wird zum Bindeglied beider Völker. Die Einschreibung auf den Körper in „Gesellschaften der Kennzeichnung“,71 praktiziert in Initiationsriten wie der Beschneidung oder Tätowierung, übt somit eine maßgebliche Funktion zur Festigung der kollektiven Identität aus. Das „identitätsrelevante Wissen der Gruppe (wird) regelrecht in die Körper eingeschrieben,“ um als „dauerhaftes Symbol“72 die permanente Erinnerung der kollektiven Erfahrung zu sichern.
Die Erinnerung an die Heimat allein genügt nicht mehr. 1967 hat sie für den Dichter nicht mehr genug Realitätsgehalt, so dass das lyrische „Ich“ des Gedichts „Heimat“ („waṭan“) auf einen neuen, sich am Menschen orientierenden Begriff von Heimat insistiert, der

Meine Heimat (nicht mehr als) Bündel von Geschichten (sieht),
(…)
nicht mehr als Erinnerung und auch nicht als Feld, das ich anbete.
Meine Heimat ist keine Erzählung, kein Lied, kein Licht
Und keine Locke, von einem Jasminzweig geschmückt.
Meine Heimat

(…)
ist ein Kind, das sich ein Fest wünscht und auch
einen Kuss,
(…)
Dieses Land ist wie die Haut über meinen Knochen
es ist mein Herz

(…).73

Die Sehnsüchte des Flüchtlingskinds in „Ich war noch ein Kind“ haben sich verwirklicht: das „Herz“ des lyrischen „Ich“ ist erfüllt von der Heimat, und Mensch und Land sind eins geworden.

Stephan Milich, aus Stephan Milich: Fremd meinem Namen und fremd meiner Zeit, Verlag Hans Schiler, 2005

 

 

 

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Ibrahim M. Abu-Hashhash: Tod und Trauer in der Poesie des Palästinensers Maḥmud Darwīš

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Nachrufe auf Mahmud Darwisch: Quantara ✝ FAZ ✝ Der Spiegel ✝
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Mahmoud Darwish – Algerie 1983 (Eloge de l’ombre).

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