Manuel Förderer: Zu Wolfdietrich Schnurres Gedicht „Mein Tag“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wolfdietrich Schnurres Gedicht „Mein Tag“. –

 

 

 

 

WOLFDIETRICH SCHNURRE

Mein Tag

Um sechs ballt sich vorm Haus die behaarte
Faust des Molkereifahrers, deren knochig hervorstehendes
Daumengelenk den lebenslangen Melker verrät,
um den Kunstharzknopf der erneuerten Gangschaltung,

und ich höre, im russischen Winter verloren, den ältlichen Diesel
sich keuchend mit mir am eigenen Atem verschlucken
und unterm Gleitkettenrasseln der betonverkrusteten Panzer
die mich seit fünfzehn Jahren durch mein arktisches Eisbett verfolgen,

schnattern nun in der Kurve die pinguinbrüstigen Milchflaschen auf,
und ich stoße das Gewehr in den Schnee, hänge das Koppel
über den verrosteten Kolben und schlage mir durchs Dunkel
eine Bresche ins Bad.

 

Ich rasiere mich in einem Litho von Arp. Ich bin nicht
für Glas vor Kunst, es soll nichts Trennendes sein zwischen mir,
dem Betrachter und ihr, aber ich fürchte den Staub, er hat
meine mir gleichaltrigen Tedibären und Zwerge in graue
rentierflechtenbehangene Trolle verwandelt
aaakahle Fellbündel

 

„Ich bin nicht für Glas vor Kunst“

– Zu einem Gedicht aus Schnurres Nachlass. –1

(…)

Anders liegt der Fall bei dem Fragment gebliebenen Gedicht „Mein Tag“, das Teil der Textsammlung einer schlicht „Lyrisches 1959–1979“2 betitelten Mappe ist. Hier wird greifbar, was Schnurre in seinen poetologischen Reflexionen Formel und Dechiffrierung über den Entstehungsprozess seiner Gedichte geschrieben hat:

Es gehen immer erst zahlreiche Fassungen voraus. Die Arbeit erstreckt sich oft über Jahre. Kaum ein Vers, der unter fünfzigmal geschrieben wird.3

Die Arbeiten an diesem Gedichtfragment weisen zwei Datierungen auf: „27.XII.59“ sowie „1.IX.60“, erstrecken sich also über mehrere Monate, bevor Schnurre sie einstellt. Insgesamt umfasst das Fragment sieben Seiten, wobei zwei davon Typoskripte sind, in denen Schnurre Fassungen des Gedichts, die von den handschriftlichen Notaten teils erheblich abweichen, ins Reine getippt hat (Blatt 53 und 54). Berücksichtigt man die per Hand nachträglich eingefügten Absätze, liest sich die Typoskriptfassung des Gedichts wie folgt: 

Blatt 53: 

MEIN TAG 

Um sechs ballt sich vorm Haus die behaarte
Faust des Molkereifahrers, deren knochig hervorstehendes
Daumengelenk den lebenslangen Melker verrät,
um den Kunstharzknopf der erneuerten Gangschaltung, 

und ich höre, im russischen Winter verloren, den ältlichen Diesel
sich keuchend mit mir am eigenen Atem verschlucken
und unterm Gleitkettenrasseln der betonverkrusteten Panzer
die mich seit fünfzehn Jahren durch mein arktisches Eisbett verfolgen,

schnattern nun in der Kurve die pinguinbrüstigen Milchflaschen auf,
und ich stoße das Gewehr in den Schnee, hänge das Koppel
über den verrosteten Kolben und schlage mir durchs Dunkel
eine Bresche ins Bad.

Blatt 54: 

Ich rasiere mich in einem Litho von Arp. Ich bin nicht
für Glas vor Kunst, es soll nichts Trennendes sein zwischen mir,
dem Betrachter und ihr, aber ich fürchte den Staub, er hat
meine mir gleichaltrigen Tedibären und Zwerge in graue
rentierflechtenbehangene Trolle verwandelt
aaakahle Fellbündel

Die ersten drei Strophen, die auf Blatt 53 abgetippt sind, folgen einem für Schnurre nicht untypischen Verfahren, in dem (alltägliche) Wahrnehmungen durch Erinnerungen an den Krieg überblendet werden. Diese Vermischung verschiedener Ebenen scheint Schnurre vorgeschwebt zu haben, wenn er auf Blatt 59 schreibt, er plane ein „Mixtum Compos[itum]“. Die Geräusche, die der Wagen des Milchmannes macht, lösen beim lyrischen Ich eine Art mnemonischen Reflex aus, der es zurück in den „russischen Winter“ versetzt – die autobiografische Grundierung ist hier deutlich zu erkennen. Da dieser Textteil damit endet, dass das lyrische Ich sich eine „Bresche ins Bad“ schlägt, liegt die Vermutung nahe, dass jene Strophe, die sich auf Blatt 54 findet, als Fortführung gedacht war. Auffallend ist hier das Bild vom sich in der Glasspiegelung einer Lithografie von Hans (Jean) Arp rasierenden lyrischen Ich, das sich mit allgemeinen Kunstreflexionen verknüpft.4 Das Optieren für eine möglichst geringe Distanz zwischen Kunst und Betrachter ist analog zu jener Relation zu verstehen, die Schnurre zwischen sich als Autor und seinen Lesern postuliert und als „entscheidenden Schritt in die angewandte Humanität“ begreift: „Verständlich sein. […] Solange nicht auch der Hilfsschüler meine Geschichten zu lesen versteht, gestehe ich, meinen Beruf noch nicht voll zu beherrschen.“5 Dieser Gedanke vollständiger Offenheit (kein „Glas vor Kunst“), der sich als Variation und frühe Vorwegnahme des Verständlichkeitspostulat lesen lässt, wird flankiert von der Furcht, dass gerade diese Offenheit eine Bedrohung darstellen könnte. Symbolisch steht hierfür der Staub, der seinerseits das Alltägliche in eine höhere Bedeutungssphäre transferiert und als (ambivalentes) Sinnbild der Vergänglichkeit in vielen Gedichten Schnurres präsent ist.6
Für beide Textteile existieren handschriftliche Notizen, wobei vor allem Blatt 56, das inhaltlich der Badezimmer-Episode zuzurechnen ist, Schnurres Arbeitsweise besonders gut illustriert. Insgesamt viermal beginnt Schnurre eine Verspartie, die sich jeweils minimal voneinander unterscheiden und die er allesamt verwirft, bis zuletzt sechs, teils nur schwer lesbare Zeilen stehen bleiben:

Ich knipse kein Licht an; in Dampf eingehüllt + das Tosen
des Wassers im Ohr zu dem sich wie mit dem Drahtbesen
aufs gestraffte Fledermauspergament meiner Innenfläche
getippt der Rhythmus des Aufschlags gesellt, sitze ich auf
dem Lokusdeckel und gedenke des Uranfanges der Zeit
Morgen war es wie jetzt als die Schlamm-Moleküle

Auf Blatt 58 lässt sich Vergleichbares erkennen. Dort erfährt jener Abschnitt, der im Typoskript lautet „und ich stoße das Gewehr in den Schnee, hänge das Koppel / über den verrosteten Kolben und schlage mir durchs Dunkel / eine Bresche ins Bad“ mehrere Bearbeitungen:

und ich stoß des Gewehr, Mündung voran, gähnend ins Laken
und heule zwischen die summenden Sprungfedern der Couch
reck
und ich stoß des Gewehr in den Schnee und gähne und richte mich auf
üdZ
gehe ins Bad
und erleichtert
und ich stoß das Gewehr in den Schnee + gehe ins Bad.
Es ist eng

An dieser Stelle lässt sich unter anderem nachzeichnen, wie aus dem Alltagsgegenstand „Laken“ über die von Schnurre als „Rückgrat eines Gedichts“7 bezeichnete Assoziationskette der „Schnee“ des russischen Winters wird. Das Hinzukommen weiterer Gegenstände aus dem semantischen Feld des Militärs („Koppel“, „Kolben“), wie sie das Typoskript verzeichnet, lässt sich anhand der vorhandenen Manuskripte leider nicht nachvollziehen.
Die auf Blatt 56 sowie auf dem Typoskript erwähnte Lithografie von Arp erfährt auf einem weiteren, eng mit Bleistift beschriebenen Manuskript eine Ergänzung; auf ihm ist ausgeführt, was auf der besagten Lithografie zu sehen ist:

Ich rasiere mich in einem Litho von Arp, ich bin nicht für Glas vor Kunst,
es soll nichts Trennendes sein zwischen mir, dem Betrachter und ihr,
aber ich fürchte mich vor Staub, er hat meine mir gleichaltrigen Teddibärn +
Zeug
grau wie zwergige Lumpenmänner gemacht, da soll der Arp
wenigsten jung bleiben. Er stellt auf eigelber Fläche, in die ein schneeiger
Dotter eingesetzt ist, eine grüne mehreckige Mutter mit spiz
zulaufendem Pickelhelm dar, deren Wunsch ein Kind zu besitzen
sich in einer großen keulenhaft aufreckenden ebenfalls weißen
Form manifestiert, die etwa die Silhouette eines balzenden
Auerhahns hat, das Kind ist schon da, grün wie die Mutter
liegt es zur Bohne gekrümmt

Neben der Versprachlichung (und assoziativen Anreicherung) der für Arp typischen nicht-figurativen Formsprache, die zumeist mit monochromen Flächenarrangements operiert, sind zudem zahlreiche Variationen zur weiter oben angegebenen Typoskriptfassung erkenntlich. So findet sich im Manuskript die Formulierung „zwergige Lumpenmänner“ um das alte, verstaubte Spielzeug zu beschreiben, und nicht, wie im Typoskript, die etwas manierierte Umschreibung, der Staub habe selbiges in „rentierflechtenbehangene Trolle“ verwandelt – wofür es ebenfalls keine handschriftlichen Fassungen gibt. Ob die handschriftliche Weiterführung der Badezimmer-Episode früher oder später als die abgetippte, kürzere Fixierung entstanden ist, bleibt ungewiss.
Ebenso ungewiss ist, inwiefern eine weitere, sehr kurze Verspartie, die sich auf Blatt 57 befindet, besagte Episode fortführen sollte. Auf diesem Blatt finden sich zunächst in Bleistift die ersten drei Zeilen der Badezimmer-Episode (sie unterscheiden sich von der weiter oben angeführten Fassung lediglich durch ein Wort), wobei Schnurre nach „Betrachter“ abbricht. Es folgt, mit einigem Abstand und mit einer Handschrift, der man die Eile des Notationsvorgangs ansieht, die Zeile:

Lasset uns deutlich sein miteinander.

Schnurre schreibt die Zeile mit Bleistift, umrandet sie aber, vermutlich später, mit Tinte, was als Bedeutungszuschreibung aufgefasst werden darf. Er greift diese Zeile auf dem gleichen Blatt noch einmal auf und fügt ihr zwei weitere Zeilen hinzu. Das Ergebnis hat etwas Sentenzenhaftes:

Lasset uns deutlich sein miteinander,
was das Leben uns dir bietet, ist verschwommen genug.
Die Klarheit des Windes sei mit dir.

Es bleibt letztlich Spekulation, warum Schnurre die Arbeiten an „Mein Tag“ schließlich eingestellt hat. Vermuten lässt sich, dass sein Vorhaben, seinen Alltag als Schriftsteller, dem er im Schattenfotograf eine Vielzahl von Reflexionen widmet, in ein Gedicht zu fassen, mit der Vorstellung kollidierte, das Gedicht presse das, was „man meint“, bis „zu kristallinischen Formen zusammen. Entweder zersplittert der Inhalt oder er strahlt“.8 Der Stoff schien sich nicht zusammenpressen zu lassen. Zuletzt ist „Mein Tag“ zersplittert.

Manuel Förderer, aus Günter Häntzschel, Sven Hanuschek und Ulrike Leuschner (Hrsg.): Wolfdietrich Schnurre, edition text + kritik, 2020

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