Marcel Beyer: Falsches Futter

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Marcel Beyer: Falsches Futter

Beyer-Falsches Futter

IM HOTEL ORIENT

Wir sind gepuderte Gestalten
auf Polstern in der Sitzecke
halbdunkel, schwarzer Samtverschnitt.
Das sind die wahren Etablissements,
Männer im Unterhemd öffnen die Tür.
Ich bin jedoch nur Augen- / Ohrenkunde:
Gibt es das Räuspern noch? Das Schnupfen?
Das Verhören? „Die waren hungrig“, nachts,
im Nebenzimmer, spät bis Drei.
Und wir sind traurige Figuren
am Lacktisch, Nachtgespräch.
Augen, halboffen. Frisch rasierte Schläfen:
Gibt es das Flüstern noch? Das Rauchen?
Spiele die Koksnase: das mitgegangene
Tütchen Zucker, SANTORA, vor dem
kalkfleckigen Spiegel inhaliert.
MAXIM FUTUR-Spiegelung: Gibt es
das Schlucken noch? Und stehe da
wie aromatisiert: heiß, Holundrisch
und schwach

 

 

 

Als literarische Entdeckung

des Jahres 1995 ist Marcel Beyers meisterhafter Roman Flughunde in Erinnerung. Die imaginative und dokumentarisch genaue Akustikgeschichte des Nationalsozialismus überzeugte nicht zuletzt durch ihre rhythmische Prosasprache. Konsequent legt nun der Erzähler (und nebenbei: Musikkritiker) Marcel Beyer sein erstes Buch mit Gedichten der letzten Jahre vor: Falsches Futter.
Das wahrnehmende und erinnernde Ich wird zum stöbernden Spuren- und Stimmensucher in der Gegenwart, zum Ohrenzeugen an Herrentischen, zum Protokollanten einer Geschichte vom Wien der dreißiger Jahre bis zum letzten Schlachtfeld des zweiten Weltkriegs vor Berlin. Das Falsche Futter der Weltanschauungen bleibt gegenwärtig, wo die Gegenwart noch undurchschaut mit der Vergangenheit verbunden bleibt. Zwischen den fotorealistisch scharf geschnittenen Bildern dieser Gedichte, die das Bedeutsame im alltäglich Kleinen finden, liegen der eigene Herkunftsort und die Funde in der Familiengeschichte. Ein blinder Fleck zu Anfang noch, aber im Gang durch Geschichte und zwischen Orten klären sich in den drei Abteilungen von Falsche Futter die Konturen, gewinnt der biographische Blick Tiefenschärfe.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1997

 

Verwickelt und verflochten

„Du mußt dein Leben ändern.“ Ungestraft durfte nur Rainer Maria Rilke ein Gedicht derart deklamatorisch, diktierend beenden. Und das auch nur – noch – zur Rilke-Zeit.
Marcel Beyer, Jahrgang 1965, ist kein deklamatorischer Dichter. Ist kein diktierender Dichter. In der Lyrik ändert der Lyriker sein Leben. Seine Gedichte sind Szenen des geänderten Lebens. Aufgestellt wie Dominosteine. Zeile hinter Zeile. Eine Linie bildend. Die des unumstößlichen Lebens?
Ohne Bildung und Bereitschaft sich zu bilden, ist der Dichtung des Marcel Beyer nicht zu beizukommen. Der Kölner hält sein Ich zurück, ohne es herauszuhalten. Sein Ich ist im Wir, Uns, Du. Wir, Uns, Du zu sagen ist für den Lyriker eine Möglichkeit, sich dem Ich zu nähern. Nicht dem Ich, das sich in seiner Isolation gefällt. Das auf den Zuruf eines Rilke wartet. Auch nicht jenes Ich sozialistischer Prägung, das sich im massenhaften Wir verkroch: die Parole „Vom Ich zum Wir“ mißverstanden!
Beyer läßt sich die Ansprüche nicht ausreden, die für das Vom-Ich-zum-Wir und Vom-Wir-zum-Ich gelten. Die Ansprüche kommen in seiner Lyrik gleichberechtigt zur Geltung.
Die Gedichte sind Gedichte vom Leben in der Gesellschaft und somit des gesellschaftlichen Lebens. Das Sein des Subjekts wird nicht losgelöst vom Sein der Gesellschaft gesehen. In Deutschland gibt es nicht viele Dichter, die konsequent das Sein der Gesellschaft und das Sein in der Gesellschaft zum Gegenstand der Gedichte machen, ohne zu agitieren, zu propagieren, zu sanktionieren. Wenn Beyer für das Titelgedicht seines Buches Falsches Futter die Methapher vom Kanonen-Futter adaptiert und umfunktioniert, kann er sinn-bild-haft formulieren, wie er die ewige deutsche Lands-Knecht-Elends-Herrlichkeit sieht. Zu der gehören so synonymhafte Biographien wie die der Frau Riefenstahl. Biographien, die endeten, wo der faschistische Krieg verreckte („Halber Kessel“).
Für Beyer ist Gegenwart auch die fortwährende, verlängerte Vergangenheit, ist Generation auch die fortgesetzte, gewesene Generation. Beyer begreift Gegenwart, indem er nicht mit der Vergangenheit bricht, nicht die vorausgegangenen Generationen ignoriert.
In den Gedichten des Lyrikers ist das Gestern mit all seinen Verflechtungen, sind die Gewesenen mit all ihren Verwicklungen. Die Verflechtungen des Gestern zu sehen wie die Verwicklungen der Gewesenen heißt, Heimat-Kunde zu betreiben, um sich das Verstehen und die Verständigungen über das Hier und Heute zu erleichtern. Hier und Heute kann ebenso Kairo, wie Wien, wie Halbe sein. Allen Orten ist gemeinsam, daß sie Orte mit Geschichten sind, die Geschichte wurden und werden. Geschichte ist nicht alles für Marcel Beyer. Geschichte ist alles für seine Gedichte.
Vierzig Jahre nach Rilkes Tod, zwanzig Jahre nach Fünfundvierzig, drei Jahre vor Achtundsechzig geboren, straft der Lyriker diejenigen Lügen, die sich hinter der Formal „Generation X“ verschanzen. Marcel Beyer sorgt sein Hineingeboren-Sein, und er sorgt sich. Nicht im Unglück zu sein bedeutet nicht, im Glück zu sein. Bedeutet den wechselnden inneren wie äußeren Änderungen ausgesetzt zu sein. Die ständige Veränderbarkeit ist in den Gedichten. Profane Zukunftsvisionen posaunt Marcel Beyer nicht hinaus. Er bleibt dabei festzustellen:

In manchen Stunden werden meine Augen dunkel, dann rase ich zurück in meine Dunkelheit, bevor die ersten Worte kamen…

Björn Berg, Edition Luise, 1998

Menschenfleisch ist das falsche Futter

Seinen Roman Flughunde (von 1995) haben die schärfsten „Hunde“ hoch gelobt. Deshalb soll hier ein lesendes Auge auf zwei andere Drucksachen geworfen werden, auch, weil Marcel Beyer (geboren 1965) seit geraumer Zeit unter einer Dresdner Adresse schreibt. Klar, daß ein Verlag vom Erfolg seiner Autoren profitieren will (und muß), also schiebt Suhrkamp jetzt zwei Debüts von Beyer als Taschenbücher nach, seinen ersten Roman Das Menschenfleisch und den ersten Gedichtband Falsches Futter.

(…)

Auch die Gedichte des M. B. nehmen, mehr oder weniger gut versteckt, Anleihen bei den Meistern, ohne allerdings wie in der Prosa das Imitat zuzugeben. Es taucht „ein Plausch nun über Bäume“ (Beyer) auf, „wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist“ (Brecht). „Nur zwei Dinge“ (Benn) werden parodiert mit „Nur zwei Koffer“ (Beyer).  Aus der Zeile „Gewaltig endet so das Jahr“ in „Verklärter Herbst“ (Trakl) wird „Gewaltig endet so der Tag“ in „Verklirrter Herbst“ (Beyer). Bestimmt kann ein ausgebuffter Literaturwissenschaftler noch vielvielviel mehr Bezüge finden. So taumelt z.B. durch mehrere Gedichte des Bandes und durch das Wien der 30er Jahre ein Josef, was den viel gescholtenen Wiener Dichter Josef Weinheber meinen könnte, auf den M. B. kalauernd anspielt:

kalbsdeutsch, ist die Weinheberlaune in Version

Überhaupt gibt es auffallend wenig Begriffe, die sich auf die Gegenwart beziehen, dafür aber ein Wiedersehen mit Urahnen des Dichters, worauf die Leser schon lange gewartet haben, und Leni tritt auf mit ihrem „Schmierfilm“ und „Hinkebein“ Goebbels als Tankwart verkleidet in Blitzmontur. Im vierteiligen Gedicht „Der Kippenkerl“ wird in expressionistischem Metaphernstakkato der letzten Schlacht vor Berlin gedacht, wo „Wenck kommandiert sein Kinderkorps“. Sehr beachtlich, anerkennenswert, aber irgendwie manieriert, aufgesetzt, mit dem analytischen Blick eines Außerirdischen. Ansonsten hat der Titel des Buches etwas prophetisches, denn die meisten Gedichte waren das „falsche Futter“. Mag sein, Flughunde haben M.B. zum Durchbruch verholfen; Menschenfleisch und Falsches Futter aber sind eher ein Einbruch.

Michael Wüstefeld, SAX. Das Dresdner Stadtmagazin, 09/1997

Lesung von Marcel Beyer aus dem Band Falsches Futter im Deutschen Literaturarchiv Marbach am 22.1.1998

Lesung von Marcel Beyer aus dem Band Falsches Futter im Goethe Institut Amsterdam 1997

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Angelika Overath: Haut- und Lautfehler
Neue Zürcher Zeitung, 15./16. 2. 1997

Jörg Drews: Aschefeld und Projektil
Süddeutsche Zeitung, 19./20. 4. 1997

Rolf Schneider: Keiner hat sie richtig lieb
Berliner Morgenpost, 6. 7. 1997

Annette Brockhoff: Dunkle Augen oder Das gezeichnete Ich der neunziger Jahre
Basler Zeitung, 3. 10. 1997

Ernst Osterkamp: Schneemanöver
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. 10. 1997

Axel Kutsch: Marcel Beyer: Falsches Futter“
Das Gedicht, Heft 5, 1997

Das kommende Blau

– Über Marcel Beyer. –

1
„… aber viel wichtiger ist die Rhythmizität.“ – so Marcel Beyer 1991 über die Wirkung des Musikhörens bei der Arbeit. Wichtiger als was? Als die „Textfetzen“, die aus der Popmusik sich ins Schreiben von Prosa, ins Schreiben von Gedichten sowieso, ins Schreiben überhaupt mischen.
Rhythmizität (und Exhumierung). Andere Alltage, andere Nächte, wie in der unmusikalischen 70er-Jahre-Lyrik, wie in den frühen 80ern, als die Rhythmizität der Musik längst über London, Karibik, Düsseldorf, den literaturinteressierten jungen Mensch der Bundesrepublik daraufhingewiesen hatte, daß mit dem deutschsprachigen Gedicht etwas zu geschehen hatte, sollte es nicht sang- und klanglos von der Bildfläche, von der Tonspur verschwinden.
Pathetisch?
Zeithistorisch präzise.

2
Zeit- bzw. Zeiggenossenschaft im Gedicht:
1989 benutzt Beyer in Kleine Zahnpasta (im programmatischen „A Step into the Batcave“) ein Eliot-Zitat als Motto; der in älteren Jahren christ-konservative Herr sieht sich plötzlich als Scratcher entdeckt. To scratch, ursprünglich durch Nagel-Kratzen Risse in etwas machen; Tätigkeit, die unter Benutzung scharfer Werkzeuge durchgeführt wird. Eine dritte Bedeutung noch kennt das deutsch-englische Wörterbuch von 1794: schlecht schreiben, kritzeln, schmieren. Und folgerichtig wird Slang-verwendend im/vom Gedicht gefragt: CAN U EAR ME?

3
Rhythmizität der jüngeren, wie der Zeitgeschichte, ins Werk gesetzt durch Exhumierung – Hervorhebung – von Sprache. Das in der Tradition der frühen Moderne angelegte Interesse für die – mit prekärer Sprache verbundene – prekäre Figur: Goebbels, Weinheber, die beiden unseligen Josephs. Goebbels, der das Grab „Holunderlins“ (Beyer) zum hundertsten Todestag mit Nazi-Ehrenkränzen zupflastern ließ. Spielt Scardanelli Erdklavier? Legt er auf?, frage ich mich manchmal, wenn ich Gedichte lese von Marcel Beyer.
Weinheber, der für Auden Thema wurde, jener Auden, dem Benn Respekt bezeugte. Weinheber, der in seinen den Wiener Kleinbürger-Slang benutzenden Gedichten von Wien wörtlich, seinem populärsten, 1935 erschienenen Band, am stärksten ist, sich am wenigsten klassizistisch korsettiert zeigt. Über Weinheber gibt es eine bemerkenswerte Äußerung von Jandl, in einem Wiener Gasthaus:

Der hätt sich nicht umbringen dürfen. Das war falsch. Das nehm ich ihm übel.

4
Beyer, der, wie jetzt schon gesagt werden kann, noch vor Grünbein bedeutendste Lyriker der 60er-Jahrgänge, liebt den Gang vorbei am Kohlenkeller der Geschichte: der Geschichte des 20. Jahrhunderts (wie der eigenen Kindheit). Beyer braucht das. Und es ist kein verdruckster, schleichender Gang. Wir, die Leserschaft Beyers, brauchen seinen Blick und Ton, sein unerhörtes Vorgehen in der Metaphernwelt, der harmlosen Gemütern und weniger Harmlosen (ideologisch imprägnierten Moderne-Hassern) zynisch vorkommen mag. Beyers Bewegtheit in den Textgängen, die Performance seiner Dichtung: Ausgeburten des Zynismus im Sinn der Generation Golf, die Bewegung mit seifigster Beweglichkeit verwechselt? Kann nicht sein. Weil sein Gedicht den bewegungsreichen, ja durchaus federnden Schritt geht? Weil seine Gedichte als Letzte Lockerung Serners getanzt werden, was bekanntlich Rückgrat verlangt?
Ja, deswegen.
Hierbei wird übersehen, daß es die Tatsachen sind, die dem Dichter das – eigentlich unsägliche, das unerhörte – Material an die Hand geben. Es ist die Recherche des Dichters. Es ist die unglaubliche Rhythmizität – und die sorgfältige Kennerschaft der historischen Avantgarden –, die Beyer zu seinen Ergebnissen bringen.
Wie gesagt: Marcel Beyers Gedichte, in der Auflage von 100 Exemplaren verbreitet, hat die Scene schon um 1989 gekannt. Und sie hatten, möchte ich dazufügen, von vornherein einen guten Ruf.

5
Beyer exhumiert gern.
Er macht gern mit der Sprache rum.
Er bettet gern um. (Siehe oben.)
Von ihm stammt die angebrachteste Trakl-Anverwandlung, die wir kennen, sein Verklirrter Herbst.
Er ist beschäftigt am Institut für Rechtsmedizin. Früher Köln, zeitweise Wien, seit einiger Zeit Dresden.
Er ist der rhythmische Forensiker der Gegenwartsliteratur.
Wahres Futter: Es schreibt keiner ein schöneres, keiner ein bewußteres, genaueres Gedicht-Deutsch als Marcel Beyer.
Keines Abscheu vor der Geschichte ist größer. Und keiner kann das cooler zur Sprache bringen.

Vielleicht ist es so zu sagen:
Es ist die Rhythmizität des Liebenden, der solche Gedichte schreiben kann.

Thomas Kling, aus: Thomas Kling: Botenstoffe, DuMont Verlag, 2001

CAN U EAR ME?

– Ein Seitenblick auf Marcel Beyers frühe Lyrik und poetische Ohrenkunde. –

Am Anfang dieser Poesie war das Kratzen, das Scratchen, Mixen und Überlagern von Tonspuren. »CAN U EAR ME?«, fragt bereits Marcel Beyers frühes Gedicht »A Step Into Tue Batcave«1 und markiert schon in seinem Motto, zwei Gedichtzeilen von T.S. Eliot, die Leidenschaft des Dichters Beyer für das Hören, das Akustische, die »Ohrenkunde«2 »Hark! now, I hear them: / scratch scratch scratch…«: Alte Kulturtechniken, inkarniert im Zitat des Dichterpriesters Eliot, der seinerseits »Ariels Song« aus Shakespeares The Tempest zitiert, treffen auf neue Kulturtechniken – das Scratchen, die rhythmische Bearbeitung der Schallplatten am Turntable. »CAN U EAR ME?« Das ist die akustische Urszene der Dichtkunst Marcel Beyers. Das primäre Sinnesorgan des Dichters ist das Ohr.

Die Macht des Klangs war immer stärker als die Macht des Sinns.3

Diesen Satz des Schriftstellers Joseph Conrad hat Beyer für sein eigenes Schreiben adoptiert. Was er an Zitaten, Fügungen, Sentenzen in seine Gedichte integriert, verdankt sich oft den Suggestionen und Reizwirkungen von Klängen, Tönen, Sounds. Es sind die Klänge von Tonträgern wie von Sprachspeichern, Klänge aus Popmusik und Poesie. Melodien und Klänge des Reggae-Poeten Linton Kwesi Johnson, Klänge von Don Cosmic, dem unglücklichen Posaunisten aus Jamaika, Klänge aus deutschen Schlagerkellern, Klänge der Beach Boys und einer Lambadamaschine, aber auch Klänge aus Dialekten, Sprachbildern, fremdartigen Wörtern und Wortkombinationen.
Bereits in seinen frühen Gedichten, den damals in DIN-A5-Format geklammerten Blättern der Bände Kleine Zahnpasta (1989) und Walkmännin (1991), sind musikalische Szenen die akustischen Quellpunkte seiner Poesie. Nicht nur in seiner Hommage an den Batman-Kult und das Kölner Lokal »Batcave«, die er mit dem erwähnten Eliot-Zitat eröffnet hat, sondern auch in weiteren zentralen Gedichten aus den »rasch copyzierten Angelegenheiten« (PB S. 111) dieser frühen Jahre ist diese akustische Passion als Ursprungsimpuls der Poesie nachweisbar. Akustische Reize aller Art sind der Ausgangspunkt für eine Erkundung der Gegenwart, wobei die Vorliebe für die sinnliche Momentaufnahme bald abgelöst wird von einem dezidiert zeithistorischen Interesse. In Graphit konzentriert sich Beyer dann auf die Materialität von Gegenständen, Stoffen und Substanzen, um die in ihnen abgelagerte Geschichte freizulegen. »Ich muß hinunter in die Dialekte / steigen«4 – diese Verse sind so etwas wie ein poetischer Imperativ. Der Protagonist in Beyers Gedichten steigt hinunter in die Dialekte, ein Spracharchäologe, der fremde Wörter, Begriffe und Namen abtastet, die dann mit ihren Klangwerten und ihren Morphologien zum Resonanzraum seines Schreibens werden.
Im Langgedicht »Sanskrit« (Gph S. 126–135) werden die Eigenheiten von Beyers Poesie in besonderer Weise sichtbar. Hier wird Karl May, das Sprachengenie aus dem sächsischen Radebeul, zum poetischen Stellvertreter des Dichters. Das Gedicht, das anlässlich einer in Dresden aufgeführten Karl May-Oper entstand, führt alle Leidenschaften des Lyrikers Beyer zusammen – seine Sprachbesessenheit, seine Erkundung des menschlichen Artikulationsapparats und schließlich seine Fähigkeit, die Position des lyrischen Ichs auf viele Stimmen zu verteilen. Hier formuliert der lyrische Protagonist ein Selbstporträt, das sich wie ein poetisches Credo des Dichters Marcel Beyer liest:

Ich
bin ein Mann, der sich in
alle Zeit verzweigt, ein Mann
der tief in Schützengräben
blickt und nichts vergessen kann
(Gph S. 128).

Der »Mann, der sich in alle Zeit verzweigt« und »tief in Schützengräben blickt«: Das ist die Position des Dichters auch im Gedicht »Verklirrter Herbst«, ein Meisterstück der historischen Anverwandlung und Überschreibung eines kanonisierten Textes. In diesem 1994 erstmals veröffentlichten Gedicht,5 das dann später in seinen Gedichtband Falsches Futter aufgenommen wurde, erweist sich Beyer als gewiefter Medientechniker. Er verknüpft ein O-Ton-Protokoll mit der Kontrafaktur eines Georg Trakl-Gedichts6 und der lakonischen Mitschrift eines Funkverkehrs unter Kriegsbedingungen. Die vierhebigen Jamben Trakls werden zerlegt, fragmentiert und in eine elliptisch gefügte Textur integriert. Was bei Trakl in »Ruh und Schweigen untergeht«, das bringt Beyer in einen Unruhezustand, der dem existenziellen Ausnahmezustand der lyrischen Protagonisten entspricht.

GEORG TRAKL

Verklärter Herbst

Gewaltig endet so das Jahr
Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.
Rund schweigen Wälder wunderbar
Und sind des Einsamen Gefährten.

Da sagt der Landmann: Es ist gut.
Ihr Abendglocken lang und leise
Gebt noch zum Ende frohen Mut.
Ein Vogelzug grüßt auf der Reise.

Es ist der Liebe milde Zeit.
Im Kahn den blauen Fluß hinunter
Wie schön sich Bild an Bildchen reiht –
Das geht in Ruh und Schweigen unter.

 

MARCEL BEYER

Verklirrter Herbst

Der Funker: »Ver-.« Gewaltig endet so der Tag.
»Aufklären.« Sie hängen in den Leitungsmasten.
»Bild an Bildchen. Melden.« Die Drähte brummen
sonderbar. »Hier Herbst.« Hier Einbruch. »Hier
Verklirrtes.« Die Toten, statisch aufgeladen.

Der Funker: »Melden.« Da sagt der Landser: Es
ist gut. »48 Stunden in diesem Loch.« Beinfreiheit,
Blickangst. Und jemand flüstert: Sie sind heiser?
»Falls wir jemals wieder raus.« Das Bahnsteigklima
bringt mich um. »Noch.« Die Viehwaggons
auf Nebengleisen. Wurstflecken.

Der Funker: »Aber selbstverständlich, du willst es
eiskalt, Junge?« Ein Zug fährt an, den er besteigt.
»Da wird dein Hals aber kaputt sein, morgen früh.«
Scheitel, gebürstet. Nah dem Verteiler, sieht er,
sprühen Funken. »Junge, du willst es eiskalt?« Ganz
spezielle Rasuren. Scharmützel. »Leich an Leiche
reiht sich.« Ausrasiert. »Flackern.« »Hinterköpfe.«
7

Eine auratische Naturszene bei Trakl wird von Beyer transformiert in ein Protokoll eines mörderischen Geschehens. Der Verschmelzungswunsch des lyrischen Subjekts mit der Natur, der die erste Strophe von »Verklärter Herbst« dominiert, wird konterkariert durch das Inventarisieren knapper Nachrichten und Beobachtungen.
Als Leser werden wir zunächst eingeflochten in ein undurchdringliches Nachrichtennetz, in ein Organigramm von rätselhaften Daten, Befehlen und Dialogen. Da ist kein intaktes lyrisches Ich mehr da, das uns aus unserer Verwirrung erlöst. Wo Trakl mit wohlgesetzten Reimen und leuchtenden Farben eine »goldne« Herbstlandschaft malt, da konfrontiert uns Beyer mit einer akustischen Landschaft aus bedrohlichen Geräuschen und Stimmen. Trakls »Landmann« mutiert bei Beyer zum »Landser«, dessen Lageberichte von der Front auf die alltägliche Realität des massenhaften Tötens und der universellen Brutalisierung verweisen. Als Trakl 1913 seinen »Verklärten Herbst« schrieb, war noch nicht absehbar, dass er alsbald selbst mit der »schwarzen Verwesung« der Kriegsmaschinerie konfrontiert werden würde. In »Grodek« dann, seinem erschütterndsten Gedicht, sind die Hoffnungszeichen der Natur verschwunden und werden durch Bilder des Verfalls ersetzt.
Marcel Beyer hat mit »Verklirrter Herbst« ein Gedicht geschrieben, das von der Unmöglichkeit weiß, sich emphatisch in die kollektiven Leiderfahrungen von Kriegsteilnehmern hineinzuversetzen. Der Autor prahlt nicht mit geborgtem Leid, sondern sammelt aus der objektiven Distanz des Protokollanten die Stimmen, Daten und Befehle, die im Äther umherschwirren. Eine Technik knappsten Konstatierens, die die Praxis des Völkermords thematisiert, ohne ihn direkt zu benennen (»Viehwaggons auf Nebengleisen«). Das Gedicht ist kein Ort mehr, an dem sich idyllisch »Bild an Bildchen« reiht – wie noch bei Trakl –, sondern an dem disparate Zeichen des Todes aufeinanderprallen, ohne dass eine beruhigende Weltdeutung möglich wäre. Es geht um die Vergewisserung von Anwesenheit, um Kommunikation über technische Medien, im »Verklirrten Herbst« (»Der Funker: ›Melden‹«) ebenso wie im frühen Gedicht über das »Batcave«-Lokal (»CAN U EAR ME?«). Der »Verklirrte Herbst« setzt Bilder des Soldatenalltags und des anonymen Todes frei, die sich in keine traditionelle Gedichtform mehr fügen lassen. Im Eingangsvers führt Beyer eine vorsätzliche Kollision von fragmentierter und metrisch geordneter Rede herbei: »Der Funker: ›Ver-‹. Gewaltig endet so der Tag«. Der Bruch zwischen »verklärtem« und »verklirrtem« Herbst findet mitten im Gedicht statt, als rhythmisches Break. Tobias Lehmkuhl hat in einer Deutung des Beyer-Gedichts auf das Moment des » Klirrfaktors« hingewiesen:

Das Maß für die nichtlinearen Verzerrungen, die ein Übertragungsgerät bei sinusförmiger Eingangsspannung verursacht, nennt man in der Fachsprache ›Klirrfaktor‹. Die minimale Verzerrung des Titels (lediglich zwei Phoneme haben sich geändert) kündigt gleichzeitig die vollständige Verzerrung des Ausgangstextes an.8

Akustisch »verklirrt«, von Disharmonie und schriller Dissonanz zersetzt, ist so nicht nur die Trakl’sche Herbst-Atmosphäre, in Scherben zersprungen ist auch das Ordnungsgefüge des Gedichts. Der Austausch von codierten Nachrichten über Funk, die Konfrontation mit den technischen Apparaturen, die dazwischengeschobenen Bilder von Toten und Todesfahrten – all das wird in kleinen Cut-Ups so lapidar montiert und organisiert, um dem Leser unaufhörlich kleine Schocks zu versetzen. Vielleicht sind solche von poetischer Ohrenkunde getragenen Exerzitien einer »Literatur der Zersplitterung« (Friederike Mayröcker) die einzig legitime lyrische Verfahrensweise, mit der man sich als poetischer Nachgeborener dem Terror des permanenten Kriegszustands noch nähern kann.

Michael Braun, aus Christian Klein (Hrsg.): Marcel Beyer. Perspektiven auf Auf Autor und Werk. J.B. Metzler Verlag, 2018

 

Literarische Selbstgespräche … keine Fragen stellte Astrid Nischkauer – Von und mit Marcel Beyer

Vier Fragen an Marcel Beyer: Die Sprache ist alt genug, um auf sich selber aufzupassen

 

 

 

MARCEL BEYER

auf weiter leerer Flur gehst du am Morgen hinterm
Schlitten, zwei schnüffelnde Hunde laufen dir voraus.
In dir zwackt es, du meinst es könnt, ein Wackerstein
sein, Wortbrandsätze geschluckt wie Bier
bei der Hütte, die versteckte hinterm Tannenwald
Rund um Hund wird es still, kein Ton zu hörn
bis in den Haaransatz Wolfsaugen, Wolfskopf,
Wolfsreißzahnlücken durchunddurch nichts als Wolf.

Peter Wawerzinek

 

 

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