Marcel Reich-Ranicki: Zu Paul Boldts Gedicht „In der Welt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Boldts Gedicht „In der Welt“ aus Paul Boldt: Junge Pferde! Junge Pferde!. –

 

 

 

 

PAUL BOLDT

In der Welt

Ich lasse mein Gesicht auf Sterne fallen,
Die wie getroffen auseinander hinken.
Die Wälder wandern mondwärts, schwarze Quallen,
Ins Blaumeer, daraus meine Blicke winken.

Mein Ich ist fort. Es macht die Sternenreise.
Das ist nicht Ich, wovon die Kleider scheinen.
Die Tage sterben weg, die weißen Greise.
Ichlose Nerven sind voll Furcht und weinen.

 

Ein Gesicht auf die Sterne gefallen

Die Dichter des deutschen Expressionismus, hörte ich einmal einen Kollegen spotten, hätten viel im Bauch gehabt und wenig im Kopf. Das ist schnoddrig und natürlich überspitzt; aber ganz falsch ist es nicht. In der Regel jedenfalls möchte das expressionistische Gedicht niemanden belehren oder aufklären, sondern Zustände beschreiben, nicht Gedanken will es formulieren und übermitteln, sondern Gefühle ausdrücken, Ahnungen und Befürchtungen.
Ein Dichter des deutschen Expressionismus war auch der heute nahezu vergessene Paul Boldt, der 1885 in einem kleinen Ort in Westpreußen geboren wurde und 1921 an den Folgen einer Operation starb.
Fast alles, was von ihm überliefert ist, entstand in der kurzen Zeitspanne zwischen 1912 und 1914, als er vorwiegend in Berlin lebte, wo er Philologie studierte – offenbar lustlos und halbherzig, denn er gab das Studium im dreizehnten Semester auf. Sein einziger Gedichtband erschien 1914 bei Kurt Wolff: Junge Pferde! Junge Pferde! lautet der Titel.
Boldt gehörte zu den Einzelgängern, zu den Verlassenen und den Ausgestoßenen, und noch im Kreis von Außenseitern blieb er ein Außenseiter. Aber er war beides zugleich und auf einmal – ein kräftiger Naturdichter, seiner heimatlichen Landschaft verbunden, und ein feinfühliger Asphaltpoet, irritiert von der modernen Großstadt, zumal von Berlin. Er liebte den deutschen Wald und den deutschen Puff. Er rühmte junge Pferde und junge Bäume, das helle Licht und das finstere Laub, den grünen Klee und die blaue Luft, einsame Pappeln und den Duft der Wiesen, fliegende Fische und die Sonne im Wolkenhut.
Er besang die Liebenden am Abend und am Morgen, in der Nacht und am Tag. Von den Wolken und den Winden träumte er – und er meinte die Fräuleins und die Frauen. Das Ewigweibliche zog ihn hinan und hinab und an der Nase herum. Er pries sie alle: die Mädchen vom Lande und die Huren auf der Straße, die Damen aus den Bars und die aus den Salons. Das Sanfte war sein Element und auch das Pralle, das Zarte und auch das Dralle. Boldts Sinnlichkeit war prägnant, seine Prägnanz poetisch. Lauthals verkündete er:

Schön ist die Wollust!

Was immer er schrieb, er war zum Bersten voll mit Empfindungen und Ängsten, mit Bildern und Gesichten. Dieser Überschwang seiner Gefühle war es wohl, an dem er schließlich zerbrach.
Davon ist die Rede in Boldts Gedicht „In der Welt“ aus dem Jahre 1913. Welt? Gerade dieses Wort wird in dem Gedicht ausgespart. Das hat schon seinen guten, seinen traurigen Grund: Hier spricht einer, dem die Welt abhanden gekommen ist und der an seiner Ohnmacht und Ratlosigkeit leidet. Er läßt sein Gesicht auf die Sterne fallen. Wie das? Sie, die Sterne, sind doch über und nicht unter uns. Gewiß, ebendeshalb deutet das überraschende Verbum an, daß für jenen, der sein Gleichgewicht verloren hat, die Welt auf dem Kopf steht.
Aber so ganz schlecht ist es um diesen verlorenen Menschen noch nicht bestellt. Denn es gelingt ihm, für seine Verzweiflung die denkbar knappste Formulierung zu finden:

Mein Ich ist fort.

Es hat sich von ihm abgelöst, dieses Ich, es hat sich auf eine Sternenreise begeben. So ist es in eine andere Welt geraten, eine ebenfalls unheimliche und absurde: In ihr hinken die Sterne auseinander, und die Wälder wandern mondwärts.
Um die Spaltung seiner Persönlichkeit und ihren Zerfall auszudrücken, setzt sich Boldt über die Regeln der Grammatik hinweg. Statt „Das bin nicht Ich“ dichtet er „Das ist nicht Ich“. Nein, er ist es nicht, den die Menschen zu sehen glauben, er ist anders, er ist nicht das, wovon seine Kleider zeugen, zu zeugen scheinen. Dagegen kann er nichts tun, wehren kann er sich nicht: Er ist ausgeliefert und nicht Herr seiner Nerven. Es sind „Ichlose Nerven“. Sie fürchten sich und weinen. Boldt war einer, der sich zurufen mußte:

Geh durch die Menge, um Lächeln zu stehlen.

Marcel Reich-Ranickiaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebzehnter Band, Insel Verlag, 1994

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