Marie-Luise Bott: Zu Wolfgang Hilbigs Gedicht „Mittag“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wolfgang Hilbigs Gedicht „Mittag“ aus dem Band Wolfgang Hilbig: Bilder vom Erzählen. –

 

 

 

 

WOLFGANG HILBIG

Mittag

Balance der eingelegten reglos ruhenden Ruder
von denen blendend weiße Tropfen fallen
auf den zitternden Spiegel der See
in der unwirklichen Stille des lotrechten Lichts –
während in der Tiefe die Nacht sich wälzt mit ihrem Gewürm –
o dieser Augenblick im Gleichgewicht der den Atem anhält
bevor das Bild kentert.

 

Eingelegte Ruder

Wolfgang Hilbigs Gedichtzyklus Bilder vom Erzählen (2001) stellte sich in einer ersten Lesart dar als eine moderne Odyssee ohne Meer und ohne Heimkehr durch die Wüsten des gesellschaftlichen und persönlichen Lebens. Aber im Dialog mit anderen Dichtern erschuf sich Hilbig dabei eine weiträumige geistige Heimat. Für den Leser bleibt noch manche Fährte dorthin zu entdecken. So nehmen etwa die ironischen Eingangsverse des Titelgedichts, „Neujahr – und ich sehe das Meer / Thalatta! Thalattata!“, Bezug auf Heinrich Heine. Dieser beginnt den zweiten Teil der „Nordsee“-Gedichte (1826) – eine epigrammatische, vor „des Nordens Barbarinnen“ Rettung suchende Odyssee – mit dem „Meergruß“:

Thalatta! Thalatta!
Sei mir gegrüßt, du ewiges Meer!

Und Hilbigs „Saturnische Ellipsen“ beziehen sich in der Titelgebung sowohl auf Paul Verlaines Gedichtsammlung Saturnische Verse (1866) wie auf Gottfried Benns Rede „Probleme der Lyrik“ (1951), die für Hilbig maßgebend war. Der Lyriker, so heißt es bei Benn, arbeitet an „der Umspannung zweier Pole, dem Ich und seinem Sprachbestand, arbeitet an einer Ellipse, deren Kurven erst auseinanderstreben, aber dann sich gelassen ineinander senken.“
Die Lyrik der Moderne ist „ein Kunstprodukt“, sie „wird gemacht“, ist bewußte „artistische“ Komposition, betont Benn. Sie bezieht sich nicht unmittelbar naiv auf „das Leben“, sondern oft reflexiv auf ein schon durch die Kunst vermitteltes Leben. So hat auch Hilbigs rätselhaft unbestimmtes, magisches Prosagedicht „Mittag“ (2000) aus den Bildern vom Erzählen eine überraschende lyrische Vorprägung.

Wolfgang Hilbig

MITTAG

Balance der eingelegten reglos ruhenden Ruder
von denen blendend weiße Tropfen fallen
auf den zitternden Spiegel der See
in der unwirklichen Stille des lotrechten Lichts –
während in der Tiefe die Nacht sich wälzt mit ihrem Gewürm –
o dieser Augenblick im Gleichgewicht der den Atem anhält
bevor das Bild kentert.

Conrad Ferdinand Meyer

EINGELEGTE RUDER

Meine eingelegten Ruder triefen,
Tropfen fallen langsam in die Tiefen.

Nichts das mich verdroß! Nichts das mich freute!
Niederrinnt ein schmerzenloses Heute!

Unter mir – ach, aus dem Licht verschwunden –
Träumen schon die schönern meiner Stunden.

Aus der blauen Tiefe ruft das Gestern:
Sind im Licht noch manche meiner Schwestern?

Hans Magnus Enzensberger würde das, was Hilbig hier macht, eine „Replik“ nennen, die Erwiderung eines Kunstwerkes mit dessen eigenem Material. Die Romantiker – Friedrich Schlegel etwa in seinem Athenäums-Fragment über die romantische Poesie als „progressive Universalpoesie“ – würden es „Spiegelung“ oder „Reflexion“ nennen. Im vorliegenden Fall haben wir es mit einer Doppelspiegelung zu tun. Denn Meyers Gedicht „Eingelegte Ruder“ reflektiert seinerseits das frühe Goethe-Gedicht „Auf dem See“ (1775). Und diese doppelte Essenz keltert Hilbig weiter. Wie Meyer hat auch er seine Gedichte immer wieder umgeschrieben, bearbeitet, an der Form gearbeitet. „Ich will die Form nicht verfallen lassen“, sagte er.

Conrad Ferdinand Meyer, heute allenfalls noch als Erzähler historischer Novellen, kaum aber als Lyriker und Vorläufer der Symbolisten wahrgenommen, hat über die beiden ersten Zyklen seiner Gedichtsammlung von 1882 – „Vorsaal“ und „Stunde“ – eine Gruppe von Gedichten verteilt, deren zentrales Bild das über nächtliches Wasser hingleitende Boot ist. In „Die toten Freunde“ („Vorsaal“) nimmt ein Zecher, der schlecht mit jungem Volk getrunken hat, am Abend das Dampfboot. Unter schwarzem Rauch vom erleuchteten Gestade ablegend, entsinnt er sich: „Meine toten Freunde, saget, gedenkt ihr mein?“ Über der Antwort, einer Vineta-Szene, droht das Boot zu kentern:

Wogen zischen um Boot und Räderschlag,
Dazwischen jubelt ein dumpfes Zechgelag,
In den Fluten braust ein sturmgedämpfter Chor,
Becher läuten aus tiefer Nacht empor.

In seiner ersten Fassung hieß dieses Gedicht „Spätboot“.
„Im Spätboot“ betitelt ist ein Gedicht des folgenden Zyklus „Stunde“:

Auf der Schiffsbank mach ich meinen Pfühl.
Endlich wird die heiße Stirne kühl!
O wie süß erkaltet mir das Herz!
O wie weich verstummen Lust und Schmerz!

Unter „schwarzem Rauch“ wird aus der Abendfahrt des Einschlafenden eine Todesfahrt. Nur „ein Schatten“ steigt aus, Charon hält das Steuer:

Nur der Steurer noch, der wacht und steht!
Nur der Wind, der mir im Haare weht!
Schmerz und Lust erleiden sanften Tod:
Einen Schlummrer trägt das dunkle Boot.

Das Fährboot landet nicht. Das Wasser selbst ist das Todesreich, willkommen kühl und süß. In ihm wohnen die toten Freunde. Im Gedicht „Schwüle“ vernimmt der Ruderer auf dem abendlichen See – „Fern der Himmel und die Tiefe nah“ – eine „liebe Stimme“, die „aus der Wassergruft“ nach ihm ruft: ein Bild der seelischen Gefährdung des Dichters, dessen früh verwitwete Mutter 1856 den Tod im Wasser suchte.
Dazwischen steht Meyers Gedicht „Eingelegte Ruder“. Sein „Ich“ ist ebenfalls ein Abbild des Autors: des schwermütigen Außenseiters, der spät erst und nur kurz erfolgreich am Leben teilnahm und der hier, die Ruder eingelegt, still Bilanz hält. Je zwei Paarreimstrophen sind einander scharf entgegengesetzt. Oben verrinnt ein freud- und „schmerzenloses Heute“, das nicht Leben genannt werden darf. Das monoton gleichmäßig realisierte Metrum wird nur hier durchbrochen mit den vier aufeinander folgenden Hebungen des Klagerufs: „Nichts das mich freute!“ Mit schmerzlicher Sehnsucht wendet sich das Ich der Vergangenheit zu, jener „blauen Tiefe“, in der sich „die schönern“ Stunden sammeln. Was die Zukunft noch bereithalten mag, steht in Frage.

Hilbigs Prosagedicht „Mittag“ nimmt die Grundsituation auf, kehrt aber die symbolische Bedeutung der Bildhälften um. Die strenge Formbindung an Metrum und Reim ist aufgegeben und damit auch der exakt symmetrische Aufbau des Doppelbildes. Das Oben ist als ästhetisch schöner Augenblick von anziehender Ausgeglichenheit dargestellt: „Balance“ der eingelegten Ruder, „blendend weiße Tropfen fallen“. Erst dann wird die Stille „unwirklich“, das Licht des Mittags bedrohlich „lotrecht“ und der „zitternde Spiegel der See“ abgründig. Die Tiefe ist nicht wie bei Meyer verlockend „blau“, sondern eine dunkle, grauenhafte Gefährdung, in der „die Nacht sich wälzt mit ihrem Gewürm“.
Anders als bei Meyer hat das „Gestern“ nichts Verklärtes und Ersehntes. Die Bildsituation wird resümiert in dem elegischen Ausruf:

o dieser Augenblick im Gleichgewicht der den Atem anhält
bevor das Bild kentert
.

Die gefährdete Existenz kennt nur flüchtige Augenblicke ruhigen Ausgleichs zwischen Tag- und Nachtseite, Gegenwart und Vergangenheit. Und da Verwandlung der erklärte Wille dieser Dichter-Odyssee ist, zerstört jeder neue Aufbruch den Augenblick des Gleichgewichts. Doch ihn ins Bild zu fassen, gelang Hilbig über die Spiegelung von Meyers Seelenlandschaft.
Wie nahe der Kontext von Conrad Ferdinand Meyers Gedichten Hilbig blieb, zeigt noch das folgende Gedicht „Tage. Nächte“ (1990). Es nimmt motivisch und kompositorisch Bezug auf Meyers Gedicht „Möwenflug“ aus dem IV. Zyklus „Reise“, – ein Gedicht über den Selbstzweifel des Künstlers: Ist sein Werk nur Schein und Trug wie die wesenlose Spiegelung im Meer oder lebendig durchpulste Wahrheit wie der Möwenflug darüber?
In Hilbigs Replik begegnet zweimal an betonter Stelle, am Versende jeweils, die Wendung „ohne Grund“: Ein Möwenschatten „flog weiter ohne Grund“ und „der Götter Zeichen“ sind „ohne Grund“. So wie Meyer immer wieder in Frage stellte, ob er ein Lyriker sei, bezweifelte Hilbig immer wieder, ob er Schriftsteller sei.

Als ich Wolfgang Hilbig am 2. Juni 1997 zu einem ersten Gespräch traf, war der beherrschende Eindruck der einer unbändigen, einzigartigen Kraft. Als ich ihn am 14. Juni 2002 zu einem zweiten und letzten Gespräch traf, sagte er herausfordernd bestimmt: „Ich bin alt“, und: „Ich habe nicht mehr viel Zeit“. Daß es nur fünf Jahre noch waren, bestürzt.

Nach dem Ziel der Odyssee des Dichtens in den Bildern vom Erzählen befragt, antwortete er nach längerem Nachdenken mit einem Bild von Gottfried Benn: „Dennoch die Schwerter halten“. Das martialische Pathos der Metapher erstaunte mich und er lachte, gleichsam entschuldigend: „Eine kriminelle Metapher“.
Doch war es vermutlich ein genaues Bild der eigenen Position nach Erscheinen seiner radikalen Zeit- und Selbstkritik im Roman Das Provisorium (2000).
Benns Gedicht, veröffentlicht am 27. August 1933 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung, war Reaktion auf die Zeitsituation und Rückzug auf die eigene Aufgabe als Dichter:

Und heißt dann: schweigen und walten,
wissend, daß sie zerfällt,
dennoch die Schwerter halten
vor die Stunde der Welt.

Er habe die Bilder vom Erzählen mit dem Wort „und“ beginnen wollen, sagte Wolfgang Hilbig, „dem wichtigsten Wort beim Erzählen“: „Und dann erscheint das Abendlicht…“ Jetzt hat eine andere Fortsetzung seiner Erzählungen begonnen. Möge die Erde ihm leicht sein!

Marie-Luise Bott, die horen, Heft 226, 2. Quartal 2007

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