Marie Luise Kaschnitz: Zu Cyrus Atabays Gedicht „Schutzfarben“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Cyrus Atabays Gedicht „Schutzfarben“ aus Cyrus Atabay: An diesem Tage lasen wir keine Zeile mehr.

 

 

 

 

CYRUS ATABAY

Schutzfarben

Da habe ich mich verstellt
um meine Verfolger zu täuschen

da habe ich mich totgestellt
um dem Henker zu entkommen

da habe ich mir die Gedanken
meiner Häscher geborgt:

und doch war in all der Zeit
der Traum, den ich träumte, unversehrt,

in all der Zeit
in der ich die Schäden litt

so weit, daß ich mir selbst
unkenntlich wurde,

indes mein Traum
mich erkannte.

 

Zeitgemäßes Hakenschlagen

Das Gedicht „Schutzfarben“ des Persers Cyrus Atabay ist nicht ins Deutsche übersetzt. Atabay spricht Deutsch seit seinem siebenten Lebensjahr, er hat in München Literaturgeschichte studiert und hat später iranische Gedichte und altpersische Mystiker übertragen und herausgegeben. Seine eigenen deutschen Gedichte sind von einer beinahe klassischen Ruhe und Einfachheit. Vielleicht schreibt man so, wenn man ein Fremder ist und aus lauter Ehrfurcht vor der nicht eigenen Sprache nicht experimentieren, nicht verfremden und schon gar nicht spielen will. Die neue Sprachheimat wird ernst genommen, ihre wechselnden Moden, aber auch manche wichtige Entwicklung übersehen.
Das Gedicht „Schutzfarben“ ist folgerichtig aufgebaut, ein einziger Vorgang wird geschildert, ein einziger Gedanke logisch entwickelt und zu Ende geführt. Atabay schildert in diesen sieben Zweizeilern eine Flucht, freilich kein bloßes Weglaufen, sondern ein sehr zeitgemäßes Hakenschlagen, Sichverstellen, Sichtotstellen, wobei einer leicht sein Gesicht verlieren und seine Freunde verraten kann. Das Ich des Gedichts „Schutzfarben“ wird aber gerettet, und zwar durch etwas, was ihm allein gehört, durch seinen Traum. Sein Traum erkennt den Dichter und bekennt sich zu ihm, auch als die zeitgemäßen Lügen und Finten ihn an sich selbst zweifeln und verzweifeln lassen.
Klangvolle einfache Worte, klare Gedankengänge finden sich hier wie in anderen Gedichten des heute Fünfundvierzigjährigen. Ein Hauch der fernöstlichen Heimat, Tuschzeichnung mit feinem Pinsel, aber auch so Westliches wie die Schilderung der irischen Landschaft mit ihren Rhododendrongebüschen, ihren endlosen Ketten von Seen. Atabays persönliche Haltung ist eine große, respektvolle Aufmerksamkeit, ein genaues Feststellen der flüchtigen Erscheinungen.
Dabei will er selbst nirgends haften, nirgends lange bleiben, außer vielleicht in London, wo die ganze bewohnte Welt gegenwärtig ist. Zugvögel sind seine Tiere, und auf Verwandlung ist er bedacht. Er kann ungeziert von der Zärtlichkeit sprechen, mit der er die Wahrheit aufspüren will. Viele Fragen, viele Antworten, nicht zaghaft, aber behutsam geäußert, und gerühmt wird das „Beständig-Zarte“ der Berglilien, die Natur, die nicht aufgibt, und die Zärtlichkeit der Bärentatze, die sich auf die Wange des Schläfers legt.

Marie Luise Kaschnitzaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Erster Band, Insel Verlag, 1976

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