Marie Luise Knott: Zu Sarah Kirschs Gedicht „Ich wollte meinen König töten“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Sarah Kirschs Gedicht „Ich wollte meinen König töten“ aus Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte. 

 

 

 

 

SARAH KIRSCH

Ich wollte meinen König töten

Ich wollte meinen König töten
Und wieder frei sein. Das Armband
Das er mir gab, den einen schönen Namen
Legte ich ab und warf die Worte
Weg die ich gemacht hatte: Vergleiche
Für seine Augen die Stimme die Zunge
Ich baute leergetrunkene Flaschen auf
Füllte Explosives ein – das sollte ihn
Für immer verjagen. Damit
Die Rebellion vollständig würde
Verschloß ich die Tür, ging
Unter Menschen, verbrüderte mich
In verschiedenen Häusern – doch
Die Freiheit wollte nicht groß werden
Das Ding Seele dies bourgeoise Stück
Verharrte nicht nur, wurde milder
Tanzte wenn ich den Kopf
An gegen Mauern rannte. Ich ging
Den Gerüchten nach im Land die
Gegen ihn sprachen, sammelte
Drei Bände Verfehlungen eine Mappe
Ungerechtigkeiten, selbst Lügen
Führte ich auf. Ganz zuletzt
Wollte ich ihn einfach verraten
Ich suchte ihn, den Plan zu vollenden
Küßte den andern, daß meinem
König nichts widerführe

 

 

Die Seele auch

Was, wenn nicht Liebe ist der Stoff von Leben und Dichtung? Mal ist es die große Liebe, die nicht erhört wird, mal die erwiderte Liebe, die fesselt, mal die Liebe des Anderen, die man irrtümlich verschmähte. Von Liebe und Trennung handelt scheinbar auch das Gedicht „Ich wollte meinen König töten“. Das Armband erzählt von Zugehörigkeit, die zärtlichen Vergleiche vom Festhalten-Wollen; und die Flaschen deuten auf die Nähe der Liebe zu Hass und Gewalt. Je größer die Liebe, desto explosiver. „Trennen wollten wir uns?“, hieß es bei Hölderlin:

Wähnten es gut und klug? Da wir es taten, warum schröckte wie Mord die Tat?

Atemlos unternimmt Sarah Kirschs lyrisches Ich allerlei, um die äußeren und inneren Fesseln ihrer Gefühle abzustreifen: Es geht unter Menschen, es „verbrüdert sich“ mit Fremden, es sammelt Beweise für das schändliche Wesen des Geliebten. Doch die Liebe tanzt. Am Ende küsst das Ich einen anderen – um den Geliebten zu schützen, heißt es im Gedicht. Wieso? Ist das ganze Reden von Freiheit vielleicht nur Tarnung, nur ein verbaler Schaukampf gegen ein Gefühl, das jenseits des Wortgefechtes umso ungestörter weiterlebt?
Irgendwann erhärtet sich beim Lesen der Verdacht, das Gedicht handele – auch oder primär – von etwas ganz anderem. Die mittlere Zeile „Das Ding Seele dies bourgeoise Stück“ kann als Schlüssel für diese zweite Ebene gelesen werden. Kirschs lyrisches Ich ist, wie in vielen ihrer Gedichte, auch hier wieder Teil der Weltgeschichte: In der DDR, wo die Verse 1973 erstmals erschienen, galt die „Seele“ als ideologisches Relikt aus der überwunden geglaubten Zeit des Kapitalismus. Die Bezeichnung „bourgeoise“ glich einer Kampfansage.
Der König, um den es hier geht, der König, den zu töten nicht gelingt, das ist „die Partei“, die damals tausend Augen und immer recht hatte. Sarah Kirschs Ich träumt davon, dass es gelingen möge, das innere Band zur Partei zu zerreißen und den Kritiken endlich gebührend Gehör zu schenken. Doch tatsächlich verrennt das Ich sich gleich doppelt: „An“ und „gegen Mauern“, denn die von der Partei so verschmähte Seele ist stärker als die Ratio. Und so leistet das Ich, das von der Partei nicht loskommt, am Ende noch einmal den sozialistischen Bruderkuss. In dem Jahr, als das Gedicht erschien, ließ sich Sarah Kirsch im Schriftstellerverband der DDR in den Vorstand wählen. Vier Jahre später, nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann, übersiedelte sie in den Westen.
Schon die erste Zeile schafft ein märchenhaftes, melancholisches Grundschweben, das sich im Konjunktiv von „widerführe“ vollendet. Die losen Reihungen unterstützen diesen Eindruck: Augen / Stimme / Zunge – Verfehlungen / Ungerechtigkeiten / Lügen. Kirsch unterwandert die aufgeklärte Sehnsucht nach Kausalitäten und Schlussfolgerungen; jeder Vers weiß und verströmt dagegen das Staunen um die tatsächliche Ungereimtheit unseres Daseins. Der Verstand kann sich im Leben verrennen. Die Seele auch.

Marie Luise Knottaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsunddreißigster Band, Insel Verlag, 2013

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