Matthias Buth: Der Schnee stellt seine Leiter an die Ringmauer

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Matthias Buth: Der Schnee stellt seine Leiter an die Ringmauer

Buth-Der Schnee stellt seine Leiter an die Ringmauer

SCHWARZ

In Klausenburg treffen nachts sich schwarze Klaviere
Sie komnen die Alleen entlang
Mit Noten von Brahms und Chopin
Manche kennen Ouvertüren aus Operetten
Von Léhar und andere Transkriptionen 

Noch sind die Deckel zugeklappt
Wollen nicht gesehen werden
Und huschen in die Hausflure hinauf
Zur Beletage schattenverstuckt

Wenn vor den Fenstern die Kastanien
Angelehnt an Mörtel und Wind
Schumann hören
Aus den Waldszenen oder Geistervariationen 

Öffnen sich die Rinden und harzen aus
Tapeten blättern die Partituren um
Verwundet vor Seufzen und Singen
Und Trakl hält alle Wolken an

 

 

 

Nachwort

„ich baue mit geliehenen Worten Häuser, die fliegen“

Diese Sammlung steht einzig da: Sie trägt in ihren elegisch-intensiven Gedichten und aufklärenden Essays sowie der pointierten Kurzprosa jene Teile des aktuellen Œuvres Matthias Buths zusammen, die vorwiegend, ja fast ausschließlich mit Rumänien zu tun haben. Rumänien mag durchaus in Schriften und Texten bundesdeutscher AutorInnen thematisiert werden (häufig in denen von ausgereisten SchriftstellerInnen der deutschen Minderheiten des Karpatenlandes) – dass ein deutscher Dichter aus dem Rheinland aber einen Band zusammenstellt, in dem die Annäherungen vor allem an Rumänien zum inneren Kern seines Dichtens wie des Reflektierens und politischen Denkens erhoben werden, hat in der Literatur der Bundesrepublik kein Beispiel. „Rumänien“ gewinnt hier den Status eines poetisch erfühlten und sprachlich erschlossenen Zustandes, der weit über eine bloß literarische Reminiszenz an ein Land hinaus geht.

Timişoara meine Freundin
Über Dein Gesicht
Springen Delphine
Sie wollen blickaufwärts
Immer wieder
Ins sanfte Banat
Es siedelt hinter den Lidern

(aus: „Timişoara“)

Es sind auf einen ersten Blick zunächst die Landschaft mit ihren alten Städten, den natur- und menschennahen Stimmungen, die der Dichter anspricht. Mehrere der unverwechselbar emphatischen Gedichte inszenieren das Banat und Siebenbürgen, weil diese Landschaften noch Gegenstände besitzen, die im Westen längst der rasenden Vernichtung durch das gnadenlose Gebot des „Neu! Neu! Neu!“ anheimgefallen sind:

Suchen wir in dieser Anmut, in dieser wie hingeworfenen Schönheit der Siedlungen nicht das Gesicht Europas, das wir in Deutschland zu selten finden? (aus: „Das Jerusalem Siebenbürgens“).

Banat Sathmar Siebenbürgen Nachklänge
Aus den Städten des alten Deutschland
Das uns verlassen hat

(aus: România).

Dem Dichter sind sie Anlass für den Ausdruck von unterschiedlich elegisch getönten Stimmungen, die die Texte des Bandes durchziehen. Vielleicht am schönsten in der Ansicht der Kirchenburg des Dorfes Großau mit dem titelgebenden Vers:

GROSSAU / SIEBENBÜRGEN

Milch perlt aus den Manualen
Wenn der Alte
Seine Orgel pflügt
Die spitzen Fenster werden
Still und spiegeln den Turm
Den geduldigen Zuhörer

Die Kirche
Ein Storchennest
Vom Winter verinselt

Siebenweit die Fuge
Sie ist ein Land
Aus rindigen Händen
Warm dampfen die Töne

Der Schnee stellt seine Leiter
An die Ringmauer

(„Großau/Siebenbürgen“)

Die Gedichte mit den Anverwandlungen des Karpatenlandes in einer eigen-atmosphärischen Metaphernsprache sind vielfältig: Sie erinnern an menschliche Begegnungen, sie rufen in selten aufzufindender Intensität Gefühle auf, sie erleben das Land als eine Musik, als Gedicht, als Geliebte.

România
Geliebte die zurückweicht
Weil sie die Nähe fürchtet
Sie bleibt
Wenn sie vor Zudringlichkeit
Sicher ist

Die tastende und unsichere Vergewisserung eines Anderen ist einer der Zugänge zum Eigenen und Fremden. Die von Rumänien ausgelösten Reflexionen, Stimmungen, Erkenntnisse durchziehen die Auswahl der Gedichte ebenso wie sie in der Kurzprosa und den Essays thematisch werden. So ,erklären‘ die Essays die Gedichte und die Kurzprosa die Essays und die Gedichte die Kurzprosa und…

*

Wie ein weit in andere Realitäten hinweg führendes Konzert gewinnt die Zusammenstellung des Bandes ihren Grundton und ihre sprachliche Instrumentierung, tauchen Höhen und Tiefen auf, weite Landschaften und mikroskopische Inspektionen. Nicht von ungefähr ist es die Musik, die den Rhythmus des Bandes grundiert, sind es MusikerInnen wie die jüdische rumänische Pianistin Clara Haskil, die immer wieder aufgerufen werden in ihrer musikalischen Brillanz oder tragischen Lebensgeschichte. In Paris geht die Erinnerung von den Gräbern des Charles Baudelaire und des großen Exilanten Stéphane Hessel über an Haskil und den rumänischen Bildhauer einer modernen Ästhetik, Constantin Brâncuşi.
Die Orgeln Siebenbürgens rufen Gedanken an ein Großes und Erhabenes auf oder entwerfen dramatische Bilder des Krieges:

Raketen fliegen hinaus
Messerblitzende flinke
Mächtige aus Ostinatorohren
Setzen den Raum unter Klang
Die Fenster sind ausgeblendet
Aufgehobene Symmetrien
Toccatafeuer geht nieder

(aus: „Eckhard Schlandt an der Buchholz-Orgel“).

Dagegen die Harfen: „Wiegen und wachen / Wie Gräser in den Dünen“ (aus: „Harfen“); oder ein Cello: „Auf dem der Wind ein- und ausschwingt“ (aus: „Ohne ein Wort“) und das der Geliebten gleicht, während die Klaviere von Klausenburg ganz eigensinnig „Wollen nicht gesehen werden / Und huschen in die Hausflure hinauf / Zur Beletage schattenverstuckt“ (aus: „Schwarz“).
Dieser für immer verloren wirkenden Welt korrespondiert wie natürlich eine Offenheit für die Religion, wo sie ästhetisch wird. Dies zeigt das dem in Siebenbürgen lebenden Schriftsteller und Pfarrer Eginald Schlattner gewidmete, in seiner Schlichtheit so treffende Eingangsgedicht „Gemeinde“ ebenso wie die von Buth leicht und ungezwungen persönlich verfassten, aber desto eindringlicheren Psalmen als schlackenlos reine Wortkunstwerke von höchster sprachlicher Verfugung.

Eine für die Lebenden eine für die Toten
So brennen die Kerzen nieder
In den Sandbeeten
Sie halten fest vor den Kirchen
In Rumänien

(„Psalmen II.“)

Die Wendung „Liebliche Wohnungen“, die dem Gedichtteil des Bandes den Titel gibt, findet sich versteckt in den Psalmen und wird anlässlich einer Begegnung in Bukarest wieder aufgerufen. Peter Motzan schrieb bereits über Buths Gedichtband Die Stille nach dem Axthieb (Heiderhoff Verlag 1997):

Lokalitäten gewinnen dank einer hochkarätigen Legierung von Beschreibung und Beschwörung Profil, verdichten sich in der poetischen Topographie zu Konstellationen des Verlusts.

Buths hier versammelte Gedichte öffnen inszenatorisch den Raum „Rumänien“ als einen vielfältig elegischen, je schon verlorenen, zugleich aber auch in der Wortkunst geretteten – alles ist verloren und doch auch da. „Offenes Land“ ist ihm Rumänien:

Ovid schreibt Dich weiter und wie Gedichte die Enge verwandeln
Und die Wolken in Kontinente
Die das Meer suchen um Luft zu bekommen zum Weiterflug

(aus:„Offenes Land“).

In Sätze gefasste Gedanken eines Raumes, gewebt aus Wolken, Licht, dem Meer und der Donau – und der Musik.
Wie die Gedichte sammelt die Kurzprosa die melancholische Gewissheit von der Schönheit und Verlorenheit in Rumänien in kaum zu übertreffender Kürze und Prägnanz.

România ist ein Wort aus dem inneren Klang von Europa, es sucht die Klänge der anderen, um zu singen, zu trauern, zu beglücken. Und so sind Deutschland und Rumänien verwandt, Geschwister durch Musik und Geschichte.

Dabei bleibt die untergründige Dramatik dieser Verbindung zu erahnen in Buths Aufrufung der tief in der rumänischen Vorstellungswelt verankerten Legende vom Meister Manole, der die Kathedrale von Curtea Argeş nur vollenden darf, wenn er seine Frau einmauert.

Meister Manole will nicht fertig werden, nichts vollenden, was sich dem Himmel sträubt.

Der Dichter hingegen baut „mit geliehenen Worten Häuser, die fliegen, Lebenskapseln, die nie landen.“

*

Einen solchen Dichter findet man in der deutschen Literatur nur selten. Matthias Buth publiziert seit 1973 Lyrik und Sachprosa, zahlreiche Gedichtbände und Einzelveröffentlichungen machen ihn zu einem ebenso produktiven wie ungewöhnlichen Autor: wortabgründig, euphorisch, musikalisch, humorvoll, satirisch, weltzugewandt, realistisch, offen, elegisch, unverstellt in seinen Gedichten; knapp, stimmungsvoll, welthaltig und pointiert in seiner Kurzprosa, fokussiert, konsequent, empathisch und emphatisch in seinen aufklärenden Essays. Buth gehört zu den Dichterjuristen – wie Eichendorff, Heine oder in der Gegenwart Bernhard Schlink. In Landes- und Bundesbehörden tätig setzte sich der 1951 in Wuppertal geborene Rheinländer für die kulturelle Unterstützung Ost- und Südosteuropas ein. Seine Reisen führten ihn um die Welt (wovon u.a. sein Gedichtband Weiß ist das Leopardenfell des Himmels, PalmArt Press 2019 zeugt), das Unterwegssein ist ein Kennzeichen seines Lebens und seines Dichtens. Wer den Hintergrund nicht nur der Lyrik und Kurztexte, sondern auch die Ansichten des Autors über Kunst und Politik kennenlernen will, wird in den Essays des vorliegenden Bandes überzeugend-kunstvolle Plädoyers für ein Rumänien in Europa finden. Buth sieht in der Kunst und dem Kern der Nationen eine Entsprechung, die jenseits aller Verengung auf das Europäische und Gemeinsame geht. „Binnenland der Poesie“ ist ihm der EU-Staat Rumänien und zugleich „das weiche Hier und Jetzt“. Diese Herausstellung des nur scheinbar Defensiven ist ein Gewinn für Kultur und Sprache – die Liebe des Dichters zur Sprache spiegelt ihm zugleich das Wesentliche der Nationen.

România ist ein Ovid-Land, durch das die Gedichte von Georg Trakl gegangen sind. „Wanderer tritt still herein; / Schmerz versteinerte die Schwelle. / Da erglänzt in reiner Helle / Auf dem Tische Brod und Wein.“ – so lässt er das Gedicht „Ein Winterabend“ ausklingen und spielt sich zugleich Hölderlins Elegie „Brod und Wein“ und seine Donau-Hymnen zu.

Fluidität bleibt das Grundprinzip von Buths Dichten und Denken, die Donau als ein poetisches Prinzip, das nicht nur geographisch verbindet.

Die Flüsse dichten besser
(aus: „Tomis“).

Alles was Atem hat und Atem nimmt, schreibt sich uns ein. Auch der Rhein dichtet, dichtet sich hinüber zur Donau.

Gerne sähe der Dichter Rhein und Donau einen gemeinsamen Raum bildend, als Einheit, als Gewinn für den Westen durch die Besonderheiten des Südostens und umgekehrt, als Präsenz Hölderlins in einer desillusionierten Gegenwart „der Donau sternenweiter Geliebter“. Das schönste Beispiel dafür ist „Donau-Delta“ über eine Donau, die sich zu weigern scheint, Europa zu verlassen:

Nein sie will nicht
Sie macht sich flach
[…] Sie ist nun hier und will doch bleiben
Sie hat ihr Fließen zurückgenommen
Auf zehn Zentimeter in der Sekunde
So als könne sie auf der Stelle fließen
[…] Wo sich doch noch einmal alles umkehren sollte
Dort

Keines der Gedichte wird mit einem Punkt abgeschlossen – als stecke in aller Schönheit der Worte und Sätze noch eine Hoffnung oder Aufforderung.

Markus Bauer, März 2020, Nachwort

 

„Rumänien ist das weiche Hier und Jetzt“

Wehmütiger Minnegesang eines balkanliebenden rheinländischen Dichters. –

Der Schnee stellt seine Leiter an die Ringmauer, während es draußen schon nach Frühling riecht – doch die „Poetische Annäherung an Rumänien und andere Welten“ von Matthias Buth ist zu jeder Jahreszeit reizvoll. Auf dem Buchrücken des 2020 im Pop Verlag Ludwigsburg erschienenen Werks aus Gedichten und Prosa zum erweiterten Kulturraum Rumäniens bemerkt Nachwort-Autor Markus Bauer: Dass „ein deutscher Dichter aus dem Rheinland“ einen Band zusammenstellt, „in dem die Annäherungen vor allem an Rumänien zum inneren Kern des Dichtens wie Reflektierens und politischen Denkens erhoben werden, hat in der Literatur der Bundesrepublik kein Beispiel.“
Der Autor Matthias Buth hingegen spürt den Atemzügen der Geschichte jenseits der Ländergrenzen nach. Sein poetisches Prinzip ist die Donau, die nicht nur geografisch verbindet:

România ist ein Wort aus dem inneren Klang von Europa, es sucht die Klänge der anderen, um zu singen, zu trauern, zu beglücken. Und so sind Deutschland und Rumänien verwandt, Geschwister durch Musik und Geschichte.

Im ersten Teil, der Gedichtesammlung „Liebliche Wohnungen“, gleich zu Beginn ein Tropfen Schwermut für Siebenbürger Sachsenherzen: Kirchenbänke, „leergebetet seit Jahren / Die Orgel tropft Stille / Im Chor spielen die Fenster / Dann breitet er seine Arme / Und tröstet Gott / Bis auch / Er nicht mehr kommt“. Wer anders könnte gemeint sein als Schriftsteller-Pfarrer Eginald Schlattner, der jeden Sonntag in vollem Ornat in der leeren Kirche von Rothberg/Roşia predigt.
Ein wenig wehmütig klingt auch das „Orgelstück für Ursula Philippi“ an, in dem der Schnee, „Siebenbürgens zärtlicher Tod“, die Kirchen umarmt, „Zurückgelassene Andacht / Bei offenen Dächern“, eine Anspielung an den Kampf gegen den Zahn der Zeit, der auch an den noch nicht verlassenen Kirchenburgen nagt.
Im Gedicht „România“ vergleicht er die Schülertreppe in Schäßburg, die zu Gymnasium, Bergkirche und Friedhof hinaufführt, mit der Jakobsleiter, „die nicht aufgibt / Ihr Holz duftet und tröstet wie eine Umarmung / Das geschindelte Dach behütet die Schatten“. Am selben Ort „Pfarrer Bruno Fröhlich“:

Sonntags fährt er von Kirche zu Kirche denn
Siebenbürgen bestickt den Himmel mit Türmen

Und „Gabriel Faure spielt eine Sarabande / Von der Orgelempore auf schwarze Mäntel / Die warten dass er endlich kommt um neue / Psalmen in die weichen Fenster zu beten / Die Heiterkeit der alten Worte / Die kein Ende kennt“.
Lautmalend pastelliert der Minnesänger seine zartwehmütigen Liebesbilder von geschichtstrunkenen Orten, verankert darin Urgesteine Siebenbürgens, wie „Eckart Schlandt an der Buchholz-Orgel“, oder Rumäniens, wie „König Michael“.
Um Kulturräume und ihre Schriftsteller und umgekehrt geht es im zweiten Teil, „Rumänien, wo liegt es?“, in Prosa. Das erste Kapitel „Nahe Nachbarn“ schlägt den Bogen vom französischen Friedhof Montmartre mit dem „deutschesten aller Dichter“, Heinrich Heine, der dort und nicht in Deutschland begraben werden wollte, doch sein Grab sei Pilgerstätte der Deutschen, zu der leeren Grabplatte von Clara Haskil in Montparnassse, „ein kostbarer Name, der für einen wesentlichen Teil der rumänischen Kultur- und Geistesgeschichte steht“. Über Titelstationen wie „Die eigene Sprache als Wasser und Brot“, „Jerusalem ist Celans Gedicht“, „Wie ist Deutschland verfasst“, „Bleibt ihm mitgegeben“ und „Spiegelbild“ geht es lesereisend in „Das Jerusalem Siebenbürgens“. Wo mag es liegen? In Schäßburg, Kronstadt – oder gar in Großau, wo sich ein verlassenes Bauernhaus und die Kirche gegenseitig in den Fenstern spiegeln?

Siebenbürgen ist ein unendlicher Raum voller Spiegel.

Und:

Rumänien ist das weiche Hier und Jetzt.

„Ich baue mit geliehenen Worten Häuser, die fliegen“, sagt der Autor über sich, der von hiesigen Dichtern – darunter viele Deutsche – eifrig Zitate borgt, analysiert, poetisch-politisch, sowie Attributen wie Volk und Nation, Staats- und Kulturnation, deutsche und rumänische Identität nachspürt. Sein deutsches Kulturbild schließt Rumänien ohne Widerspruch ein:

Wenn die deutsche Hochsprache gleichgesetzt werden darf mit dem ‚Sprachland‘, mit dem Begriff ‚Deutschland‘, dann sind Hans Bergel, Rolf Bossert, Klaus Hensel, Franz Hodjak, Anemone Latzina, Herta Müller, Oskar Pastior, Dieter Schlesak, Werner Söllner, Richard Wagner, Ernest Wichner oder Joachim Wittstock in ihren Werken eben auch das gelehrte Deutschland und so eben auch ein Stück rumänisches Europa, das zu suchen wir nicht müde werden sollten.

Am Beispiel des Banater Dichters Nikolaus Lenau wird verdeutlicht, wie verflochten dieser länderübergreifende Kulturraum ist, wie künstliche jede Trennung nach den genannten Attributen, wie paradox die Vereinnahmung von Persönlichkeiten durch nationale Interessensgruppen. Zur Frage, ob Lenau, „einer der bedeutendsten Dichter deutscher Sprache“, „aus Rumänien kommt“: Sein Heim – Lenauheim – liegt im Banat, und dieses gehörte, als Lenau geboren wurde, zu Ungarn, „viele Ungarn reklamieren ihn deshalb als einen der ihren“, obwohl „doch für die alpenländische Germanistik längst ausgemacht ist, dass er ein österreichischer Dichter ist.“

Das Beispiel Nikolaus Lenau zeigt, wie unermüdlich die Etikettierung von Werk und Autor, von Entstehungsort, von Themen und Biografie versucht wird, damit all dies in den Dienst genommen werden kann für die Suche nach eigenständiger Kultur, die zu nationalen oder zu volksgruppenspezifischen Identitäten führen soll.

Der Schnee stellt seine Leiter an die Ringmauer – und ausgerechnet die Begrenzung eines in sich geschlossenen Raumes, zu dessen Verteidigung errichtet – symbolisch für Rumänien – wird zum Zugang. Matthias Buth hat diesen Zugang nicht nur selbst gefunden, sondern erschließt ihn auch dem Leser und holt das Land damit in einen gemeinsamen literarischen europäischen Kulturraum ein.

Nina May, Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien, 7.3.2021

Ein Wort aus dem inneren Klang von Europa 

– Matthias Buths „Poetische Annäherungen an Rumänien und andere Welten“. –

Eingangs findet sich ein Widmungsgedicht für Eginald Schlattner, den Autor und Pfarrer (jener von einer langen Lebenserfahrung getragene Auskunftsinstanz), ein Gedichttext, in dem – wie impliziert – der Rückgang der Religionsausübung in dem südosteuropäischen Land beschrieben wird. Der Geistliche – „[i]n vollem Ornat“ – versieht hier sein Amt für die immer spärlicher werdende Glaubensgemeinschaft. Am Ende „breitet er seine Arme / und tröstet Gott / Bis auch / Er nicht mehr kommt“ („Gemeinde“). Durch die Sammlung ziehen sich Gemütsbewegung und Trauer. Dem Einstiegsgedicht folgen zehn Psalmen, im Zwiegespräch mit Gott, das die Melancholie bestätigt und mit aller Schwermut im großen Akkord kulminiert:

Der nicht endende Zweifel
An Dir

Dennoch, im Trost ob des Schönen, das der Betrachter wahrnehmen kann:

So aber kenne ich Deine lieblichen Wohnungen
Du lässt mich dort Gast sein
Auf Probe

(„X.“).

Die Trauer erhärtend zitiert der Autor in einem weiteren Text aus der Zauberflöte:

Ach, ich fühl’s, es ist verschwunden
(„Mozart KV 488“). 

Das sakrale Element wurzelt tief in der rumänischen Landschaft, es prägte und prägt sie noch immer in Form ihrer Kirchen, Klöster, Gemeinden. Buth versteht es, die Bilder plastisch werden zu lassen, bettet sie, seiner starken Affinität zur Musik entsprechend, ein ins Metapherngeflecht – „Ländler, Ecossaisen, Polonaisen und Rhapsodien“, „Das betrübte Latein aus Mozarts / Hängenden Gärten / … / Ein weiches Ritardando“, „In Klausenburg treffen nachts sich schwarze Klaviere / … / Mit Noten von Brahms und Chopin“. Das berühmte Celan-Gedicht vom „Meister aus Deutschland“ verschränkt er mit seinem höchsteigenen Sinneseindruck – „Bach ist ein Meister von Karfreitag / Sein aschener Choral bettet Dein Haupt / Mit h-Moll“ („X.“). Wie in diesem Beispiel berührt er das Schaffen von Komponisten wie Bach und Brahms, Mozart, Chopin und Lehar, Schumann und Bartók.
Der Titel des Bandes – Der Schnee stellt seine Leiter an die Ringmauer – rief beim ersten Lesen die Assoziation zu den schneebedeckten Karpaten in mir hervor. Gemeint ist aber die Kirchenburg im siebenbürgischen Großau. Schnee – als Leiter weist er auf den Weg aus der behüteten Schutzwehr, ein Bild der Trauer, doch auch des Aufbruchs hinaus aus der Enge. („Großau / Siebenbürgen“) Aber: „Die Treppe zur Bergkirche von Schäßburg / … / ist eine Jakobsleiter“ – Erde und Himmel verbindend („România“), bewahrt die religiöse Tradition. Den ersten Teil der Texte nehmen zwei Gruppierungen ein: „Liebliche Wohnungen“ und „Georg Enescu fließt über Trompete und Flügel in Rumäniens innerste Mitte und stirbt und stirbt und stirbt und stirbt nicht“. – Die erste Gruppe, Gedichte, steht im Austausch mit den dichterischen Notaten, in einer bestimmten Hinsicht denselben aber eher entgegen. Ist die Textversammlung bei der poetischen Prosa in vielem eine Augen- und Ohrenweide, können sich die Leser bei den Gedichten zwar am vokalischen Wohlklang erfreuen, das Metrum indessen weicht hin und wieder vom Belcanto ab. Soll es das Brüchige zeigen, das sich mit Rumäniens Geschichte und Gegenwart verbindet? „Milch und warmes Fell / Duften auf der Haut weiter“, eine einprägsame Metapher („Holzmengen“), weshalb keine stumpfe Kadenz: „Duften weiter auf der Haut“? Wie auch folgende Schluss-Sequenz in „Liebliche Wohnungen“:

Der Blick der Passanten wärmt flüchtig
Fell und Wohnung.

Weshalb nicht „Wohnung und Fell“? Oder hier unregelmäßig: „Sie [Clara Haskil – P. G.] flieht nicht mehr vor der Wehrmacht nach Marseille und / In die Schweiz zu Ferruccio Busoni und dessen Bach-Chaconne“? – Und kein geschmeidiger Sprachfluss: „Vor der Wehrmacht flieht sie nicht mehr nach Marseille […]“ – Auch anderenorts oft sperrige Verse; als Adaption, wenn man will, wie zum Leben von Clara Haskil, der rumänischen Pianistin, der Buth mehrere Passagen in seinem Buch widmet.
Die Notate setzen mit einem grandiosen Textbeispiel ein, das den wunden Punkt deutscher Befindlichkeit charakterisiert:

Nicht wenige würden gern im Europäischen Elysium aufgehen […], und wie gern würden das die Bewusst-Deutschen, die wegen Auschwitz in die Politik gegangen sind (wir wissen, auf wen hier angespielt wird – P. G.) […], die zusammenfallen, wenn sie die Zahl sechs Millionen hören, die alle Symphonien […] hergeben würden, um endlich erlöst zu werden vom Deutsch-Sein, vom Meister aus Deutschland, der uns die Gedichte schwärzt. […] wir sehen die Augen unserer deutschen Nachbarn, [der] Toten, die uns zurufen „Bleibt bei uns“. (1) 

Die Reihe „Rumänien – wo liegt es?“ umfasst Essays und vermittelt wie schon in den Gedichten seine Hinwendung zu dem südosteuropäischen Land.

România
Geliebte die zurückweicht
weil sie die Nähe fürchtet

(„Ohne ein Wort“)

Dieser sanfte Bescheid zeigt das Fragile der alten Persistenz, des kostbaren Ursprungs, der an Orpheus erinnert. Im Nachwort von Markus Bauer wird die Zuwendung zum rumänischen Thema gewürdigt, „dass ein deutscher Dichter aus dem Rheinland […] einen Band zusammenstellt, in dem die Annäherungen vor allem an Rumänien zum inneren Kern seines Dichtens wie des Reflektierens und politischen Denkens erhoben werden, hat in der Literatur der Bundesrepublik kein Beispiel.“ Dementsprechend setzt Buth das Land ins Verhältnis mit Deutschland, seiner Kultur, seiner Literatur, und verortet es im europäischen Verbund.
Zu finden sind Statements zu Sprache und Dichtung. Im Essay „Spiegelbild“ kommen sie dabei zum Gipfelpunkt mit der Frage nach Bedeutung und Wirken Nikolaus Lenaus im Kontext der deutschen Dichtung. In der Nähe von Temeswar geboren, ist der spätere Verfasser der Waldlieder ein Beispiel für das Dilemma, welcher Literatur er eigentlich zugehört. An diesem Text verdeutlicht Buth die Korrespondenz von Nation und Grenzüberschreitung.

Als Lenau geboren wurde, gehörte das Banat zu Ungarn und war Teil der Habsburger Monarchie.

Die alpenländische Germanistik stuft ihn als Österreichischen Dichter ein. Aufgrund seiner Stuttgarter Jahre und seiner Neueren Gedichte „wird diese Frage in Deutschland erst gar nicht diskutiert“. Im Hinblick auf Wurzeln und Zugehörigkeiten blickt Buth auf die Folgen der Ereignisse unter Ceaucescu:

Wer vor Jahren als Schriftsteller gegangen ist, wollte weg aus der Diktatur, vielleicht auch raus aus den engen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen. Kultur, Armut und Schönheit sind diesem Land geblieben, Armut und Gelassenheit verbinden sich. Vielleicht lösen diese ,Standortvorteile‘ Affinitäten aus, die Menschen veranlassen könnten, zu kommen oder zurückzukehren, um dort wieder einen Lebensmittelpunkt zu suchen und der Literatur eine Bleibe zu geben.

Abschließend äußert Buth sich zu Fragen, die Europa und solche gefährdeten Himmelsstriche wie Rumänien betreffen, um damit wieder bei Gedanken um Schlattner zu landen:

Manchmal meint man, etwas erst dann voll zu erkennen, wenn es untergeht […]
(„Das Jerusalem Siebenbürgens“).

Peter Gehrisch, Ostragehege, Heft 97, 3.9.2020

 

 

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