Matthias Wegner: Zu Stefan Zweigs Gedicht „Letztes Gedicht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Stefan Zweigs Gedicht „Letztes Gedicht“ aus Stefan Zweig: Silberne Saiten. –

 

 

 

 

STEFAN ZWEIG

Letztes Gedicht

Der Sechzigjährige dankt

Linder schwebt der Stunden Reigen
Über schon ergrautem Haar,
Denn erst an des Bechers Neige
Wird der Grund, der gold’ne klar.

Vorgefühl des nahen Nachtens
Es verstört nicht – es entschwert!
Reine Lust des Weltbetrachtens
Kennt nur, wer nichts mehr begehrt,

Nicht mehr fragt, was er erreichte,
Nicht mehr klagt, was er gemißt,
Und dem Altern nur der leichte
Anfang seines Abschieds ist.

Niemals glänzt der Ausblick freier
Als im Glast des Scheidelichts,
Nie liebt man das Leben treuer
Als im Schatten des Verzichts.

 

Verzichtserklärung

Ein trauriges, aber auch etwas sentimental anmutendes Gedicht, mit dem da ein doch eben erst Sechzigjähriger, einem berühmten Vorbild folgend, die Entsagung feiert. Der klagende Tonfall und die vierfüßigen Trochäen des Versmaßes scheinen aus neuromantischen Versatzstücken arrangiert, das „ergraute Haar“, „des Bechers Neige“, der „Schatten des Verzichts“ sind vielstrapazierte Klischees, die Alliterationen („nahen Nachtens“, „mehr begehrt“, „Anfang seines Abschieds“) klingen hohl. Ein erstarrter Klassizismus, der die Entwicklung der Lyrik in diesem Jahrhundert ignoriert, mildert die Trauer dieser Verse. Und doch: Beim wiederholten Lesen beginnt die konventionelle Sprache weniger zu stören. Man spürt, daß es hier jemand sehr ernst mit dem Abschied meint. Das – in einem traurigen Sinne – Gelegenheitsgedicht entstand 1942 in der paradiesischen Landschaft von Petropolis, einem üppig bewachsenen brasilianischen Luftkurort, einige Stunden entfernt von Rio de Janeiro. Der Emigrant hatte sich an diesem schönen Fleckchen Erde niedergelassen, nachdem ihm zuerst seine Heimat Österreich verschlossen und später das Leben in England zu gefährlich erschienen war. Brasilien war ihm als rettendes Ufer erschienen.
„Du kannst Dir nicht vorstellen, welche Tröstung von der Natur ausgeht, wo alles farbig ist und die Menschen kindlich rührend“, schreibt Stefan Zweig an seine erste Frau Friederike. Der leidenschaftliche Europäer, dem alle Politik der Gegenwart verhaßt war, schien endlich das private Glück wiedergefunden zu haben. Das Morden des Krieges vollzog sich weit entfernt. Zweig war, anders als die meisten Emigranten, materiell abgesichert, seine frühere Sekretärin und zweite Frau Lotte bewunderte ihn geradezu ehrerbietig. In Brasilien schrieb er sein vielleicht schönstes, in jedem Fall persönlichstes Buch: Die Welt von Gestern, in dem er noch einmal das alte Europa, den Zauber der Erinnerung beschwor. Sein Name galt auch außerhalb des deutschen Sprachraumes viel in der Welt der Literatur, wenngleich er selbst seine Werke als „ziemlich ephemer“ einstufte und sich gerne im Hintergrund hielt.
Der Erfolgsautor, der von sich sagte, er sei als „Österreicher, als Jude, als Schriftsteller, als Humanist und Pazifist fast pausenlosen vulkanischen Erschütterungen unserer europäischen Erde“ ausgesetzt gewesen, erlag am Ende seinen Depressionen, von denen ihn auch das tropische Paradies nicht mehr erlösen konnte: Am 23. Februar 1942, etwa vier Monate nach der Niederschrift dieses Gedichts und unmittelbar nach einem Besuch des Karnevals in Rio, nahmen er und seine dreiunddreißigjährige Frau eine Überdosis Veronal. Ein uns hinterlassenes Foto der brasilianischen Polizei zeigt das tote Paar in zärtlicher Umarmung „im Scheidelicht“.
Der an seiner Zeit, genauer: an der Brutalität seiner österreichischen und deutschen Landsleute zerbrochene Emigrant fühlte sich endlich „entschwert“. Seinen Freunden rief er diese letzten Zeilen zu:

Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht. Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.

Ein Schriftstellerleben hatte sich aus freier Entscheidung vollendet, das in seiner vornehmen Stilisierung identisch war mit einem traditionsverhafteten, aber stets von großer Bildung und tiefer Menschenkenntnis getragenen Werk. Das auf den ersten Blick so konventionell stilisierte Gedicht erweist sich als eine sehr persönliche und freimütige Verzichtserklärung von bewegender poetischer Wahrheit.

Matthias Wegneraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreizehnter Band, Insel Verlag, 1990

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