Michael Braun & Hans Thill (Hrsg.): Punktzeit

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Michael Braun & Hans Thill (Hrsg.): Punktzeit

Braun/Thill (Hrsg.)-Punktzeit

WIE MAN IM WINDSCHATTEN WIND MACHT:
man stellt Windmühlen auf nach
denen kein Wind kräht aber
wenn die neuen Don Quichottes anreiten so
fängt von ihrem Streiten an ein
kleiner Wind zu gehn hi! die Flügel
zu drehn nur kann man mit dem
kein Korn mahlen doch nicht für
nichts und wieder nichts hat man
so wenig Wind gemacht man hat
die neuen Don Quichottes hihi!
einmal mehr erkannt

Kito Lorenc

 

 

 

Nachwort

I

Das Gedicht ist… durch sein bloßes Dasein subversiv.

Noch vor fünfundzwanzig Jahren konnte Hans Magnus Enzensberger in dialektischer Fortschreibung T.W. Adornos den Glauben an die utopische Kraft und subversive Energie des Gedichts formulieren. Sogar noch in den siebziger Jahren hofften westdeutche Poeten dieses subversive Potential der Literatur zu entfesseln, sich als „Abrißarbeiter im Überbau“ (Yaak Karsunke) zu betätigen oder sich mit dem Gedicht ins Handgemenge zu stürzen. Diese idealistische Illusion, der rührende Glaube an die heimliche Sprengkraft der Dichtung, ist inzwischen stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Wo sich bis vor kurzem der Lyriker in unmittelbarem Kontakt mit einer kritischen Öffentlichkeit wähnte, ist ihm heute seine eigene Überflüssigkeit schmerzhaft ins Bewußtsein getreten. In den achtziger Jahren gibt es kein magisches Datum mehr, auf dessen suggestive Aura („1968“) eine ganze Lyriker-Generation ihre poetische und politische Identität gründen könnte. Selbst der „Größte Anzunehmende Unfall“ der modernen Industriegesellschaft im April 1986 hat – und das ist erfreulich – keine poetische Schule mehr gezeugt. Der geschichtliche Ort, den der Lyriker anvisiert, erscheint als ein soziales Vakuum, in dem die Machthaber ungerührt ihren Geschäften nachgehen und keinerlei poetische Opposition es zu ändern vermag, daß der Laden läuft wie geschmiert. Das Gedicht ist kein Messer, kein Molotow-Cocktail, keine Posaune von Jericho. Der zeitgenössische Lyriker schreibt im luftleeren Raum, ohne auf Nachwelt oder Wirkung rechnen zu können – sofern er nicht einem Publikum nach dem Munde redet, das von der Dichtung wieder getröstet und umschmeichelt werden will.

II

Die Sucht nach Originalität um jeden Preis fällt unweigerlich ins längst schon Dagewesene zurück… (Helmut Krapp/Karl-Markus Michel, 1955)

Seit der internationalen Literaturrevolution 1910-1920 kann keine Poetik mehr kanonische Geltung für sich beanspruchen. Was auf sie folgt, sind Diadochenkämpfe, unterbrochen durch zwölf Jahre faschistische Barbarei. Dem poetischen Avantgardismus ist dann in den fünfziger Jahren mehrfach der Prozeß gemacht worden, obwohl für die Nachkriegslyrik durchaus ein Nachholbedarf an poetischer Modernität bestand. Kritiker sprachen damals schon von einer „postrevolutionären“ Situation in der Lyrik. Erst allmählich befreite sich die deutsche Lyrik von den traditionalistischen „Bewisperern von Gräsern und Nüssen“, neue Entwicklungen zeichneten sich ab: die vokabulären Experimente der Konkreten Poesie, der kulturrevolutionäre Bildersturm auf die Literatur, die Politisierung der Lyrik, der furiose Durchbruch zur „rohen, unartifiziellen Formulierung“. Erst nach dem Ende der Alltagslyrik, die die Differenz zwischen Alltagssprache und Gedichtsprache fast zum Verschwinden brachte, scheint die Lyrik der Bundesrepublik in ein posthistorisches Stadium einzutreten. Wer sich heute noch avantgardistisch gebärdet, ficht gegen Windmühlen. Denn die Zeit der großen Schlüsselattitüden in der Lyrik ist endgültig abgelaufen, die großen Grundentscheidungen sind gefallen: Wir leben in einem Jahrzehnt der Reprisen. Jede neue Avantgarde riefe die Geister herbei, die sie überwinden will.

III

In den achtziger Jahren
ist es so wie immer.

Karl Krolows Grußwort an das gerade erst anbrechende Jahrzehnt, formuliert in seinem Gedichtband Herbstsonett mit HegeI (1981), lebt von einer schnoddrigen Ironie, die immer dann wiederkehrt, wenn das lyrische Subjekt die großen Themen Geschichte und Gesellschaft in den Blick nimmt. Die emphatische Suche nach Wahrheit weicht hier einem stoischen Gleichmut, einem Posieren mit Gleichgültigkeit und Zynismus, einem fast schon kalauernden Parlando. „Die wichtigen Ereignisse / ereignen sich“, spöttelte Enzensberger in seiner „Furie des Verschwindens“ (1979). Dies sind spätzeitliche, alexandrinische Haltungen: Postitionen, die der späte Benn der „Phase II“ in den fünfziger Jahren bereits vorformuliert hat. Dort lautet die Formel: „Sich abfinden und gelegentlich auf Wasser sehn“. Schon sehr früh haben Hans Magnus Enzensberger und Peter Rühmkorf die Stillhalteideologeme des Artistenmetaphysikers Benn kritisiert – und sind doch, wie wir an ihren jüngsten Gedichten erkennen können, heimliche Benn-Schüler geblieben. Dem gegenüber steht in den achtziger Jahren der Versuch einer Rückgewinnung der Emphase, der beschwörende Rückgriff auf die „Wahrheit der Dichtung“, die Besinnung auf die ästhetischen Widerstandsversuche der großen Dichtergestalten. Diese Autoren nehmen melancholisch Abschied von der verschwindenden Welt, für deren Zukunft sie keine Hoffnung mehr haben: Peter Hamm, Rolf Haufs, Michael Buselmeier, Elisabeth Borchers, Sarah Kirsch richten ihre Aufmerksamkeit auf scheinbar ephemere Gegenstände und Natur-Dinge, um sie noch ein letztes Mal zum Leuchten zu bringen. Die poetische Arbeit der Erinnerung konzentriert sich auch auf die blutigen Wunden, die die Geschichte schlägt. In einem historischen Augenblick, da von einer reaktionären Geschichtsschreibung die Erinnerung an Auschwitz stillgestellt wird, stiftet die Lyrik das Eingedenken an eine „Vergangenheit, die vergangen nicht ist und es nie sein wird“ (Peter Szondi): Manfred Peter Hein, Heinz Czechowski, Volker Braun, Günter Herburger, aber auch jüngere Autoren wie Richard Wagner oder William Totok inspizieren das Schlachtfeld der Geschichte.

IV
„Wir haben alles durchgespielt“, konstatiert Franz Mon, „was machen wir jetzt?“ Sie machen weiter, die Experimentellen, mit offenen, unabschließbaren Texten, die das Sprachmaterial in Bewegung halten. In Oskar Pastiors akrobatischen Lautgedichten werden alle verfügbaren Sprachschichten und Wörter-Repertoires mobilisiert. Helmut Heißenbüttel ist von den positivistischen Sprachspielen seiner „Reihen“ und „Kombinationen“ weitergeschritten zu lose geflochtenen, spielerischen Altersgedichten, die sich über die Lyrik als Gattung mokieren: Mit gereimten „Trostsprüchen“, die den Reim zugleich verhöhnen; mit den „Zickzacksprüngen des Artikulierbaren“ in „Gedichtgedichten“, die sich gleichsam selbst ins Wort fallen: „Es genügt ja nicht bloß Avantgardist zu sein / alles herein zu nehmen zu verschlingen schließt es ein“. Auch die Textbewegung in den Gedichten von Friederike Mayröcker, die assoziativ fortschreitenden, wuchernden, mäandrierenden Sätze, die sich wieder und wieder verzweigen: Auch dies eine Art, sich die Sprache einzuverleiben, um schließlich in den Sog jenes Rhythmus zu geraten, „der einem wunderbarerweise das Schreiben zum Leben macht und das Leben zum Schreiben“.

V

Der Stil der Zukunft wird der Roboterstil sein, Montagekunst.

Die Prognosen des vielgeschmähten Gottfried Benn haben sich als hellsichtig erwiesen. Denn der „Robotersti!“, die „Montagekunst“ werden ironischerweise von der jüngeren Lyriker-Generation begeistert aufgenommen. Absurde Fügungen tauchen auf, gemischt mit Satzfetzen, Zeitungsschlagzeilen, mythologischen Zitaten, Floskeln, Formeln, verdeckten Plagiaten. Vor dem poetischen Anarchismus der Gedichte von Peter Waterhouse, Thomas Rosenlöcher oder F.C. Huber stürzen die Kulissen traditioneller Lyrik in sich zusammen. Die sprach-verrückten Gedichte von Peter Waterhouse zerlegen die Sprache in ihre semantischen und phonetischen Bauteile, um sie anschließend zu neuen poetischen Konstellationen zusammenzufügen. Das lyrische Subjekt, das hier spricht, wird von der Textbewegung gleichsam mitgerissen, treibt ab zu den Rändern. Hier wird das klassische lyrische Ich endgültig entthront, de-zentriert: Ein multiples Ich beginnt als Relaisstation sich überlagernder Stimmen zu sprechen und muß sich dabei ständig der Sprache und der Gegenstände vergewissern, um sich zu orientieren: „Der Name der Sprache heißt: Abwesenheit. Ungarn. Donau. Pisa. / Maria. Apfelkern. Uns steht ziemlich vieles zur Verfügung. / Alles flieht.“ „Alles ist sagbar“, notiert Waterhouse an anderer Stelle, um sofort wieder zu dementieren: „Nichts ist sagbar.“ Leben wir also doch im Zeitalter eines fröhlichen Eklektizismus, in dem die friedliche Koexistenz aller Stile und Möglichkeiten vorherrscht: in der Epoche der Collagisten und Montagekünstler, die aus den Trümmern der literaturgeschichtlichen Traditionen neue bunte Versatz-Kunst-Stücke basteln? Ist Rimbauds Diktum radikalisiert worden zur Maxime: ,,Il faut être absolument post-moderne?“ Aber Vorsicht: An zeitgenössischen Gedichten erweist sich der diagnostische Wert der Kategorie ,postmodern‘ als gering. Benn notierte, als es noch keine Postmoderne gab: „Der Mensch muß neu zusammengesetzt werden aus Redensarten, Sprichwörtern, sinnlosen Bezügen, aus Spitzfindigkeiten, breit basiert −: ein Mensch in Anführungsstrichen.“

VI
Punktzeit – dieser Titel ist keinem Gedicht entlehnt, sondern dem Vokabular eines Philosophen. Der französische Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio versucht den Nachweis zu führen, daß wir im Machtsystem der Beschleunigungen, also im Zeitalter der elektronischen Medien und künstlichen Intelligenzen, an einer neuen Epochenschwelle stehen. Folgt man Virilio und seinen Adepten, so setzt sich in der modernen Informations- und Computer-Gesellschaft, die neue, unvorstellbare Geschwindigkeits-Räume erschließt, auch eine qualitativ neue Zeit-Erfahrung durch: die Punktzeit. Relativitätstheorie, Quantenmechanik, Informationstheorie und Kybernetik antizipieren theoretisch die Auflösung des linearen Zeit-Kontinuums. Die auf den Gesetzen von Logik und Kausalität begründete lineare Zeitstruktur wird aber erst durch die Erfahrung des modernen Krieges aufgesprengt. Im „reinen Krieg“, in dem Angriff und Verteidigung tendenziell ununterscheidbar werden, herrscht nicht mehr die lineare, mit dem menschlichen Wahrnehmungsvermögen registrierbare Zeit, sondern die Logik simultaner Operationen, die Punktzeit.
An einen Terminus wie Punktzeit lagern sich aber noch andere schillernde Konnotationen an. Denn er erinnert zugleich an den lyrischen Zeit-Punkt, den poetischen Augenblick, die „kleinste Erlebniseinheit, die Einzelnes scharfrandig herausschneidet aus dem Allzuvielen“ (Walter Höllerer). In der Evokation des poetischen Augenblicks widersetzt sich auch noch heute das schreibende Ich der Wahrnehmungs-Zerstreuung, der Flut der heranstürmenden Bewußtseinsreize. In zahlreichen Gedichten der siebziger Jahre schien sich die Erfahrungswirklichkeit des schreibenden Ich in disparate und zufällige Alltagsaugenblicke aufzulösen: eine Punktualisierung der Erfahrung zeichnete sich ab. In dieser Anthologie sind nur noch Restbestände des alltäglichen Erlebnisgedichts anzutreffen. Die Sprach-Wirklichkeiten treten wieder in den Vordergrund. Denn es hat sich mittlerweile herumgesprochen, daß ein Gedicht nicht aus Erlebnissen, Empfindungen, Gefühlen, Stimmungen oder Meinungen besteht, sondern aus Sprache.

VII
Die Leitfrage des Anthologie-Projekts lautete: Welche Gedichtsprache wird gesprochen, seit sich die Revolte der Alltagslyrik erschöpft hat? Wie schreiben die alltagslyrischen Poeten heute, zehn Jahre nach Jürgen Theobaldys trutziger Präsentation der „Gedichte vor und nach 1968“ unter dem Motto: „Und ich bewege mich doch…“? Allmählich traten neue Fragestellungen hinzu: Wie schreibt die jüngste Lyriker-Generation? Welche Entwicklungen hat die experimentelle Poesie durchlaufen? Das Buch entwickelte immer stärker eine Eigengesetzlichkeit, neue Gedichte und Autoren tauchten auf und fügten sich in den Kontext der einzelnen Kapitel. Kein „Lyrik-Katalog“ ist entstanden, auch kein „Museum“ für zeitgenössische Poesie, das prominente und kanonisierte Autoren und Autorinnen in harmonischer Eintracht und Pluralität zusammenführt, sondern eine subjektive Bestandsaufnahme des zeitgenössischen Gedichts, die alle relevanten Sprechweisen und Ausdrucksformen versammelt und miteinander konfrontiert. Die Herausgeber haben sich für Strukturkapitel entschieden, geordnet nach Sprachgesten, Motiven und Themenfeldern. Eine Katalogisierung nach poetischen Schulen oder Generationen sollte ebenso vermieden werden wie eine inhaltliche Präjudizierung. Die ausgewählten Gedichte ergänzen, korrigieren, widersprechen und erhellen sich nun gegenseitig. Das „auf festen Versesfüßen“ einherstolzierende Gedicht, das sich einer klassisch-romantischen „ars poetica“ anheimgibt, ist in der Anthologie nicht vertreten. Es gehört zu den traurigen Kuriosa dieses Jahrzehnts , daß in ihm ausgerechnet ein biedermeierlicher Traditionalismus zu preisgekrönten Ehren kam, der hinter die Errungenschaften der lyrischen Moderne zurückfällt. Dem kunstgewerblichen Gedicht unserer Tage fehlt alles, was avancierte Poesie auszeichnet: die Kraft zur ästhetischen Provokation und die „Alchimie des Wortes“ (Rimbaud), die aus der Sprache Funken schlägt.

VIII
„Eine Mischung von Whisky und Schmerztabletten hat mir neulich geholfen, als ich Schmerzen an den Versfüßen hatte.“ Das lyrische Werk des Lakonikers Günter Eich vom Gedichtband Zu den Akten (1964) bis hin zur Prosa der Maulwürfe (1968) bezeugt den zunehmenden Protest gegen eine praktikable Sprache der Information, in die der Mensch übersetzt und dadurch mitteilbar gemacht werden kann. An seinem sprachkritischen Œuvre können auch heute noch zeitgenössische Lyriker lernen, wie man die Gedichtsprache davor bewahrt, im Universum der Geschwätzigkeit unterzugehen. Auch über den Wirkungsgrad eines Gedichts hat Eich zuverlässig Auskunft erteilt:

In Saloniki
weiß ich einen, der mich liest.
Und in Bad Nauheim.
Das sind schon zwei.

Michael Braun, Nachwort

Glossar

mit einigen wahren Sätzen auf die Lyrik der achtziger Jahre

Generationen. Sind sie noch da? Sind sie nicht verschwunden wie die Jahreszeiten, das Wörtlein „Analyse“? In der Öffentlichkeit wird von Generationen nur noch gesprochen, wo es um die Profilierung des Einzelnen geht: Politik, Kunst, Wirtschaft, Sport. Aber auch hier definieren sich die jungen Herausforderer nicht in Abgrenzung, sondern in Anlehnung an eine Vorgeschichte: „Enkel“, „Neue“ Wilde usf. Oder: sie definieren sich nicht selbst, sie werden von den Medien definiert. Die Zugehörigkeit zu einer Generation ist eingetragenes Warenzeichen.

Sonderfälle. Theoretisch sind alle Katzen grau, poetisch gesehen ist jeder Lyriker ein Sonderfall. Die Glaubwürdigkeit des Gedichts hängt von seiner Qualität ab, nicht von dem Subjekt, das es geschrieben hat.

Subjekt. Das Subjekt teilt mit anderen seine Haltung gegenüber Geschichte, Sprache, Urlaub. Die sich so bildende Generation ist ein fiktiver Verein, dessen Mitgliedschaft das Subjekt wiederholt vergeblich aufzukündigen versucht. Heute ist das Subjekt vermutlich eine Erfindung der Unterhaltungsindustrie.

Alter I. Was ist alt an den jungen Lyrikern? Im Vergleich zu den „Jungen Politikern“, die etwa 50 Jahre alt sind, könnten sie noch als jung gelten. In einem Alter so um die dreißig sollten aber auch sie so langsam über eine Altersversorgung nachdenken.

Jugend I. In seiner Jugend wollte der junge Lyriker Rockstar werden, Rechtsanwalt oder Terrorist. In Zeiten, als Junge Lyriker noch jung waren, lernten sie einen bürgerlichen Beruf, weil sie Dichter werden wollten. Die heutigen Jungen Lyriker hatten dazu keine Zeit. Nach Ärzteschwemme, Juristenschwemme, Pfarrerschwemme gibt es auch kaum einen bürgerlichen Beruf, der für einen Jungen Lyriker nicht unehrenhaft wäre.

Sprechen, Sagen. Die traditionelle Frage, ob ein junger Autor „etwas zu sagen habe“, darf man an die Produkte Junger Lyriker nicht mehr stellen. Wenn ein Junger Lyriker etwas zu sagen hat, behält er es meist lieber für sich. Anders als in den sechziger Jahren handelt sein Gedicht nicht vom Schweigen, es handelt von der Rede. Schuld daran sind nicht die „Franzosen“, wie immer wieder behauptet wird, sondern eine Realität, in der Rede gleichbedeutend ist mit Meinung. Die Rückkehr zum Text reagiert auf eine Öffentlichkeit, in die sich ständig Meinungen entleeren. Übrigens geschieht diese Rückkehr auf lustvolle Weise.

Sonderfall. Offenbar sind die Jungen Lyrikerinnen nicht so schnell bereit, die Aussage zu verweigern. Es lohnt sich also weiterhin, über weibliche Ästhetik zu spekulieren.

Jugend II. Auch die Jungen Lyriker der siebziger Jahre hatten ihre Jugend längst hinter sich gelassen. Sie begriffen sich aber als Teil einer Protestgeneration, für die Jugend eine Qualität war, die sich politisch definieren ließ. Sie lebten ihre doppelte Jugend im Gedicht aus, auf eine Weise, daß für die folgende Generation an juveniler Mitteilung nicht mehr viel übrig blieb. Hinzukam, daß die konkurrierenden Sparten der Alltagskultur die Jungen Lyriker bald an Jugendlichkeit überholt hatten, um deren Inhalte, etwas lauter gedreht und abgeflacht als Frischzellenkur unter das langsam behäbig gewordene Publikum zu bringen.

Wort. Gedichte sind unschädlich, man sollte sich keine Illusionen machen. Ihr Autor stößt auch nicht im Literaturbetrieb auf großes Interesse. Es sei denn, er hat „ein Publikum“, das heißt, er ist von einigem Unterhaltungswert oder verkündet Botschaften in einer Art, wie sie schon für die Jungen Lyriker der siebziger Jahre nicht mehr erstrebenswert schien. Diese hatten noch die Erfahrung von der „Macht des Wortes“ und konnten so, von der historischen Realität der Studentenbewegung zehrend, die Fähigkeit zum Gespräch bewahren. Paradoxerweise waren es Autoren im Umfeld der Studentenbewegung, die den Tod der Literatur proklamiert hatten.

Verhältnisse. Mit dem pünktlichen Eintreffen apokalyptischer Realitäten läßt sich gut leben. Angesichts des zu ihrer Abwehr abgesonderten offiziellen Sprachwindes wirken sie sogar wie Beruhigungspillen. Die Wahrheit, das bestätigen sie, ist gerecht und schlechter Stil ist ein Zeichen für schlechten Charakter.

Irritation. Die ehemaligen Protestler mußten in den siebziger Jahren feststellen, daß die Verhältnisse ihren Neuen Realismus unbeschadet überstanden. Bei dem Versuch, die Welt zu retten, geriet das lyrische Subjekt in Gefahr zu ertrinken. Als Reaktion auf die sich verfestigende gesellschaftliche Realität wurden sie beinahe wider Willen zu Dichtern. Diese Irritation ist in ihren Texten wiederzufinden. Die alte Ablehnung des traditionellen Dichterbildes ebenso: sie wollen nicht ergründen, sondern nur sprechen.

Moderne. Obwohl die verschiedenen historischen Avantgarden als institutionalisiert gelten, ist ihre poetische Substanz längst nicht Allgemeingut in der literarischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik. Indizien dafür sind nicht nur der hoffnungslos altmodische „Geschmack“ einiger Literaturpäpste, sondern etwa auch die Tatsache, daß Ende der siebziger Jahre eine Diskussion über den freien Vers ausbrach, in der ein weitverbreitetes Unbehagen an modernen Formen zum Ausdruck kam. Es gibt aber keinen ernstzunehmenden Autor gleich welcher Generation, der sich nicht modern verhält, das heißt, in dessen Texten nicht Sprechweisen der Moderne zu finden sind und seien sie auch nur eingesickert.

Avantgarde. Jede Beschreibung einer Generation als Gruppe wäre Unsinn. Auch die jungen Lyriker, in deren Zuständigkeitsbereich der Avantgardismus traditionell gesehen fallen müßte, haben bisher keinen „Neuen Stil“ kreiert. Niemand verspürt Lust, Manifeste in eine ungewisse Zukunft zu schreiben. Die Rede der Jungen Lyriker ist eine der fröhlichen Desillusionierung. Schließlich wäre auch niemand mehr mit Gedichten zu schockieren. Der Schock ist viel billiger in jeder Boutique zu haben.

Sonderfall. Was hier über Avantgarde gesagt wird, betrifft nur moderne Industriegesellschaften westlichen Zuschnitts. Für die DDR und andere formierte Gesellschaften des Ostblocks gilt es schon nicht mehr. Wenn es stimmt, daß Avantgardismus eine Form ist, mit der sich eine Kultur ihre Sprache erobert, dann muß es in den Ländern der Dritten Welt noch funktionierende avantgardistische Bewegungen geben.

Ironie. Wenn es den Jungen Lyriker wider Erwarten doch noch zu einer Mitteilung drängt, gerät sie ihm unter der Hand in einen Kontext, der sie in Frage stellt. So ist die Fraglichkeit einer Aussage ständig präsent. Diese Ironie ist mit der existentiellen Ironie der Romantiker oder Surrealisten nicht zu vergleichen. Sie richtet sich nicht so sehr gegen die Literatur an sich, sondern gegen den Text selbst und das sich hinter ihm verbergende Subjekt. Anleihen bei den Techniken der Moderne bedeuten einen umgekehrten Modernismus: das Spiel mit den Formen einer Literatur, die sich ihrer Zukunft gewiß war.

Postmoderne. Was heute landläufig als postmodern vermutet oder beschimpft wird, zeichnete schon den Neuen Realismus der siebziger Jahre aus: Eklektizismus, Ironie, das Spiel mit dem Zitat. Wenn beide Generationen auf so konträre Weise die achtziger Jahre widerspiegeln, liegt das an den beschriebenen Unterschieden auf subjektiver Ebene. Die postmodernen Protagonisten durften Üübrigens noch totsagen und zum Leben erwecken. Sie waren die letzte Avantgarde der bundesdeutschen Literaturgeschichte.

Experiment. Die experimentelle Poesie ist zu neuen Ehren gekommen. Sie wurde ihrer wissenschaftlichen Vernunft beraubt, jetzt verträgt sie sich ganz gut mit anderen Redeweisen.

Alter II. Während die Jugend aus dem Gedicht der achtziger Jahre weitgehend verschwunden ist, drängt sich das Altern als Thema immer weiter in den Vordergrund. Es ist bezeichnend für diese Verschiebung, die auch in der Öffentlichkeit stattgefunden hat, daß der Verfall des Körpers schon bei der mittleren Generation einen beachtlichen Raum einnimmt. Bei den Lyrikern „in den besten Jahren“ herrscht allerdings eine gewisse Melancholie, ein elegischer Ton vor, die wirkliche „Alterslyrik“ zeichnet hingegen wütende Radikalität aus, verbunden mit einer schonungslosen Haltung der eigenen Person gegenüber. Unabhängig von ihrem poetischen Ansatz sprechen die Alten Lyriker mit Sarkasmus und Hohn, arbeiten mit Mitteln, die in der Moderne als „Jung“ galten: Parodie, groteske Komik bis zum Kalauer, Zerstörung der Rede. Die Alten sind als Generation am deutlichsten sichtbar.

Hans Thill, Nachwort

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Hans Thill

 

Hans Thill liest sein Gedicht „Kühle Religionen“.

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