Michael Braun: Zu Àxel Sanjosés Gedicht „Februar“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Àxel Sanjosés Gedicht „Februar“ aus Àxel Sanjosé: Das fünfte Nichts

 

 

 

 

ÀXEL SANJOSÉ

Februar

Hier sind wir wir.

Für immer
weht der Schnee nach Westen,
bleibt liegen nicht,
dem Land der Hesperiden zu,
wo alles aufhört,
wo alles endlich aufhört.

Im Halbhellen hissen wir.

 

„Vielleicht werden Sie halbhell.

(Dann wären Sie ein Glücklicher zu nennen.)“ Diese aufschlussreiche Notiz findet sich in einer Geschichte des ironischen Expressionisten Alfred Lichtenstein (1889–1914). Dort schreibt sie ein junger Zögling in einer Anstalt für nervenkranke Kinder nieder, kurz bevor er sich zum Suizid entschließt. „Halbhell werden“: Damit wird von Lichtensteins todessüchtigem Helden offenbar ein Zustand des Illuminiertseins bezeichnet, ein Zwischenbereich, gleich fern vom traditionellen Ideal der „Aufklärung“ wie vom geistverlassenen, abgründigen Dunkel. „Halbhell“ ist auch das existenzielle Lichtstadium, das Àxel Sanjosés Gedichten eigen ist, eine Helligkeitsstufe, die dem Morgengrauen näher ist als einem klar erleuchteten Nachthimmel. Das Gedicht „Februar“ ist einem Zyklus von jahreszeitlich gefügten Gedichten entnommen, die sich zu einem kleinen Jahresring fügen. „Im Halbhellen hissen wir“: Wenn wir etwas „hissen“, werden gemäß der traditionellen Wortbedeutung Segel oder Fahnen in die Höhe gezogen. Bei Àxel Sanjosé, dem 1960 in Barcelona geborenen Hermetiker, bleiben eindeutige Botschaften auf Fahnen ausgespart. In seinem faszinierenden Gedichtband Das fünfte Nichts orientiert er sich an Immanuel Kants „Tafel des Nichts“ aus der Kritik der reinen Vernunft, um in Abgrenzung von den dort entfalteten vier Kategorien des Nichts für seine Poesie ein fünftes Element des Nichts als Vektor poetischer Energie zu gewinnen.
In „Februar“ steuert das lyrische Kollektivsubjekt auf einen Sehnsuchtsort zu, der am äußersten westlichen Rand der Welt liegt – die Gärten der Hesperiden, wo zugleich eine finale Erfahrung lauert:

wo alles aufhört,
wo alles endlich aufhört.

An diesem entlegenen Ort steht laut mythischer Überlieferung auch ein Baum mit goldenen Äpfeln, die den Göttern ewige Jugend verleihen. Daher setzten sie alles daran, dieses Privileg zu bewahren und zu verhindern, dass auch die Menschen von den Äpfeln kosteten und dadurch unsterblich wurden. Àxel Sanjosé verweist nun auf die Hesperiden als einen Ort, an dem „alles endlich aufhört“. Diesen Ort am Rand, an dem Poesie ins Verstummen übergeht, hatte der Dichter schon in seinem Band Anaptyxis (2013) markiert. Jetzt ist er ihm ganz nahe gekommen.

Michael Braun, Volltext, Heft 2, 2021

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00