Michael Braun: Zu Ilse Aichingers Gedicht „Pfandleihe“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Michael Braun: Zu Ilse Aichingers Gedicht „Pfandleihe“ aus Ilse Aichinger: Aufruf zum Mißtrauen. –

 

 

 

 

ILSE AICHINGER

Pfandleihe

Judas, Herodes,
achtundzwanzig und
zwei mal sechs
unschuldige Kinder,
zwei Vipern,
zwei Grashüpfer,
auch Heuschrecken genannt,
ein unruhiger Geist
aus dem Magen
einer beliebigen Sau
im See Genezareth,
ein halber Wackerstein
aus dem zerfetzten Wolfsschlund
im Brunnen, um den die Geißlein tanzen.
Wenn die mich zu meinen Liebsten holen,
bin ich zufrieden.

 

Sind es nun die Täter

und willigen Vollstrecker oder die Opfer der Geschichte, die in diesem Gedicht der „Pfandleihe“ übergeben werden? Wenn hier Ilse Aichinger (1921–2016) den antiken König Herodes, der den Kindermord in Bethlehem in Auftrag gegeben haben soll, in einem Atemzug mit dem Jesus-Verräter Judas nennt, sind gleich zwei Bösewichte der christlichen Mythologie markiert, die in der „Pfandleihe“ deponiert werden. Aber neben den übel beleumundeten Vollstreckern einer Unheilsgeschichte geraten in diesem Gedicht auch die Verlierer des Geschichtsprozesses ins Pfandleih-Depot: ermordete Kinder, Schlangen und Insekten, dazu die Überbleibsel jener Schweineherde, die sich laut dem Matthäus-Evangelium in den See Genezareth stürzte, nachdem Jesus die Dämonen aus zwei Besessenen ausgetrieben hatte. Hinzu kommt noch der Rest des Wackersteins, der den bösen Wolf aus dem Märchen der Brüder Grimm in den Brunnen hinabzieht. Die Lebensgeschichte Ilse Aichingers, die Tochter einer jüdischen Schulärztin war, stand selbst im Zeichen einer fortdauernden Todesdrohung, nachdem sie und ihre Mutter sich in Wien nach 1938 von den Häschern des mörderischen NS-Staats umringt sahen. In der Gedichtzeile „unschuldige Kinder“ schwingt möglicherweise die schockhafte Erfahrung mit, dass Ilse Aichingers Zwillingsschwester Helga im letztmöglichen Augenblick im Juli 1939 mit einem Kindertransport nach England entkommen konnte. Ihre Großmutter dagegen wurde ermordet, Ilse Aichinger selbst überlebte nur knapp. Das Aichinger-Gedicht aus dem Jahr 1983, aufgeschrieben auf der Rückseite eines Briefs von Gruppe-47-Gründer Hans Werner Richter, wurde erst spät entdeckt und erstmals 2011 von der Edition Korrespondenzen und nun in einem Band mit „verstreuten Publikationen“ veröffentlicht. Es ist im Bewusstsein einer katastrophischen Geschichte geschrieben und handelt von Verlusten, camoufliert im Gewand biblischer und märchenhafter Erzählungen. Sowohl die Triumphatoren als auch die Opfer der Geschichte sind für immer in der „Pfandleihe“ verschwunden, Hoffnung auf eine Rückholung gibt es nicht. In den letzten beiden Versen adressiert das lyrische Subjekt direkt seine Trauer an die „Liebsten“. Nur dort, bei den verlorenen „Liebsten“ gibt es noch ein lebenswertes Leben.

Michael Braun, Volltext, Heft 4, 2021

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