Michael Braun: Zu Jürgen Nendzas Gedicht „DAS FAHRWASSER haben sie umgesteckt,…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Jürgen Nendzas Gedicht „DAS FAHRWASSER haben sie umgesteckt,…“ aus Jürgen Nendza: Picknick. –

 

 

 

 

JÜRGEN NENDZA

DAS FAHRWASSER haben sie umgesteckt,
die Birkenstämme. Jetzt schwimmen Atemzüge

bis Buise, unterspülen Wachphasen
auf dem Promenadendeck. Sommerfrische

logiert in Badefeldern, eingefriedet,
mit dem Rücken zum Meer. Du weißt,

die Rettungswege sind freizuhalten,
Rebeckchen Mayer und Herr Levy

durften bleiben. Die Luft ist feucht.
Gleich kommt die Sonne zum Vorschein,

weckt weitere Jahre, die anlegen im Wind und
nirgends das Feste und Ganze. Die Strömung

verschiebt den Küstenverlauf. An deinem Kinn
entsteht der vollkommene Raum eines Tropfens.

 

In einem Rückblick

auf seine Kindheit auf den Ostfriesischen Inseln hat einmal der Philosoph Karl Jaspers das Meer als selbstverständlichen Grund des Lebens und als „anschauliche Gegenwart des Unendlichen“ beschrieben: „Immer ist alles in Bewegung, nirgends das Feste und das Ganze in der doch fühlbaren unendlichen Ordnung.“ Auch für den in Aachen lebenden Lyriker Jürgen Nendza (geb. 1957) sind das Meer und die von ihm geliebten Nordseeinseln Lebenselixier und poetischer Motivgrund. Viele seiner Gedichte, die sich in mikroskopischer Beobachtung der Naturdinge üben und dabei stets Naturstoff und Geschichtsstoff in poetischer Engführung verknüpfen, sind „aus Wasser und Luft“ gewebt, wie es im Gedicht „Kontaktflächen“ heißt. Sein jüngster Gedichtband Picknick eröffnet ein Zyklus über die Geschichte der Insel Norderney, die eine lange Tradition als Badeort für jüdische Urlauber hatte, die bis 1933 auch der grassierende Antisemitismus nicht beschädigen konnte. Nendza zitiert die emphatische Liebeserklärung von Jaspers, die auch als poetologische Formel für sein eigenes Schreiben zu lesen ist („nirgends das Feste und Ganze“), das die evozierten Einzelheiten stets in einen poetischen Schwebezustand bringt. Er markiert auch die Folgen der wachsenden Judenfeindschaft auf den Nordseeinseln, die sich in primitiven antisemitischen Liedern manifestierte. Die jüdischen Namen Rebecca und Levy wurden schon in der Weimarer Republik zum Anlass von Spottgesängen: „Rebeckchen Mayer und Herr Levy / Kehrt schnell nach Norderney nach Haus! / Allhier auf Borkums grüner Insel / Blüht euch kein Glück, Ihr müßt hinaus.“ In seine dicht verfugten zweizeiligen Strophen hat Nendza auch die geologischen Veränderungsprozesse der Insel eingeschrieben: Norderney ging einst hervor aus dem Untergang der erwähnten Insel Buise, die nach einer mittelalterlichen Sturmflut in zwei Teile zerbrach.

Michael Braun, Volltext, Heft 3, 2017

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