Michael Braun: Zu Karin Fellners Gedicht „Eine Zeitfalte weiter“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Karin Fellners Gedicht „Eine Zeitfalte weiter“ aus Anja Bayer/Daniela Seel (Hrsg.): All dies hier, Majestät, ist deins. Lyrik im Anthropozän. –

 

 

 

 

KARIN FELLNER

Eine Zeitfalte weiter

Steppe, gesteppte Gräser, so weit das Auge reicht
Spelzen, Spreiten, Knochen und Fellträger im Marsch
Witterung, ein Wogen, das mürbe Auf und Ab
von Herden, Grannen, Blut
und ein Schock Ameisen
auf der verblichenen Schulter
eines Gnus – das bist du.

Gnu also du – durch Gras, mit deinen Nüstern zitterst
vorwärts und all die Verwandten, Schwaden
summende Schwaden, um eure Krummbuckel. Dir
entsteht ein Kehllaut, roh, andre folgen nach
langgliedrig, rottönig, auf Trockenerde die Spur
im Zischen der Halme. Still.
Jetzt hebst du einen Huf.
Jetzt drückst du ihn in dies Ufer.

 

Wir werden Zeuge einer langen Wanderbewegung,

durch Landschaftszonen mit Grasbewuchs, einer Bewegung von Herden durch eine Steppe oder eine Savanne, in der Art von „The Great Migration“, wie sie Antilopen und Gnus in der afrikanischen Savanne über Hunderte von Kilometern vollziehen. Das Gedicht der Münchner Lyrikerin Karin Fellner (geb. 1970) ist ganz aus dem Stoff der Naturgeschichte gewebt, aus einer Kombination geografischer, geologischer und botanischer Bezeichnungen konturiert sich das Poetische, das hier um Prozesse der Evolution zu kreisen scheint. Der Begriff der „Zeitfalte“ verweist auf fundamentale Entwicklungen in der Erdgeschichte, auf die Metamorphosen des kreatürlichen Lebens lange vor dem Auftritt des homo sapiens. Das Gnu, das Huftier, wird hier mit dem Ich identifiziert, eine in der Gegenwartslyrik eher ungewöhnliche Rollenmaske für ein lyrisches Subjekt. Als Schlüsselgedicht der Anthologie Lyrik im Anthropozän (Berlin, Kookbooks 2016) erzählt uns dieses Gedicht von dem langen unruhigen Weg der Kreatur und des Menschen zu sich selbst – bis hin zur Entstehung der Sprache („Dir entsteht ein Kehllaut“) und des Bewusstseins. Den Begriff „Anthropozän“ hatte um das Jahr 2000 ein Atmosphärenforscher und Chemiker erfunden, blitzschnell folgten ihm Interpretationen des „Anthropozäns“ als „kulturellem Konzept“. Gegenüber den spekulativen Theorem des „Anthropozäns“ bewahrt sich das Gedicht von Karin Fellner einen unschätzbaren Vorteil: Es ist ganz aus sinnlichen Details gefügt, aus lauter kleinen Wörterentzündungen, die sich zu einem vibrierenden Text über die Rätsel unserer Evolution gruppieren.

Michael Braun, Volltext, Heft 4/2016

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