Michael Braun: Zu Lutz Seilers Gedicht „ich hab dem vogel stimmen nachgesagt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Lutz Seilers Gedicht „ich hab dem vogel stimmen nachgesagt“ aus Lutz Seiler: „Prometheus als Kind. Gedichte“. In: Sinn und Form, Heft 5/2020. 

 

 

 

 

LUTZ SEILER

ich hab dem vogel stimmen nachgesagt

ich hab dem vogel stimmen nachgesagt
in sprachen, die es kaum noch gab.
ich hab dem knochenausschuß vorgetanzt
ich hatte keinen blassen.

ich war ein maurer, nicht zum spaß
(„ein guter estrich sandet nicht“) & so
mißlang mir auch das.

Ich übte das köderköcheln im dunkel –
die grundredensarten, die sprachgliedmaßen, ich
las, so wurde ich besser, wurde ich blaß; ich war

ein insekt, der droste nahestehend, ja: „ich hab
auch die vokale hier ins feld
geführt, viel edler rüdiger“, ich war

ein held voll aventure, „doch
nun sagt an, herr lutz, für wen?“ „für dich, allein
für dich, mein unersättliches poem“

 

In der sehr berechtigten Begeisterung

über Lutz Seilers preisgekrönten Geschichts- und Liebesroman Stern 111 wurde ein zentrales Element dieses elegischen Meisterwerks übersehen: die innige, fast religiöse Metaphysik, die den Erzähler mit seinen Werkzeugen verbindet. Carl Bischoff, der Held des Romans, agiert als Mystiker der handwerklichen Tätigkeit: sei es als Techniker oder Lenker der geliebten „Shiguli“-Limousine oder als Maurer bei der Einrichtung der Underground-Kneipe „Assel“. Ohne Respekt vor dem Handwerk gibt es keinen Weg zum Dichtertum. Auch in Seilers neuen Gedichten führt das lyrische Subjekt eine Doppelexistenz – als Maurer und als Dichter. So wird auch im vorliegenden Gedicht die literarische Sozialisation des jungen Maurers zum Dichter suggestiv, in meist jambischer Taktung, nachvollzogen: die Evokation des Wegs von der poetischen Mimesis der Dichterstimmen („ich hab dem vogel stimmen nachgesagt“) bis zur Einübung der poetischen Rhythmen, dem in der Prosa beschriebenen „andächtigen Tätigsein“ mit Beschäftigungen wie dem „köderköcheln“ – und der Anverwandlung einer historischen Rolle. Die Erlangung der poetischen Stimme kann sich nur über Verwandlungen und über den Gebrauch von lyrischen Echos und Rollenmasken vollziehen; Echos wie das Nibelungenlied („viel edler rüdiger“) oder Annette von Droste-Hülshoffs Naturmystik. Die Erfahrung des dichterischen Handwerks wird stets parallel gesetzt zu den Fähigkeiten des physisch arbeitenden Maurers. Der „held voll aventure“ – er wird als Größenfantasie erträumt und auch selbstironisch reflektiert. Auch die Huldigung an „mein unersättliches poem“ ist nur noch als ironische Reminiszenz zu haben.

Michael Braun, Volltext, Heft 3, 2020

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00