Michael Braun: Zu Marcus Roloffs Gedicht „ich, wir, die, sie“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Marcus Roloffs Gedicht „ich, wir, die, sie“ aus Marcus Roloff: Gespräch mit dem Horizont.

 

 

 

 

MARCUS ROLOFF

ich, wir, die, sie

zwei schädel betrachten ihre ins zimmer eintretende
mutter, die, wer weiß das schon, jemand anderes ist,
war und sein wird, jedenfalls scheint der anblick
wenig erfreulich, eher auf ewig zu sein, sie da rechts
vom bild aus gesehen kneift die augen vor etwas un-
scharfem zu, während er auf verheißung wartet, die
eingefroren in ein kubisches außerhalb naht, wer
kann das jetzt noch wissen, er kaum, aber sie sieht
aus, als wüsste sie was von der wirkung weltlicher
wärme, als ob das helfen würde angesichts des
urteils, das jeden augenblick über beide gefällt wird

(zu Erich Heckel, Geschwister, 1911)

 

Das Bild zeigt uns

ein Geschwisterpaar in enger Verbundenheit. Die junge Frau hat den Kopf auf die linke Hand gestützt, der Bruder mit einem gewaltigen Kopf hat sich dicht an seine Schwester gedrängt und schaut mit großen Augen nach rechts aus dem Bild heraus. Es ist offenbar ein unerwarteter Augenzeuge aufgetaucht. Vielleicht hat gerade jemand die Tür geöffnet und die Geschwister sind erschrocken, als wäre zuvor etwas Verbotenes geschehen. So hat der Expressionist Erich Heckel 1911 die Geschwister gemalt, zwei Jahre später entwirft er in zwei Holzschnitten ähnlich prekäre Geschwisterbeziehungen. Der Frankfurter Dichter Marcus Roloff nimmt das zum Anlass einer Bildmeditation, die fast beiläufig im Parlando-Ton vorgetragen wird, uns aber in die Tiefe des Kunstwerks führt. Ausgangspunkt dieser poetischen Neukonstellierung der Geschwister war eine von Roloff 2015 gemeinsam mit dem Dichter Alexandru Bulucz verfasste Bild-Erkundung, die Heckels Gemälde mit einer Inzest-Fantasie auflud. Im vorliegenden, gegenüber der Urfassung stark veränderten Gedicht werden die dargestellten Figuren zunächst einmal durch die kühle Reihung der Personalpronomina im Titel aus der Distanz betrachtet. Die Verbindung zwischen den Geschwistern wird offengehalten, ein Ausloten von Nähe und Ferne. Roloff überschreibt das Bild durch Hinzufügung der Mutter-Figur, jener Vorgang, den die Psychoanalyse „Triangulierung“ nennt:

zwei schädel betrachten ihre ins zimmer eintretende
mutter

Roloff konzentriert sich auf den Blick der Geschwister, die – noch zögernd – eine „Verheißung“ erwarten. Aber es naht etwas Bedrohliches, in dem hier aufgerufenen „kubischen außerhalb“. In den Schlusszeilen wandelt sich die Erwartung in eine Angstfantasie. Denn es wird hier – komplementär zur fast zeitgleich entstandenen Erzählung Kafkas – ein Urteil erwartet. Ein Urteil, das – daran besteht am Ende kein Zweifel – das Weltgebäude der Geschwister zum Einsturz bringen wird.

Michael Braun, Volltext, Heft 1, 2021

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