Michael Braun: Zu Michelle Steinbecks Gedicht „In libyen köpfen sie täglich hunderte…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Michelle Steinbecks Gedicht „In libyen köpfen sie täglich hunderte…“ aus Michelle Steinbeck: Eingesperrte Vögel singen mehr. –

 

 

 

 

MICHELLE STEINBECK

In libyen köpfen sie täglich hunderte
sie peitschen männer die rauchen und musik hören und kreuzigen sie

sowas kommt morgens im radio
zum mittag hatten wir erbsensuppe und pide und cola

dann ein wurmnest zerhackt beim schaufeln für neues gemüse
die amsel hat es schon entdeckt und vorportionierte regenwürmer landen

in den fiepsenden schnäbeln der jungen
es ist heiss und ich will den rhein runtergondeln

 

Es ist schon eine Weile her,

fast ein halbes Jahrhundert, dass die Lyrik der „Neuen Subjektivität“ ihre Autoren auf die „Unmittelbarkeit der gesprochenen Sprache“ und auf den „Glanz des einfachen, direkten Ausdrucks“ (Jürgen Theobaldy) eingeschworen hat. Dieses Programm der mündlichen Direktheit und lässigen Beiläufigkeit haben die seither dominierenden Dichterschulen längst wieder verworfen. Die Gedichte der Erzählerin und Lyrikerin Michelle Steinbeck (geb. 1990) generieren nun wieder eine poetische Tabula-rasa-Situation. Was Steinbeck in ihren Gedichten wie zufällig zusammenfügt, sind Redegesten des Alltags, lässig dahingeworfene Sentenzen, die sich keinerlei Formgesetzen zu unterwerfen scheinen. Hier wird das Unspektakuläre der alltäglichen Erfahrung ausgestellt – freilich mit einem konsequent bösen Blick. Man hört Radio, die Berichte von Gräueltaten haben ihren Schockcharakter im Zeitalter der beschleunigten Nachrichtenverbreitung vollständig eingebüßt. Die Schrecken des Terrors werden ungerührt zur Kenntnis genommen, der banale Alltag mit all seinen Ritualen wird fortgesetzt. Das registrierende Ich bleibt unerschüttert von den Torturen, von denen hier in kalter Sachlichkeit berichtet wird. Die provokative Gleichgültigkeit des lyrischen Ich ist hier Kalkül; die grausame Folterung von Menschen korrespondiert mit der zufälligen Zerstückelung von Regenwürmern bei der Gartenarbeit. Diese poetische Drastik bei gleichzeitiger Abweisung von jedwedem Formanspruch ist die lyrische Strategie der jungen Schweizerin Michelle Steinbeck. Eine Strategie, die nicht in allen Gedichten überzeugt, aber im vorliegenden Text eine lakonische Prägnanz besitzt.

Michael Braun, Volltext, Heft 4, 2018

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