Michael Braun: Zu Sonja Petris Gedicht „Amelia Earhart will…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Sonja Petris Gedicht „Amelia Earhart will…“ aus Matthias Kniep und Nadja Küchenmeister (Hrsg.): Jahrbuch der Lyrik 2022. –

 

 

 

 

SONJA PETRI

Amelia Earhart will
keinen Pfannkuchen backen,
weil sie über dem Meer ist,
und was Besseres zu tun hat.

 

Das aktuelle Lyrik-Jahrbuch 2022

hat in der Nachbemerkung des Herausgebers Matthias Kniep eine kleine Preziose versteckt, ein bemerkenswertes Dokument lyrischer Verblüffungskunst. Verfasst hat den Vierzeiler die jüngste Lyrikerin aller existierenden Jahrbücher, Sonja Petri, Jahrgang 2014. Die trockene Lakonie des Gedichts, das alle Vorzüge des Epigramms und der japanischen Lyrik-Kurzformen in sich vereinigt, verlockt zu Nachforschungen. Und nach kurzer Zeit hat man sich die Protagonistin des Gedichts ergoogelt, die amerikanische Frauenrechtlerin und Flugpionierin Amelia Earhart, die als erste Frau in einem Non-Stop-Flug den Atlantik überquerte. Bei ihrem wagemutigsten Abenteuer, dem Versuch, als erster Mensch in einem Flugzeug den Äquator zu umrunden, verschwand sie 1940 nahe der winzigen Howlandinsel im Pazifik, auf der sie einen letzten Zwischenstopp einlegen wollte. Wie kommt die siebenjährige Sonja Petri dazu, diese Flugpionierin zum Gegenstand eines Gedichts zu machen? Die Schlüsselrolle spielt dabei wohl ein herrliches Gedicht des amerikanischen Post-Beat-Dichters Richard Brautigan: „Der Amelia Earhart Pfannkuchen“, das Günter Ohnemus übersetzt hat:

Ich kann einfach kein Gedicht finden
für diesen Titel. Ich hab jahrelang
nach einem gesucht, und jetzt geb ich
auf.
3. November 1970.

Der wörterbesessene Dichter Arne Rautenberg hat dem Brautigan-Gedicht und seinen „zen-haften Erleuchtungsmomenten“ zwei fabelhafte Kommentare gewidmet, einer davon erschien im November 2021 in der Frankfurter Anthologie der FAZ. Brautigan hatte etliche Gedichte verfasst, die nur aus ihrem Titel bestehen, und damit einen Raum geöffnet, der uns zum Nachgrübeln und Weiterdenken und Weiterschreiben animiert. So wie offenkundig dann Sonja Petri, die Brautigans Gedicht nach einem halben Jahrhundert weitergeschrieben hat.

Michael Braun, Volltext, Heft 2, 2022

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