Michael Braun: Zu Tom Pohlmanns Gedicht „Ferndampf, Wetterseite“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Tom Pohlmanns Gedicht „Ferndampf, Wetterseite“ aus Tom Pohlmann: Metropolitan Transfer. –

 

 

 

 

TOM POHLMANN

Ferndampf, Wetterseite

Den Schornsteinfeger
hat seit zwanzig Jahren keiner mehr
gesehen, schon das Nachfragen
löst ein Schulterzucken aus,
dem die seltsame Vorstellung folgt,
er ginge unter einer Tarnkappe
über die Dächer zu den Eisenleitern
an den Essenköpfen

oder prüft ihre Festigkeit
nachts, während und wenn wir schlafen
und träumen, um anderntags traumlos
weiterzuleben. Dass es nicht
hineinregnet, bei schlechtem Wetter,
wurden, der Logik nach,
die Abzüge der ungenutzten Kamine
überdacht mit Aluminium

Blech. Das, im Abstand
von zehn Zentimetern etwa, gesehen
zur oberen Kante des Rauchfangs,
inzwischen zu jedem Schornstein
gehört. Bei gutem Wetter
sitzen darauf gelegentlich Elstern
in der Sonne, manchmal zu zweit,
seltener eine Ringeltaube.

 

Man muss weit zurückblättern in der Lyrikgeschichte,

wahrscheinlich bis zum Berliner Malerpoeten und passionierten Kneipengänger Günter Bruno Fuchs (1928–1977), um Gedichte zu finden, die einen Schornsteinfeger zum Protagonisten erheben. Der Dichter Tom Pohlmann (Jg. 1962), ein literarischer Einzelgänger, der den hyperventilierenden Literaturbetrieb nur aus der Ferne beobachtet, hat den Schornsteinfeger in die Gegenwart zurückgeholt. Tom Pohlmann ist ein Leipziger Urgewächs und schwarzer Phantastiker, der wie Wolfgang Hilbig, mit dem er befreundet war, in der finsteren Lebenswelt der Braunkohlenreviere aufwuchs und ganz andere Erfahrungen vorzuweisen hat als seine gut vernetzten Dichterkollegen in den Metropolen. Als junger Mann trieb sich Pohlmann in der ostdeutschen Hippie-Szene herum, 1987 wurde er vom Pädagogikstudium relegiert und musste sich jahrelang als Hilfsarbeiter mit diversen Jobs durchschlagen. In den 1990er-Jahren begann er eine Ausbildung als Mediengestalter und arbeitete als Cutter für eine Medienfirma im Harz, 1998 schloss er ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig ab. 1996 erschien im mittlerweile längst verblichenen Rospo Verlag in Hamburg sein Lyrik-Debüt Solo bei Volxmond, 2008 folgte Die Geschwindigkeit der Formeln im Plöttner Verlag. Pohlmann hat sein poetisches Sensorium an den sinnlichen Wahrnehmungs-Kunststücken seiner Vorbilder Rolf Dieter Brinkmann und William Carlos Williams geschärft. Seine Beobachtungskunst geht von Williams’ Konzept „glimpses“ aus, der „raschen und flüchtigen Einblicke wie aus den Augenwinkeln“, die eine Alltagsszene verwandeln und einer Person oder einem Gegenstand zu strahlender Präsenz verhelfen. In fast beiläufiger Sachlichkeit registriert das lyrische Subjekt in „Ferndampf, Wetterseite“ die technischen Details und Apparaturen rund um den Schornstein eines Hauses, während der zentrale Akteur, der Schornsteinfeger, eher als phantastisches Wesen und Schutzgeist erscheint, der die Hausbewohner durch die Träume begleitet. Eine scheinbar unspektakuläre Szene, die sich hier als Epiphanie erweist, als kleine Offenbarung eines Augenblicks, der aus den Routinen der Alltäglichkeit herausführt. In der ihm eigenen Verhaltenheit fügt Pohlmann seinem Bild noch eine diskrete romantische Pointe hinzu, wenn in den Schlusszeilen Vögel den Schornstein besiedeln.

Michael Braun, Volltext, Heft 1, 2022

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