Michael Braun: Zu Ulrike Draesners Gedicht „schnabelheim“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ulrike Draesners Gedicht „schnabelheim“ aus Ulrike Draesner: hell & hörig. –

 

 

 

 

ULRIKE DRAESNER

schnabelheim

hackt den küken nie
die augen aus sich die milchfarbene
brust auf, schnäbelnde pelikänin
überm gebrüt einbrechender schützenraum
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaheute ist
die muttersprache in den meisten
vamilien überflüssig, „s werd scho“
„s schert mi an feuchten“, undsofort
geflunschter schnabel schreit sich rot die
verzogene milchperle der untern vater als
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaplastikente
gestopften pelikänin maulversiegt
mit verdämmernden augen im
angstgeflößten gitterbett:
der rest, blutfeder kind
nacht um nacht die
nacht hinab-
geflößt

 

Die Erfahrung des Zur-Welt-Kommens,

verbunden oft mit Fantasien des Gebärens und des Spracherwerbs, ist die große imaginative Urszene im Werk der Dichterin Ulrike Draesner. In ihrer bilanzierenden Auswahlsammlung hell & hörig (2022), die Gedichte aus 25 Jahren sichtet und neu gruppiert, gehören Bilder von Schöpfungsprozessen und Szenarien von Mutter-Kind-Beziehungen zu den zentralen Topoi. Bereits ihr Debüt gedächtnisschleifen (1995) verklammerte die Motive von Sprach- und Weltzeugung, etwa im Gedicht über die „schnäbelnde Pelikänin“. Später kamen weitere Erkundungen des Verhältnisses von Körper und Sprache hinzu, lustvoll-spielerische Auslotungen des kindlichen Sprachenlernens und Versuche, eine Mimesis der Sprache der Vögel zu entwerfen (Subsong, 2014). Das Gedicht „schnabelheim“, das in ihrem Debütband publiziert und auch in hell & hörig aufgenommen wurde, knüpft an zwei wirkmächtige Mythen an. Die Pelikanmutter pickt sich nach antiker Vorstellung die Brust blutig, um mit dem Blut ihre Jungen zu füttern. Damit ist sie zugleich Bestandteil der christlichen Ikonografie. Denn der Pelikan gilt auch als Bild Christi, der die Menschen mit seinem Blut erlöst. Aus einem Schutzraum für die Nachkommen ist im Gedicht jedoch ein kriegerisch konnotierter „schützenraum“ geworden, und auch die Erlösungsverheißung der „schnäbelnden Pelikänin“ ist gewaltsam entzaubert worden. Die Pelikänin ist nur noch als Plastikente „untern vater gestopft“, ihr ist auch der Schnabel gestopft, sie ist „maulversiegt“. Ulrike Draesners Gedicht ist auch als Kontrafaktur auf Thomas Klings „kopfständerleine“ (im Gedichtband nacht.sicht.gerät, 1993) zu lesen, in dem die „schnäbelnde pelikänin“ ebenso die Protagonistin ist. Bei Kling öffnet sich die Pelikänin die Brust, „ihre brut zu (flößn): DAS FLOSS IST IN DER FLÖSSER SPRACHE WEIBLICHEN GESCHLECHTS.“ Das „Flößen“ ist bei Ulrike Draesner dagegen explizit mit der Angst verbunden, im Gitterbett, einem Ort des Eingesperrtseins, ist das Kind, die Brut, zur „blutfeder“ geschrumpft. Mit einem Bild aus Schrecken und Schmerz endet hier die poetische Nocturne um die Pelikänin.

Michael Braun, Volltext, Heft 1, 2022

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00