Michael Braun: Zu Yevgeniy Breygers Gedicht „Noch fünf Tage (I)“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Yevgeniy Breygers Gedicht „Noch fünf Tage (I)“ aus Yevgeniy Breyger: Gestohlene Luft. 

 

 

 

 

YEVGENIY BREYGER

Noch fünf Tage (I)

es war der mai, an dem das innere nach außen drängte.
ein grüner panzerkäfer rief mich namentlich,
ich kannte meinen namen nicht.
saß blöd im schlauchboot, trieb zu mutter.

das meer in meinem hemd blieb schwarz.
und ich? wie mutter längst
von faulheit überwachsen, hastig,
biss käferbeinchen ab beim wandern.

das schlauchboot war mein alter ego kleines mädchen,
mehr zahnlücke als zopf und magenblind.
schon damals immer noch ein kind war ich
und wusch aus bosheit bloß die andern.

 

In einer Erzählung

des argentinischen Phantastikers Jorge Luis Borges gelangt ein grauer, schweigsamer Mann mithilfe eines Bambuskanus ans Ufer eines ungenannt bleibenden Lands, um dort in den „kreisförmigen Ruinen“ eines Tempels ein „magisches Vorhaben“ umzusetzen: Er will einen Menschen „bis in die kleinste Einzelheit“ erträumen, kraft seiner halluzinatorischen Fähigkeiten. Die Figuren, die der in der Ostukraine geborene und in Frankfurt lebende Lyriker Yevgeniy Breyger in den Gedichten seines zweiten Lyrikbands Gestohlene Luft auf Erkenntnis-Reise schickt, gleichen diesem phantasmagorisch die Schöpfung und die Welt erkundenden Träumer von Borges. Sie durchqueren ein Universum, in dem immer wieder Konstellationen des Geborenwerdens und Zur-Welt-Kommens ausgeleuchtet und Urszenen der Kindheit mit Evidenzen sinnlicher Erfahrung verknüpft werden. Die Gestalt der Mutter ist ein Zentralmotiv in diesem Band, und sie taucht bereits im vierteiligen Eröffnungsgedicht „Noch fünf Tage“ auf. Das lyrische Ich, das hier seinen Prozess der Verwandlung annonciert, imaginiert die symbiotische Verbindung mit der Mutter, gleichsam eine Uterus-Fantasie, markiert als Bewegung des Ich im „Schlauchboot“ durch ein nicht näher bestimmtes Gewässer. In dieser uteralen Zone bewegt sich das Ich auch später, wenn im Zyklus „Königreiche“ die Frage gestellt wird, die für alle sechs Abteilungen prägend ist: „Wo warst du bei deiner Geburt?“ In den sechs Zyklen des Bandes führt uns Breygers träumender Protagonist durch solche pränatalen Bezirke, und zwar in unterschiedlichsten Stilhaltungen. Mal sind es – wie im vorliegenden Gedicht – suggestiv rhythmisierte, jambische Verse, auf drei Strophen aufgeteilte Zwölfzeiler, in anderen Zyklen dann sind es aphoristisch zugespitzte, zwischen dem Erhabenen und dem Trivialmythischen virtuos balancierende Zeilen, die wie ein Mobile miteinander verknüpft sind. Die Gedichte mit ihren Geburtsmotiven werden von geometrischen Figurationen Andreas Töpfers flankiert, die von kantigen Formen (bei den „Königreichen“) ausgehen und dann immer mehr in runde, ovale und bauchige Formen übergehen.

Michael Braun, Volltext, Heft 4, 2020

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