Michael Hamburger: Wahrheit und Poesie

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Michael Hamburger: Wahrheit und Poesie

Hamburger-Wahrheit und Poesie

KINDLICHE UTOPIE UND BRUTALE FATA MORGANA

Henri Peyre gab 1951 eine knapp gefaßte Überschau über das, was nach seiner Meinung die bemerkenswerteren Beiträge zur Baudelaireforschung waren. Selbst damals, vor der Hundertjahrfeier des Erscheinens von Les Fleurs du mal im Jahr 1957 und vor der hundertsten Wiederkehr von Baudelaires Todestag im Jahr 1967, fühlte sich Peyre verpflichtet, etwa 350 Bücher und Artikel in seinen Überblick aufzunehmen. Die Bedeutung Baudelaires kann also als gesichert gelten – sowohl seine Bedeutung als Vater der modernen Poesie – „le premier voyant, roi des poètes, un vrai Dieu“1 („Der oberste der Seher, König der Poeten, ein wahrer Gott.“), um Rimbauds Apotheose zu zitieren – als auch seine Bedeutung als Prototyp des modernen Dichters, dessen Sehvermögen durch den hohen Grad von kritischer Beobachtung seiner selbst zugleich geschärft und begrenzt wird. „Mit Baudelaire“, schrieb Paul Valéry, „ist die französische Lyrik endlich über ihre nationale Begrenztheit hinausgewachsen. Sie hat überall Leser gefunden; sie hat sich als die eigentliche Dichtung der modernen Zeit durchgesetzt.“2 Baudelaire gelang es auch als letztem Autor, einen Gedichtband zu schreiben, der ein internationaler best-seller werden sollte.3 Daß sich dieser Erfolg erst nach seinem Tod einstellte, ist für die Literaturgeschichte ebenso bedeutungsvoll wie für Baudelaires Leben, für das unsägliche Leiden dieses Lebens und für seine besondere Art von Heroismus. Als einem kinderlosen Mann, den die Zukunft wenig interessierte, konnte Baudelaire die Aussicht auf einen nachträglichen Erfolg keinen Trost bedeuten. Für die Nachgeborenen schreiben hieß soviel wie für die Toten schreiben. Baudelaires Heroismus, den er zeitweise mit seinem Kult des Dandy verband – „des Mannes, der nie aus sich herauskommt“ –, war ein Heldentum der bewußten Selbstisolation. Er konnte mit absoluter Aufrichtigkeit sagen, er „würde sich damit zufriedengeben, nur für die Toten zu schreiben“.4
Der Riesenumfang der kritischen und biographischen Literatur über Baudelaire weist auf eine andere Entwicklung hin, die in besonderem Maß für die Situation der Dichter, die nach ihm kamen, Bedeutung erlangen sollte: ich meine das Mißverhältnis zwischen der Nachfrage nach der Lyrik selbst und der Nachfrage nach Literatur über Lyrik. Ganz wenige ernste Lyriker seit Baudelaire – wenn überhaupt einer – haben von ihren Werken leben können; aber tausend Leute, einschließlich der Dichter selber, haben damit, daß sie über Lyrik schrieben oder sprachen, ihren Lebensunterhalt verdient. Diese Anomalie – sie hat viele Parallelen in einer Wirtschaftsentwicklung, die ebenfalls zu einer ständigen Vermehrung der Zwischenhändler in allen Industrie- und Handelszweigen geführt hat – hatte nicht nur bewußte oder unbewußte Reaktionen zur Folge, die sich im politischen Engagement einiger bedeutender moderner Dichter niedergeschlagen haben, sondern der Einfluß reicht bis in die Substanz des dichterischen Werkes hinein. Ezra Pounds national-ökonomische Theorien ebenso wie lange Passagen in seinen Cantos sind ein sinnfälliges Beispiel; Bertolt Brechts Kommunismus und seine Versuche, eine funktionale Dichtung für den Mann auf der Straße herzustellen, sind ein weiteres. Auch dafür war Baudelaire der Prototyp, nicht zuletzt deshalb, weil er zwischen einer aristokratischen und einer revolutionären Haltung hin und her schwankte, sicher allein in seiner verbitterten Ablehnung der bürgerlichen und kapitalistischen Ordnung, die keinen Platz für ihn hatte. Mehr als irgendein anderer Dichter seiner Zeit war Baudelaire von dem Bewußtsein durchdrungen, daß er in einer Zivilisation lebte, in der die Waren die Dinge abgelöst hatten und die Preise die Werte; und auch überall dort, wo spätere Dichter ihre Aufmerksamkeit auf Wirtschaftsprobleme richteten, kreisten ja ihre Gedanken vorwiegend um eine Theorie der Werte. Das gilt für Pound so gut wie für Brecht, für T.S. Eliot ebenso wie für William Carlos Williams.
Baudelaires Dilemma ist unter nahezu jedem möglichen Blickwinkel untersucht und durchforscht worden – ästhetisch, soziologisch, psychologisch, existentialistisch, politisch und theologisch. Von all den einander widersprechenden Urteilen über sein Werk – angefangen mit Victor Hugos Übertragung seines eigenen Glaubenssatzes von der „Kunst um des Fortschrittes willen“, auf Baudelaire; über Sainte-Beuves Rat an ihn, „seinen Engel zu kultivieren“ und „sich gehen zu lassen“, und Barbey d’Aurevillys Beschreibung Baudelaires als „un de ces matérialistes raffinés et ambitieux“, die unfähig seien, sich irgendeine andere als eine materielle Vollkommenheit vorzustellen; bis hin zu der jeder logischen Begründung entbehrenden Warnung, „nach den Fleurs du mal bleibt dem Dichter, der sie hat erblühen lassen, nur eine Alternative: sich eine Kugel in den Kopf zu schießen oder ein Christ zu werden“ – brauchen nur ganz wenige hier berücksichtigt zu werden. Fast vom ersten Tag an ist Baudelaire als progressiv und reaktionär, originell und banal, klassisch und modern, als Christ, Satanist und Materialist, als vollendeter handwerklicher Könner und schlechter Schriftsteller, als rigoroser Moralist und als ein Mann bezeichnet worden, der zur Aufrichtigkeit unfähig war.5 Die meisten grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten über Baudelaires Einstellungen und Absichten gehen auf seine eigenen Widersprüche und Inkonsequenzen zurück; und er war sich dieser Widersprüche immerhin soweit bewußt, daß er für ein Recht plädierte „an dem jedermann interessiert ist – das Recht, sich widersprechen zu dürfen“. Die Wahrheit, die in Baudelaires Werk beschlossen liegt, kann man nicht aus diesem oder jenem Bekenntnis, dieser oder jener apodiktischen Verszeile herauslesen, sondern allein aus den Spannungen, für die seine widersprüchlichen Äußerungen den sichersten Schlüssel abgeben.

Einer der Gründe dafür, daß Baudelaire eine so faszinierende Erscheinung geblieben ist – obgleich nicht weniges in seinem Werk die Fähigkeit eingebüßt hat, uns jenen „frisson nouveau“ zu geben, den Victor Hugo empfand, als er die Fleurs du mal las –, ist darin zu sehen, daß Baudelaire nicht nur seine Gedichte, sondern auch sein Dilemma auf Generationen späterer Dichter und Kritiker vererbt hat. Jean-Paul Sartres „existentielle Psychoanalyse“ Baudelaires,6 die das, was man über das Leben dieses Dichters weiß, dazu benützt nachzuweisen, daß „der Mensch immer die Art von Leben bekommt, die er verdient“, ist eine von den – nicht ganz seltenen – Studien über Baudelaire, die sich mehr mit seinem Dilemma als mit seinem Werk befassen. In dieser Schrift wird Baudelaires „negative capability“ (wie John Keats die Fähigkeit des Dichters nannte, im Ungewissen, Unentschiedenen verharren zu können) eine exemplarische Bedeutung zugesprochen – nicht zuletzt deshalb, weil seine außergewöhnliche Neigung zur Selbstbeobachtung Baudelaire dazu veranlaßt hat, seine Schwächen ebenso wie seinen eigenen Verdacht, er könne „noch schwächer sein als diejenigen, die er verachtete“, selbst zu dokumentieren. Tatsächlich kam Baudelaire Sartres Überzeugung, „das Menschsein sei nichts als ein Betrug“ so nahe, daß es ihm nichts ausmachte, die Art von Beweismaterial zu hinterlassen, die Sartre gegen ihn vorbringen konnte. Für Baudelaire selbst war sein existentielles Dilemma ein wirklich brennendes Problem, und manche von den Begleiterscheinungen dieses Problems – wie etwa seine Zweifel an seiner Identität als Mensch und als Dichter – werden in späteren Kapiteln dieses Buches zu besprechen sein. Was mich an diesem Punkt meiner Argumentation interessiert, sind Baudelaires Unsicherheiten und Zweifel über die Funktion der Lyrik.
Beim Studium jeder beliebigen Bewegung in der europäischen Dichtung oder jedes beliebigen einzelnen Dichters nach Baudelaire, der irgendeine wesentliche Neuerung in der Lyrik gebracht hat, stoßen wir fast unweigerlich auf Probleme, die zwar vielleicht primär nicht im Wesen der betreffenden Dichtung liegen mögen, die aber dennoch die Art unseres Zugangs bestimmen und an denen sich die Urteile der Kritiker scheiden. Der private Leser kann ihnen aus dem Weg gehen; der Literaturkritiker oder der Lehrer, der moderne Literatur zu vermitteln hat, kann es nicht. Diese Probleme lassen sich noch ein gutes Stück weiter zurückverfolgen, aber Baudelaire war der Dichter, der am Scheideweg zur Moderne als erster ihre volle Tragweite empfand und unsicher wurde, wie er weitergehen solle. Seine kritischen Schriften zeigen dasselbe bedeutungsvolle Zögern wie seine Gedichte – bedeutungsvoll deshalb, weil er die Verlockungen aller Richtungen kannte, die spätere Dichter einschlagen sollten – den jähen Rückzug nicht ausgenommen. Und ebenso zeigte es auch das Leben dieses romantisch-klassisch-symbolistischen Dichters, dieses konservativen Paria, Dandy und Sprechers der Unterwelt, dieses Einsiedlers und Massenmenschen, dieses Gotteslästerers und christlichen Apologeten. Seine Theorie ebenso wie seine Praxis offenbaren einen Konflikt zwischen zwei radikal verschiedenen, wenn nicht überhaupt unvereinbaren Ansichten über den Charakter und die Funktionen von Dichtung. Dieser Konflikt entspricht einer Krise, die nicht auf die Literatur oder Kunst beschränkt ist; in mehr oder weniger starkem Maß beeinflußt sie heute jede Tätigkeit, die mit gesellschaftlichen oder kulturellen Werten zu tun hat. Letzten Endes mag es sich dabei um die alte Frage nach dem Zweck und den Mitteln handeln; aber in einer Zeit, in der nur wenige Menschen über die letzten Zwecke menschlichen Handelns derselben Meinung sind, tendiert jede Kunstart, Wissenschaft oder handwerkliche Fähigkeit, die einstmals als ein Mittel zum Zweck galt, dazu, den Charakter und die Bedeutung eines Endzweckes anzunehmen.
Baudelaire war einer der ersten Vertreter der Doktrin, daß das Schreiben von Lyrik eine autonome und ihren Zweck in sich selbst findende Tätigkeit sei. „La poésie“, schrieb er 1859, „ne peut pas, sous peine de mort ou de déchéance, s’assimiler à la science ou à la morale; elle n’a pas la Vérité pour objet, elle n’a qu’Elle même.“7(„Die Dichtung kann sich, bei Strafe des Todes oder des Thronverlustes nicht an die Wissenschaft oder die Moral assimilieren; ihr Ziel ist nicht die Wahrheit, ihr Ziel ist einzig sie selbst.“)
Man mag mir entgegenhalten, diese Behauptung stehe in einem Essay über Gautier, den Begründer der französischen Schule des l’art pour l’art, und Baudelaire gehöre zu der Sorte von sympathetischen, einfühlsamen Kritikern, die dazu neigt, den Standpunkt des behandelten Gegenstandes anzunehmen, vor allem wenn dieser Gegenstand noch dazu ein persönlicher Freund ist. Aber Baudelaire erhob ähnliche Forderungen auch in anderen Essays. Derjenige über Barbier (1861), einen sozialistischen Dichter, dessen künstlerisch unbedeutende Verse einen gewissen Einfluß auf Baudelaire hatten, gerade wegen der Wahrheiten, die sie zum Ausdruck brachten, enthält den Aphorismus:

La poésie se suffit à elle-même. („Die Poesie ist sich selbst genug.“)

Baudelaire war freilich zugleich ein äußerster Gegner dieser Ansicht. „Le temps n’est pas loin“, hatte er 1852 geschrieben, „ou l’on comprendra que toute littérature qui se refuse à marcher fraternellement entre la science et la philosophie est une littérature homicide et suicide.“(„Die Zeit ist nicht fern, in der man einsehen wird, daß jede Literatur, die es ablehnt, brüderlich zwischen der Wissenschaft und der Philosophie zu marschieren, eine menschenmordende und selbstmörderische Literatur ist.“) Und noch einmal in demselben Jahr:

La puérile utopie de l’école de l’art pour l’art, en excluant la morale, et souvent même la passion, était nécessairement stérile. („Die kindliche Utopie des l’art pour l’art war dadurch, daß sie die Moral und oft sogar das Gefühl aussperrte, zwangsläufig zur Sterilität verurteilt.“)

Und schließlich noch eine Passage, die sich weniger wie ein literarkritisches Urteil denn wie ein intimes Bekenntnis liest, verwandt der Bemerkung Baudelaires, daß „Kunst Prostitution ist“ und daß „alle Bücher unmoralisch sind“:8

Le goût immodéré de la forme pousse à des désordres monstrueux et inconnus… La passion frénétique de l’art est un chancre qui dévore le reste; et comme l’absence nette du juste et du vrai dans l’art équivaut à l’absence de l’art, l’homme entier s’évanouit, la spécialisation excessive d’une faculté aboutit au néant.9(„Die übertriebene Wertschätzung des Formalen führt zu ungeheuren und nie dagewesenen Störungen der Ordnung… die fanatische Leidenschaft für die Kunst ist ein Krebsgeschwür, das alles andere aufzehrt; und da das völlige Fehlen des Rechten und Wahren in der Kunst gleichbedeutend mit dem Fehlen von Kunst überhaupt ist, geht dabei der ganze Mensch zugrunde; die übertriebene Spezialisierung einer einzigen Fähigkeit resultiert im Nichts.“)

Für beide Seiten dieser Debatte könnte man eine Vielzahl von anderen Sätzen aus Baudelaires Schriften heranziehen; um Baudelaire dabei Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, müßte man sie jeweils zu seinem poetischen Schaffen und zu seiner persönlichen Entwicklung in Beziehung setzen. Baudelaire wäre außerdem nicht der große Dichter und kritische Geist, der er ist, wenn er keinen Versuch unternommen hätte, diese einander entgegengesetzten Dichtungsauffassungen zu einer Synthese zu bringen. In seiner dichterischen Praxis tat er das, indem er die Bildwelt der Großstadt allegorisch einsetzte als ein Bindeglied zwischen dem Realen und dem Zeitlosen, zwischen Erscheinung und Idee; indem er eine neue Art von Realismus mit seiner Suche nach den archetypischen Urbildern verband. Ein gutes Beispiel ist der „symbolische Galgen“ in Un Voyage à Cythère, der zugleich der wirkliche Galgen ist, den Gérard de Nerval auf der – damals englischen – Insel Cerigo gesehen hat, wie er in seinem Voyage en Orient. Les Femmes du Caïre (1852) berichtet. Wie weit er von einem konsequenten Symbolismus entfernt war, wie sehr er in der rhetorischen und didaktischen Tradition der französischen Versdichtung verwurzelt blieb, kann hier nur anhand eines Gedichtes aus seiner Reifezeit, Causerie, exemplifiziert werden. In den Zeilen dieses Sonetts vergleicht er sein Herz einmal mit etwas, das die wilden Tiere gefressen haben:

Ne cherchez pas mon cœur; les bêtes l’ont mangé („Nicht suche mehr mein Herz, es ward der Tiere Raub…“)

und dann mit einem Palast, den der Mob geschändet hat:

Mon cœur est un palais flétri par la cohue („Mein Herz ist ein Palast, vom wilden Hauf geschändet…“)10

Die Diskrepanz zwischen diesen völlig verschiedenartigen Analogien, die dann die noch verbleibenden fünf Zeilen des Sextetts vergeblich aufzulösen versuchen, ist gerade deshalb so störend, weil Baudelaire kein Symbolist, sondern ein allegorischer Dichter war. Wenn „Causerie“ dennoch ein gelungenes Gedicht bleibt, so deshalb, weil Baudelaires Allegorien auch innerhalb der Grenzen einer Einzelzeile ihre Wirkung tun; und das ist wiederum auf die komprimierte Rhetorik zurückzuführen, die er von den Klassikern der lateinischen und der französischen Dichtung erlernt hatte.
Auf der theoretischen Ebene begegnen wir in seinem letzten Essay mehreren Versuchen, die beiden Anschauungen miteinander zu versöhnen. „Le beau“, schrieb er 1863, „est fait d’un élément éternel, invariable, dont la qualité est excessivement difficile à déterminer, et d’un élément relatif, circonstanciel, qui sera, si l’on veut, tour à tour ou tout ensemble, l’epoque, la mode, la morale, la passion.“11(„Das Schöne setzt sich zusammen aus einem Zeitlosen, unveränderlichen Element, dessen Wesen außerordentlich schwer zu bestimmen ist, und aus einem relativen, von den Umständen abhängigen Element, wobei die Umstände, wenn man so will, die Epoche, die Mode, die Moral oder das subjektive Gefühl sind, entweder jedes für sich oder alle zusammen.“)
Im gleichen Jahr schrieb Baudelaire seinen unseligen Brief an Swinburne, um ihm für seinen lobenden Artikel über Les Fleurs du mal zu danken; Baudelaire schreibt dort nach den Worten des Dankes:

Permettez-moi, cependant, de vous dire que vous avez poussé un peu loin ma défense. Je ne suis pas aussi moraliste que vous feignez obligeamment de le croire. Je crois simplement „comme vous sans doute“ que tout poerne, tout objer d’art bien fair suggere naturellement une morale. C’est l’affaire du lecteur. J’ai même une haine très décidée contre toute intention morale exclusive dans un poème.12(„Erlauben Sie mir aber, Ihnen zu sagen, daß Sie in meiner Verteidigung etwas zu weit gegangen sind. Ich bin kein so dezidierter Moralist, wie Sie es dankenswerterweise zu glauben vorgeben. Ich glaube einfach, – ohne Zweifel wie Sie –, daß jedes Gedicht, überhaupt jedes gut gemachte Kunstwerk, von Natur aus und zwangsläufig eine gewisse Moral nahelegt. Das ist aber die Sache des Lesers. Ich habe sogar eine sehr entschiedene Abneigung gegen jede ausschließlich moralische Absicht in einem Gedicht.“)

Die Moral eines Gedichts soll also etwas in ihm Impliziertes sein, und es besteht eine Beziehung zwischen dieser implizierten Moral und dem künstlerischen Wert eines Gedichts. Aber Baudelaire behauptet nicht, wie das spätere Dichtungstheoretiker getan haben, daß der Leser kein Recht habe, nach diesen moralischen Implikationen zu fragen. Und es gibt da natürlich auch noch den sehr anderen Ton eines späteren Briefes, eines der letzten, die Baudelaire geschrieben hat; in diesem Brief bekennt er, daß er sein ganzes Herz, seine zartesten Gedanken; seine ganze Religion – in einer maskierten Form – und all seinen Haß in dieses „schreckliche Buch“ gelegt habe.13
Es ist auch erwähnenswert, daß Baudelaire trotz seiner teilweisen Zugehörigkeit zu der l’art-pour-l’art-Schule es zu keiner Zeit seines Lebens nötig gefunden hat, eine Art von Literaturkritik zu entwickeln, die sich auf die ästhetischen und stilistischen Eigenschaften eines Gedichts konzentriert hätte. Seine kritischen Essays sind glanzvolle Beispiele für das synthetische – im Gegensatz zum analytischen – Vorgehen des Kritikers, und sie sind Hervorbringungen eines Mannes, dem die gesellschaftliche Funktion der Kunst ein ebenso großes Anliegen ist wie ihre inneren Gesetze. Als Kritiker hatte Baudelaire mehr mit Matthew Arnold gemein als mit seinem anerkannten Lehrer Poe oder mit seinem anerkannten Schüler Mallarmé.
Aber der Baudelaire, der in den Jahrzehnten nach seinem Tode Zustimmung und Beifall fand, war der Ästhet, der Dandy und der Satanist Baudelaire. Leute, die Villiers de l’Isle-Adam bewunderten, konnten sich ohne Schwierigkeit mit dem Mann identifizieren, der für folgenden bissigen Ausspruch verantwortlich zeichnet:

Wenn ein Dichter vom Staat das Recht forderte, ein paar Bourgeois in seinem Stall zu halten, wäre die Öffentlichkeit sehr erstaunt darüber; aber wenn ein Bourgeois etwas gebratenen Dichter verlangte, würden die Leute das für ganz natürlich halten.

Diese epigrammatische Äußerung hat alle Ingredienzen, die zu einem fin-de-siècle-Ästheten gehören: den Antihumanismus, die gezielte Unverschämtheit, die stillschweigende Gleichsetzung des Künstlers mit dem Aristokraten. Selbst die Moralisten fielen auf Baudelaires verschiedene Masken herein. Henry James faßte eine gängige Ansicht über Baudelaires Dichtung zusammen, als er schrieb:

Unsere Ungeduld ist von der Art, wie wir sie empfinden würden, wenn ein Dichter, der behauptet, die Blumen des Guten zu pflücken, uns als Probeexemplare auf einmal eine Rhapsodie über Pflaumenkuchen und Kölnisch Wasser anbieten wollte.14

Im Jahr 1866, kurz vor Baudelaires Tod, machte Mallarmé die Krise durch, die unter der Bezeichnung „les nuits de Tournon“ bekannt geworden ist und während der er seinen religiösen Glauben verlor. Das Resultat dieser Krise war sein Essay Le Livre, instrument spirituel und die plötzliche Erkenntnis, daß „alles in der Welt dazu da ist, in einem Buch zu kulminieren“.15 Was Baudelaire als eine „kindliche Utopie“ bezeichnet hatte, wurde nun allen Ernstes für gültig erklärt; und Baudelaire wurde, zusammen mit Poe, als der Begründer gefeiert. Man möchte dazu neigen, Mallarmés Ausspruch seiner Jugend zuzuschreiben oder der momentanen Sensation darüber, daß er einen Ersatz für den religiösen Glauben gefunden hatte; Tatsache ist aber, daß er durch sein ganzes erwachsenes Leben hindurch eine ästhetische Lehre verkündete, die ihren Ursprung in jener frühen Krise hatte. Noch 1894 stellte er in seinem Oxforder Vortrag La Musique et les lettres folgende erstaunliche Behauptung auf (wenn er sie auch selbst als eine Übertreibung kennzeichnete):

Ja, in der Tat, die Literatur existiert und, wenn Sie wollen, als das einzige – unter Ausschluß von allem anderen.

Obwohl dieser neue Kult der Literatur und Kunst von den Dichtern, Kritikern und Metaphysikern der deutschen Romantik abstammte, war er im Falle Mallarmés mit platonischen oder neu platonischen Einflüssen kombiniert. Dieselbe Vorlesung macht auch dies deutlich, so deutlich jedenfalls, wie Mallarmés wahrhaft diamantner, harter, aber reichfacettierter Prosastil irgend etwas klar machen kann.

Ich nehme es – auf die Gefahr hin, meine eigene Ästhetik damit zu gefährden – auf mich, folgende Ansicht zu verkünden: … Musik und Literatur sind mit Sicherheit die beiden Janusgesichter – das eine auf das Dunkle hingerichtet, das andere lichtumflossen – ein und desselben Phänomens, des einzigen, das es gibt – ich habe es die Idee genannt.16

Nach Mallarmé „vereinfacht die Kunst die Welt“, weil der Künstler kraft einer inneren Befindlichkeit äußere Erscheinungen auf ihre einheitlich-zentrale Uridee zurückführt.
Was Schiller „die ästhetische Erziehung des Menschen“ genannt hat, leitet sich sicherlich von Plato her; aber Plato hatte auch seine Zweifel an der Eignung der Dichter für diese Aufgabe. Der eigentliche Grund, warum die Literatur jetzt auf einmal „nach Beschaffenheit und Rang der Musik strebte“, war das unbequeme Wissen darum, daß sich das geschriebene Wort letzten Endes doch als Medium der absoluten Reinheit widersetzt, die von ihm verlangt würde. Der letztliche Sinn von Mallarmés „Vereinfachung“ ist darin zu sehen, daß die Außenwelt, die schon für Delacroix und Baudelaire nur ein dictionnaire gewesen war, ein „Bilderarsenal“, ein „Wald von Symbolen“, aus dem der Künstler sein Material auswählt, nun zu nichts anderem als einer „brutalen Fata Morgana“ geworden ist.17 Wahrend Baudelaires Allegorien dazu dienten, die Erscheinung mit der Idee zu verbinden – oder aber dem rein künstlerischen Ziel dienten, mehr als einen Sinn gleichzeitig anzusprechen durch den Gebrauch der Synästhesie –, schnitt Mallarmés Flucht in einen völlig subjektiven Symbolismus der inneren Befindlichkeit jede Verbindung zwischen dem Dichter und jener „relativen, von Umständen abhängigen“ Sphäre ab, in welcher außerkünstlerische Wertungen anwendbar sind. Im wörtlichsten Sinne war die Kunst zu einer Religion geworden, mit ihrem eigenen Dogma, ihren Künstler-Heiligen und sogar ihrer eigenen Art von Askese, die von Villiers de l’Isle-Adams Axel brillant zusammengefaßt wurde in folgendem Aphorismus, den Mallarmé sehr bewunderte:

Vivre? Les serviteurs feront cela pour nous! („Leben? Das können unsere Bedienten für uns tun.“)

Es ist also kein Wunder, daß Mallarmés Denken außerhalb des ästhetischen Bereichs tatsächlich „kindlich“ und unzutreffend war. Was könnte kindlicher und unzutreffender sein als seine Weissagung aus dem gleichen Vortrag:

Wenn es in der Zukunft in Frankreich eine Wiedergeburt der Religion geben wird, dann wird das die Erweiterung des Himmelsinstinktes [instinct de ciel] zu tausend Freuden in jedem Menschen sein?

Baudelaire hätte gelacht über eine solche „niaiserie“.
Rimbauds Reaktion war sogar noch extremer. Obwohl er Baudelaire dafür tadelte, daß er „in einem zu artistischen Milieu gelebt“ und keine neuen Formen erfunden habe, hat er doch den Meister andererseits mit den Worten, die bereits zitiert worden sind, deifiziert. Doch während Mallarmé sich in das Allerheiligste der Kunst zurückzog, half Rimbaud den nächsten Schritt vorzubereiten, nämlich die Welt durch die Kraft seiner Imagination neu zu schaffen. Wahrend Mallarmé „le mirage brutal, la cité, ses gouvernements, le code“ („… die brutale Fata Morgana, die Stadt, ihre Regierungen, das Gesetzbuch!“)  geringschätzte und sich deshalb der steten Verfeinerung seines Mediums widmen konnte, befand sich Rimbaud in aktivem Aufstand gegen Gesellschaft, Moral und sogar Gott. Daraus folgte, daß für ihn die Kunst nichts anderes sein konnte als ein bloßes Mittel zu diesem Zweck: eine Waffe der Revolte; und als Rimbaud seine geistige Niederlage in diesem größeren Kampf einsehen mußte, wurde die bloße Waffe zu etwas Wertlosem. Auf den Rohentwurf des Werkes, das den Kampf und das Unterliegen aufzeichnete, Une Saisonen enfer; schrieb er diese Worte:

Maintenant je puis dire que l’art est une sottise. („Jetzt kann ich sagen, daß die Kunst eine Dummheit ist.“)

Zusammen mit Lautréamont, dessen Chants de Maldoror beinahe zur selben Zeit entstanden wie Une Saison en enfer, wurde Rimbaud zum Vorläufer des Surrealismus und anderer experimenteller „Bewegungen“ unseres Jahrhunderts. Es lohnt sich deshalb, sich daran zu erinnern, daß Rimbaud und Lautréamont ihre eigenen Experimente als gescheitert ansahen; nicht aus künstlerischen Gründen, sondern weil sich hier ein Kreis geschlossen hatte: Wie Baudelaire vorausgesagt hatte, führte die Hypertrophie der Kunst zu ihrer Atrophie. Rimbauds Widerruf nahm die Form des Schweigens an; seine Rebellion war zu sehr mit dem ganzen Herzen erfolgt und war zu extrem gewesen, als daß sie eine so versöhnliche Halbheit wie Verlaines Sagesse zugelassen hätte. Rimbauds Verzicht auf die Literatur war ebenso total wie sein vorheriger Glaube an die Macht des geschriebenen Wortes – wobei für ihn die Macht des geschriebenen Wortes die Macht bedeutet hatte, die Welt zu verändern. Was Lautréamont betrifft, so erfolgte sein Widerruf in seinem letzten Werk, Poésies; der Schöpfer des Maldoror, dessen Suche nach einem verwandten Geist ihren Höhepunkt in der geschlechtlichen Vereinigung mit einem Hai gefunden hatte und der ausgerufen hatte: „Moi seul, contre l’humanité!“, („Ich allein, gegen die Menschheit!“) sprach sich nun für eine Rückkehr zu der „unpersönlichen Dichtung“ der klassischen Epoche aus und propagierte den moralischen Konformismus. „Das Ziel der Poesie“, schrieb er jetzt, „sollte die praktische Wahrheit sein.18
Der Kreis hatte sich geschlossen – schon 1873! Aber die Literaturgeschichte scheut sich nicht vor Selbstwiederholungen; und das ist weiter nichts Verwunderliches, da sie doch von Individuen gemacht wird, deren Strebungen und Torheiten nicht allein durch die Geschichte bestimmt werden und auch nicht nur durch die literarischen und philosophischen „Strömungen“, mit denen der Historiker notgedrungen arbeiten muß. Derselbe Kreis kreist noch immer in sich, etwas langsamer vielleicht, aber dennoch recht stetig. Mallarmés Vorlesung von 1894 zeigt keinerlei Bewußtsein der Implikationen, die für den rückschauenden Blick des Historikers so offenkundig sind. Zwei Jahre danach schrieb Hofmannsthal an Stefan George, Mallarmés Jünger in Deutschland, und bat ihn, einen österreichischen Freund zu empfangen, Graf Joseph Schönborn („aus dem böhmischen Zweig des Hauses Schönborn“), der gerade Deutschland bereiste. George antwortete entrüstet:

Sie schreiben einen satz, mein lieber freund: „er gehört völlig dem leben an, keiner kunst“, den ich fast als lästerung auffassen möchte. wer gar keiner kunst angehört darf sich der überhaupt rühmen dem leben anzugehören? wie? höchstens in halbbarbarischen zeitläuften.19

In seinem späteren Leben wurde es George nur allzu deutlich bewußt, daß er tatsächlich in einem halbbarbarischen Zeitalter lebte; und es mag ihm sogar aufgegangen sein, daß die Kluft, die er durch die Arroganz seines Briefes deutlich gemacht hatte, ein ebenso heftiges Symptom dieser Barbarei war wie nur irgendein anderes. Hofmannsthal wußte es bestimmt und gab es auf, Lyrik zu schreiben; und auch Yeats wußte es, denn er schloß die Aristokratie und die Armen in seine ideale Weltordnung genau so mit ein wie den Künstler (eine erheblich humanere Variante von Baudelaires Trias „achtbarer Wesen“: „Der Priester, der Krieger und der Dichter. Wissen, Töten und Erschaffen“).20
Der Gegenangriff des „Lebens“ blieb natürlich nicht aus. Max Nordaus Entartung erschien 1893. Tolstojs Traktat Was ist Kunst? kam 1897 und 1898 heraus. Schon 1887 hatte Tolstoj an Romain Rolland geschrieben:

An unserer gesamten heutigen Misere ist folgendes schuld: die sogenannten Gebildeten, unterstützt von den Gelehrten und Künstlern, sind eine privilegierte Kaste, wie die Geistlichkeit; und diese Kaste hat den Fehler aller Kasten. Sie erniedrigt und entehrt die Grundsätze, in deren Namen sie gebildet wurde. Was wir unsere Wissenschaft und Kunst nennen, ist nichts als ein grenzenloser Humbug, ein riesiger Aberglauben von der Art, auf die wir hereinfallen, sobald wir uns von dem Aberglauben der Kirche emanzipiert haben.21

Tolstojs Angriff auf Shakespeare folgte 1903. Keine seither getane Äußerung über Shakespeare hat Tolstojs Bezeichnung für ihn – „ein viertklassiger Künstler“, dessen „Fähigkeit zur Charakterdarstellung gleich Null war“ – übertreffen können. In Was ist Kunst? befaßte sich Tolstoj freilich mehr mit dem modernen Ästhetizismus, den er auch in der Kreuzersonate geißelte.
Tolstojs literarische Urteile waren wegen der inneren Krise durch die er um diese Zeit hindurchging – eine Krise des Selbstekels und der Selbstanklage –, und auch wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, die erst vor kurzem dem Feudalismus entwachsen war, so verzerrt, daß man sie eigentlich nur als ein Symptom für das, was kommen sollte, ernst nehmen kann. Der Vitalismus Nietzsches aber war eine viel stärkere Erschütterung für den Westen. Obwohl er auf der Seite des Ästhetizismus stand, hatte Nietzsche es unternommen, diese Lehre mit der philosophischen Situation in Europa in Beziehung zu setzen; er wies darauf hin, daß die Kunstreligion „die letzte metaphysische Betätigung innerhalb des europäischen Nihilismus“ war. Er kombinierte sie mit seiner Religion des Antichrist, seinem Immoralismus und seiner eigenen Fassung des Darwinismus, „dem Willen zur Macht“. Der Kreislauf hatte sich nur noch ein wenig weiterzubewegen, und schon zeigte das Barbarische ein neues Gesicht. Die Nietzschesche Revolution erzeugte das merkwürdige Phänomen des kultivierten Menschen, der einen leidenschaftlichen Haß auf die Kultur hat, des Künstlers, der sich der Kunst schämt. „Wenn ich Rimbaud oder den Siebenten Gesang des Maldoror lese“, bekannte André Gide in seinen Tagebüchern, „dann schäme ich mich meiner Werke, und alles, was ein bloßes Produkt der Kultur ist, ekelt mich an.“
Wie klassisch nimmt sich doch Baudelaires Haltung aus, wenn man diese spätere trahison des clercs daneben hält, die verächtliche Desertion des Intellektuellen ins feindliche Lager! „Tout ce qui est beau et noble“, glaubte Baudelaire (oder zumindest behauptete er es), „est le résultat de la raison et du calcul.“22(„Alles Schöne und Edle ist das Ergebnis von Vernunft und kultivierter Überlegung.“) Der neue Vitalismus war freilich auch eine Fortentwicklung des Ästhetizismus, und zwar eine solche, die den Schwerpunkt nicht auf die Schönheit, sondern auf die emotionale Intensität, die Sensation legte; er war ein Ästhetizismus, der sich von seinen ethischen, sozialen und kulturellen Hemmungen befreit hatte. Baudelaire, der all dies „vorausgelitten“ hatte, ([Anspielung auf den Seher Tiresias in T.S. Eliots The Waste Land (1922), von dem es Z. 243 heißt: „And I Tiresias have foresuffered all.“]) wußte auch um die Verlockungen dieser Position; daher seine Warnung vor der übertriebenen Kunstanbetung, die – das ahnte er – nicht nur den Barbaren in die Hand arbeiten, sondern auch die Künstler selbst zu den schlimmsten Feinden der Kunst werden lassen würde.
Diese kurze Skizze hat sich auf die Haltungen und Aussagen von Dichtern beschränkt. Um der Vollständigkeit nur entfernt nahezukommen – insoweit als etwas so Selektives, drastisch Vereinfachtes und Sprunghaftes wie diese Überschau überhaupt Vollständigkeit erreichen kann –, müßte man jetzt noch das Dilemma der Literaturkritik nachzeichnen, deren Geschichte mit der Entwicklung, die ich zu umreißen versuchte, genau parallel läuft. In ihrem Bemühen, mit den Dichtern Schritt zu halten, ist die Masse der wirklich intelligenten Literaturkritik in unserer Zeit „zu einer Kritik um der Kritik willen“ geworden, wie es D.J. Enright genannt hat. Wenn auch Edwin Muir bereits 1924 schrieb, daß „alle Dichtungskritik Kritik um der Kritik willen“ sei,23 so widerspricht diese seine Bemerkung nicht derjenigen von Enright; denn Muir fährt fort:

Sie ist die Übertragung einer moralischen Gewohnheit auf die Kunst.

Anstatt zwischen dem Kunstwerk und einem nicht spezialisierten Publikum zu vermitteln, ist sie selbst so spezialisiert und schwierig geworden, wie es angeblich die moderne Lyrik ist; manchmal sogar schwieriger, denn die Lyrik hat schon ihre spezifische Art, komplexe Wahrnehmungen mitzuteilen, und die Kritiker haben dann ihre eigenen Kompliziertheiten zu denen ihrer Texte noch mit hinzugefügt. Im Augenblick gibt es Anzeichen dafür, daß die Reaktion auf den New Criticism ebenso gewalttätig und wahrheitsentstellend werden könnte wie Tolstojs Protest gegen die verweichlichende Wirkung der Kunst. Ja, Tolstojs Verbitterung gegen die Kunst war sogar noch ausgesprochen mild im Vergleich zu der Kunstfeindlichkeit von Erich Hellers The Disinherited Mind (Der enterbte Geist) mit seiner hartnäckig wiederholten Behauptung:

Die Dichtung, das sind die Ideen, und die Ideen, das ist die Dichtung.

Das war Antiästhetizismus in Reinkultur, mit der radikalen Konsequenz, daß der Autor Rilkes Duineser Elegien verdammte, weil die darin enthaltenen Ideen falsch seien, und daß er zu dem Ergebnis kam, „Kafka habe gute Gründe dafür gehabt zu verfügen, daß seine Schriften zu verbrennen seien“. Erich Hellers Thesen über das Verhältnis zwischen Wahrheit und Dichtung sind die drastische Formulierung einer Ansicht, die sehr verbreitet ist, aber selten mit soviel Beredsamkeit vorgetragen worden ist wie gerade von ihm. Verbreitet ist sie bei den Leuten, deren Einwand gegen die moderne Dichtung entweder darin besteht, daß sie sie nicht „verstehen“ können, oder aber darin, daß sie mit dem, was sie verstehen, nicht einverstanden sind. So schrieb Heller in The Disinherited Mind:

Ohne den alles durchwirkenden und stets gegenwärtigen Sinn für Wahrheit, der glücklicheren Kulturen ihre Intuition von Ordnung und Wirklichkeit verleiht, sieht sich die Dichtkunst in der Gesellschaft aller anderen Künste immer höheren Ansprüchen an das „Schöpferische“ gegenüber. Die Geschichte des Aufstiegs des Dichters von dem bescheidenen Platz eines Märchenerzählers und Liedersängers zu den Höhen der Schöpfung, vom Liebhaber der Phantasie zum Sklaven der schöpferischen Einbildungskraft, vom kündenden Werkzeug göttlicher Weisheit zum Erzeuger neuer Götter ist eine Geschichte, so ruhmreich wie sie qualvoll ist. Denn mit jedem Gewinn an dichterischer Schöpferkraft wird die Welt, so wie sie ist – die Welt, wie sie ohne des Dichters Zutun erschaffen wurde –, ärmer, und jede zusätzliche Verarmung der Welt wird zum neuen Ansporn für die dichterische Schöpferkraft. Zuletzt ist die Welt, wie sie ist, nichts als eine Welt des Anstoßes für den Dichter, eine Beleidigung der Phantasie. Ihren Dünsten entfliehend, siedelt sich das Genie in einer Welt an, die das reine Erzeugnis seiner schöpferischen Gewalt ist: „Gesang ist Dasein.“24

Trotz seiner abenteuerlichen Verallgemeinerungen – angefangen mit der Beschwörung jener mythischen „glücklicheren Kulturen“, in denen die Dichter „Märchen erzählen – und „Lieder singen“ – sagt dieser Abschnitt etwas Zutreffendes über die Entwicklung, die in Mallarmés abwertendem Hinweis auf die äußere Welt als „brutale Fata Morgana“ gipfelt. Aber dennoch ist es schwer einzusehen, wie und warum die Erfindungen des modernen Dichters die Welt ärmer machen sollen. Das setzt Leser von Gedichten wie Rilkes Duineser Elegien voraus, die auf die Dichtung in so pedantischer Weise wörtlich und so furchtbar passiv reagieren, daß sie die Welt, die sie kennen, hinter sich lassen um der Welt willen, die Rilke für sie schuf, indem er in Gesang ausbrach, um „Dasein zu haben“. Selbst die leidenschaftlichsten Bewunderer und Jünger Rilkes haben das aber doch nicht wirklich getan. Der Fehler liegt hier bei Hellers eigenem zu wörtlichen Dichtungsverständnis. Er behandelt jedes literarische Werk, sei es nun rein poetisch oder historisch, so, als ob es die wesentlichste Funktion der Literatur sei, ein System von Glaubenssätzen und Ideen zu erläutern:

Dichten ist Denken. Gewiß ist es nicht nur Denken; aber „Nur-Denken“ gibt es nicht, abgesehen vielleicht von den Operationen der reinen Logik und Mathematik. Die Sprache ist nicht ganz so irreführend, wie einige unserer analytischen Philosophen anzunehmen scheinen. Sie weiß, was sie tut, wenn sie uns erlaubt, „an jemanden zu denken“, oder wenn sie Handlungen, denen es an Wachheit des Gefühls mangelt, „gedankenlos“ nennt. Das sind nicht bloße Redensarten. Die Worte meinen, was sie sagen: Gedanke und Denken. Und daß eine Autorität, noch höher als diejenige Goethes und T.S. Eliots, lehrt, im Anfang sei Logos gewesen, das Wort, das Denken, der Sinn, – das sollte uns zu denken geben, ehe wir die Frage beantworten, ob der Dichter denkt.25

Natürlich sollen wir das; aber die eigentliche Frage für den Dichtungsleser ist, wie ein bestimmter Dichter in einem bestimmten Gedicht oder Teil eines Gedichtes denkt und wie diese Weise des Denkens funktioniert in bezug auf die Ganzheit dessen, was das Gedicht bewirkt. In seinem übereifrigen Wunsch, nur ja keinen Kompromiß mit den Ästheten einzugehen, geht Heller so weit, die folgende Behauptung aufzustellen:

Die Gründe etwa, deretwegen man den Glauben, der in Rilkes späterer Dichtung Gestalt gewinnt, hinnimmt oder ablehnt, unterscheiden sich in nichts von den Erwägungen, die einen bestimmen, den Marxismus oder die Oxford Group oder die Anthroposophie zu akzeptieren oder zu verwerfen. Zu sagen: „Aber er ist doch nur ein Dichter“ (und nicht etwa ein Sekten-Hausierer, ein Ideologe oder ein politischer Propagandist), wäre dasselbe wie zu sagen, daß es ihm sein Beruf schwerer macht als anderen, die Wahrheit zu erkennen; zu sagen: „Aber seine Gedichte sind zu schön, um wahr zu sein“, bedeutete doch nur, daß ein Gedicht um so schlechter sein müsse, je näher es der Wahrheit kommt, weil alle Wahrheit häßlich ist.26

Diese Beweisführung ist eine so groteske Simplifizierung, daß sie praktisch sinnlos ist. Selbst in unserem Jahrhundert hat es Dichter gegeben, die ihre Verse so verstanden wissen wollten, wie Heller möchte, daß wir alle Dichtung verstehen. Brecht war, neben vielem anderen, ein „politischer Propagandist“; aber Brecht wußte auch, daß er, indem er das wurde, gegen den Hauptstrom der Dichtung seiner Zeit schwamm, einen Strom, für dessen wesentlichen Repräsentanten er Rilke hielt. Hellers Pochen darauf, daß überall und zu allen Zeiten „die Dichtung die Ideen und die Ideen Dichtung sind“, verwischt gerade die Unterscheidungen, die herauszuarbeiten die Hauptaufgabe der Literaturkritik ist; und seine ständige Beschwörung moralischer, metaphysischer und religiöser Kriterien, die nie klar ausgesprochen oder definiert werden, schwächen seine Position in der Polemik gegen alle diejenigen modernen Dichter, die wie Rilke die poetische Einbildungskraft glorifiziert haben, in ganz erheblichem Maß. Eine numinose „Wahrheit“ oder ein numinoser „logos“ ist eine untaugliche Waffe in der Hand eines Kritikers, der auszieht, die Pseudo-Credos von Dichtern anzuprangern, und der dennoch schreiben kann:

Wir sind in unserem denkerischen Glauben so demokratisch geworden, daß wir überzeugt davon sind, daß die Wahrheit durch ein Plebiszit von Tatsachen bestimmt ist.

Heller liebt es, Pascals Bemerkung über die raisons du cœur zu zitieren, von denen der Verstand nichts weiß; aber er vergißt, daß es für Pascal, der schließlich ein Mathematiker war, „la dernière démarche de la raison“ war, „de connaître qu’il y a une infinité de choses qui la surpassent“.(Es war „die letzte Zuflucht für den Verstand zu erkennen, daß es unendlich viele Dinge gibt, die ihn übersteigen“.) Hellers mangelnde Bereitschaft, sich mit den Fakten der Literatur zufriedenzugeben – d.h. mit dem spezifischen Einzelgedicht oder -drama, aus dem er einen Text auszieht, um ihn für seine Predigt gegen die moderne Literatur im allgemeinen verwenden zu können –, macht ihn zu einem schlechten Leser. Als solcher kann er dann nichts anderes tun als die Vorurteile derjenigen bestätigen, die glauben, die Lyrik sei lediglich eine „schöne“ Art, Dinge zu sagen, die man auch in Prosa sagen könnte. Diese Funktionsbestimmung ist nicht nur eine Vernebelung, sondern sie ist in äußerstem Grade undienlich, schneidet sie doch den Knoten, den sich die Literaturkritik zu lösen bemühen sollte, einfach durch. Es mag sein, daß die ästhetische Ordnung niemals wieder mit einem umfassenden Ordnungsprinzip zur Deckung gebracht werden wird, was Kierkegaard noch einmal versucht hat, zu Baudelaires Lebenszeit. Mit Sicherheit aber wird dies nicht dadurch zu erreichen sein, daß man Dante als Maßstab für alles und jedes heranzieht und Shakespeare und Goethe zu modern findet, um die Probe zu bestehen – ganz zu schweigen von Hölderlin und Rilke. Und man erreicht es auch nicht dadurch, daß man einfach zu der Position von Matthew Arnold im Jahre 1863 zurückkehrt, zu einer Zeit also, in der die Kunst noch nicht – zumindest in England noch nicht – ihre Unabhängigkeit vom Leben proklamiert hatte, und daß man sagt, Dichtung sei „einfach die schönste, eindrucksvollste und in der Breite wirksamste Art, die Dinge zu sagen, und von daher beziehe sie ihre Wichtigkeit“.27 Arnold war ein großer Kritiker, weil er versuchte, das richtige Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Funktionen der Dichtung zu bewahren, ebenso wie das T.S. Eliot, freilich mit ganz anderen Voraussetzungen und Zielen, zu seiner Zeit versuchte; während der größte Teil des New Criticism es versäumt hat, sich mit dem Dilemma überhaupt auseinanderzusetzen. Und doch war das Dilemma mit impliziert in I.A. Richard’s Diktum, es sei „nicht das wichtig, was ein Gedicht sagt, sondern das, was es ist“. Erich Hellers Wörtlichnehmen des „Inhalts“ verkehrt diesen Ausspruch in sein Gegenteil; aber das Diktum selber impliziert, daß das, was ein Gedicht sagt, etwas grundsätzlich anderes und Abtrennbares gegenüber dem ist, was es ist; und daß der einsichtige Leser der ist, der sich dieses Unterschiedes am meisten bewußt bleibt. Die Literaturkritik hat es nicht vermocht, diese Differenz zu erklären, ohne dabei mindestens eine der verschiedenen Funktionen von Literatur aus den Augen zu verlieren oder diese überhaupt als eine wertlose Sache aufzugeben. Die analytische Methode ist unvollständig, wenn sie nicht am Ende die Teile wieder zu einem Ganzen zusammenfügt; und dieser abschließende Prozeß ist in gleichem Maße wie nur irgendein anderer synthetischer Prozeß imstande, eine neue Maschine hervorzubringen.

Baudelaires Vorgehen sowohl als Dichter wie auch als Kritiker war klassischer, als man allgemein zugibt. Weil er viel eher ein allegorischer als ein symbolistischer Dichter war, steht der größte Teil seiner Dichtung im Einklang mit Samuel Johnsons klassischer Vorschrift, daß es „die Aufgabe des Dichters sei, nicht den Einzelfall, sondern die Gattung zu überprüfen, um generelle Eigenschaften und umfassende Erscheinungen zu betrachten; er zählt nicht die Streifen auf einer Tulpe oder beschreibt die verschiedenen Abstufungen von Grün in einem Wald. Er soll in seiner Schilderung der Natur solche hervorstechende und auffällige Züge herausstellen, die in jedem Betrachter die Erinnerung an das Original hervorrufen; und er ist gehalten, die subtileren Unterschiede außer acht zu lassen…“28 Baudelaires geistige Haltungen andererseits spiegeln zwangsläufig seine Situation in seiner Zeit wider, und vor allen Dingen die Isolation, die, wie Frank Kermode in Romantic Image betont hat, die Romantikern und Symbolisten gemeinsame Hauptschwierigkeit war. Baudelaires Widersprüchlichkeit, und auch sein Dilemma selbst, haben ihren Grund in der fast unerträglichen Belastung, ein klassischer oder nahezu klassischer Künstler in einer modernen Gesellschaft zu sein.
Deshalb geriet Baudelaire in die begreifliche Verwirrung, die mein Hauptthema in diesem Kapitel ist und die darin besteht, daß Problemen, die eigentlich ästhetischer Natur sind, eine soziale, ethische und sogar religiöse Bedeutung beigelegt wird. Diese Verwirrung ist sehr verbreitet: es gibt wenige ästhetisch empfindsame Menschen, die ihr nicht gelegentlich anheimfallen. Der Punkt, auf den es in diesem besonderen Zusammenhang hinausläuft, ist die Unfähigkeit, zwischen unseren Reaktionen auf das, was häßlich ist, und unseren Reaktionen auf das, was moralisch schlecht ist, zu unterscheiden. Die Verwirrung unterläuft um so leichter, weil die Kategorie des Ästhetischen die des Moralischen berührt, dort wo es um die mores oder mœurs geht; und die Ausdrücke „schmutzig“ und „armselig“ scheinen auf beide Kategorien anwendbar zu sein. (W.H. Auden stellte diese Verbindung her in seiner bekannten Zeile „New styles of architecture, a change of heart“.) [„Neue Baustile, ein Wandel des Herzens“ (Schlußzeile von „Sir, no man’s enemy“ Nr. XXX in Poems 1930; das Gedicht erhielt in der Gesamtausgabe der Kürzeren Gedichte von 1950 den Titel „Petitione“.)]
Aber Baudelaire hat genau das richtige Wort gewählt, um die Utopie des l’art pour l’art zu charakterisieren: „kindlich“, denn gerade die Kinder sind am wenigsten fähig, diese Unterscheidung zu treffen und neigen am stärksten dazu, ethische Urteile auf der äußeren Erscheinung aufzubauen (obwohl sehr kleine Kinder durch physische Häßlichkeit nicht abgestoßen werden).
Die hier besprochene Verwirrung der Begriffe hat zu zwei weiteren, damit verwandten Konfusionen geführt. Indem sie ihren Glauben an „die Kunst um der Kunst willen“ bekräftigen, haben es viele Schriftsteller nicht fertiggebracht, zwischen ihrem persönlichen Motiv für das Schreiben von Dichtung und der Funktion aller Literatur zu unterscheiden. Wenn ein moderner Dichter sagt, er schreibe nur um des Gedichtes willen, so ist das weder seltsam noch schockierend; er sagt damit eigentlich nur mit anderen Worten, daß er weder ein Schuft ist noch ein Narr. Der Irrtum fängt erst da an, wo der Dichter dazu übergeht, sein eigenes Motiv mit dem Wesen oder der Funktion der Dichtung gleichzusetzen oder wenn er eine Lebensphilosophie auf den Gesetzen seiner Kunst oder auf seiner persönlichen Lage als Dichter aufbaut. Es war das Ideal Gottfried Benns; „das absolute Gedicht“ zu schreiben, „das Gedicht ohne Glauben. Das Gedicht ohne Hoffnung, das Gedicht, das an niemand gerichtet ist, das Gedicht aus Worten, die man auf eine faszinierende Weise zusammenstellt“.29 Absolute Gedichte sind „Phänomene, geschichtlich wirkungslos, ohne praktische Konsequenzen. Das ist ihre Größe“. Aber Gottfried Benn publizierte seine Gedichte; und er verachtete nicht einmal solche Hilfsmittel der Breitenwirkung wie den Rundfunk-Vortrag, die öffentliche Dichterlesung und das Presse-Interview. Die bloße Publikation würde ausgereicht haben, seinen Gedichten eine historische Wirkung und praktische Konsequenzen zu geben. Auf diese Inkonsequenz hinweisen heißt nicht, Benn der Heuchelei zu zeihen; ich verweise darauf nur, um hervorzuheben, daß Mitteilung eine im Wesen der Dichtung liegende Funktion ist und zwar selbst dort, wo sich der Dichter in keiner Weise eines Wunsches bewußt ist, irgend etwas Besonderes mitzuteilen, wo er für die Toten schreibt oder für niemand. Ein Gedicht kann ein Monolog sein; aber es ist ein Monolog, der laut gesprochen wird.
Der zweite Irrtum besteht in der Annahme, daß es eine feste Relation zwischen der Autonomie, die ein Werk der Literatur erreicht, und seiner Qualität geben müsse; daß diese Relation von der Glaubensüberzeugung des Dichters abhängig sei; und daß ein Dichter, der kein Engagement für irgend etwas anderes als seine Kunst anerkennt, aus diesem Grunde kein schlechtes Gedicht schreiben könne, und schon gar nicht ein vulgäres Gedicht. Engagement ist ebenfalls nicht bloß eine Sache der bewußten Geisteshaltung; schon wenn man bloß schreibt, engagiert man sich und verrät eine Art von Engagement, die sich nicht ausschließlich auf die Kategorie des Ästhetischen beschränken läßt. Villiers de l’Isle Adam z.B. verdankt den größten Teil seiner Berühmtheit dieser Art von Haltung; als Verfasser von erzählender Literatur – Romanen und Erzählungen – war er weniger bedeutend als viele populäre Romanautoren seiner Zeit. Und – wie Baudelaire gesagt hat – es gibt auch eine Vulgarität, die darin besteht, daß man eine Menschenmenge verunglimpft.
Der Dichter als Ästhet, das ist der Dichter, der zum Spezialisten geworden ist, der Dichter, der über seine Spezialisierung nicht mehr hinaussehen kann und sie zu einem Glaubensbekenntnis macht. Insoweit als er die l’art-pour-l’art-Schule billigte, bewies Baudelaire, daß er dem allgemeinen Trend zur Spezialisierung nicht widerstehen konnte. Seine Einsamkeit war gegen ihn. Sein Dandy-Kult – als „das letzte Aufleuchten von Heroismus in dekadenten Zeiten“30 – war sein verzweifelter Versuch, seiner Einsamkeit einen Sinn zu geben; er war ein Religionsersatz; eine aus einer langen Liste von Ersatzreligionen, in die sich Künstler geflüchtet haben, einfach um überhaupt weitermachen zu können. Und dennoch war es Baudelaire der unter der Überschrift Dandyism in sein Tagebuch schrieb:

Wer ist der überdurchschnittliche Mann? Sicher nicht der Spezialist. Es ist der Mann der Muße und der allgemeinen Bildung. Reich sein und die Arbeit lieben.31

Aber Baudelaire war den größten Teil seines Lebens alles andere als reich, und er haßte die Arbeit. So wurde er zum ersten Europäer, der über den „unermeßlichen Ekel vor der Reklame“ klagte – einen Ekel, der ein Grenzfall ist, halb ästhetisch, halb moralisch und den er interpretierte als Abscheu vor dem „schmutzigen“ Materialismus des Zeitalters. Zugleich wußte er, daß der Ästhetizismus – außer in seinen höchsten, platonischen Bereichen – auch ein Materialismus ist und daß es sein eigenes Ästhetentum war, das ihn von der Masse absonderte.

Was mich betrifft, der ich manchmal dazu neige, die lächerliche Rolle des Propheten anzunehmen, so weiß ich, daß ich darin niemals die Menschenliebe eines Arztes finden werde. Verloren in dieser gemeinen Welt, herumgestoßen von der Menge, bin ich wie ein total Erschöpfter, der, wenn er in den tiefen Abgrund der Jahre zurückblickt, nichts sieht als Desillusionierung und Bitterkeit, und der, wenn er nach vorwärts schaut, nichts sieht als einen völligen Zusammenbruch, der nichts Neues bringt: weder an Wissen noch an Schmerz.32

Als er dann schließlich diesem circulus vitiosus völlig entronnen war und die „Menschenliebe des Arztes“ erlernt hatte, hatte Baudelaire schon fast ganz aufgehört zu schreiben; aber es gibt mehr Anzeichen für diese Art von Liebe in seinem früheren Werk, als er sich selber einzugestehen wagte. Baudelaire fürchtete nichts so sehr, als daß die geistige Leidenschaft, die er in seine Lyrik investierte, für die falsche Geistigkeit seiner Zeit, eben jene ästhetische Ersatzreligion der Kunst, gehalten werden könnte; deshalb schrieb er, daß es einzig und allein wichtig sei, „ein großer Mensch und ein Heiliger in seinen eigenen Augen (,pour soi-même‘) zu sein“.
Wenn man Baudelaires Urteile über Gesellschaft, Politik, Ethik und Religion richtig einschätzen will, ist es von ausschlaggebender Wichtigkeit, zwischen zwei Arten von Urteilen zu unterscheiden: denen des Spezialisten, der sich nur für sein Gewerbe interessiert – ein Gewerbe, für dessen Erzeugnisse damals wenig Bedarf bestand; und denen, die den besonderen Vorzug einer höheren Warte haben, von der er in seinem Tagebuch spricht:

Ich habe keine Überzeugungen in dem Sinn, in dem die Menschen meines Jahrhunderts das Wort verstehen, weil ich keine Ambitionen habe.

Es ist zwecklos, aus der ersten Art von Urteilen etwas Sinnvolles herauslesen zu wollen – es sei denn biographische oder historische Informationen; wenn man es tut, stößt man auf einen Baudelaire, der ein Sozialist, ein Konservativer und ein Faschist ist, ein mystischer Pantheist und ein orthodoxer Katholik ein Satanist ein Puritaner und ein Heide usw. usw. Es ist ebenfalls wichtig, zwischen dem zu unterscheiden, was Baudelaire als Mensch, und dem, was er als Künstler dachte. So schrieb er z.B.:

Je ne crois pas qu’il soit scandalisant de considérer toute infraction à la morale, au beau moral, comme une espèce de faute contre le rythme et la prosodie universels. („Ich glaube nicht, daß es skandalös ist, jeden Verstoß gegen die Moral, gegen das moralisch Schöne, als eine Art Vergehen gegen den universalen Rhythmus und die universale Prosodie aufzufassen.“ Théophile Gautier)

Das ist ein Beispiel für die Ersatzreligion; es ist ein Ausspruch, der dazu bestimmt ist, eine sehr wackelige Brücke zu bauen über die Kluft zwischen der Kategorie des Ästhetischen und der des Ethischen. Tatsache ist, daß der Mensch Baudelaire nicht an einen „universalen Rhythmus“ und „eine universale Prosodie“ glaubte, die die ästhetischen und die ethischen Funktionen der Dichtung hätten koordinieren können, ohne daß es dazu einer Anstrengung des Dichters bedurft hätte; aber der Künstler Baudelaire hätte gern daran geglaubt, und der Pseudoglaube war für einen Dichter etwas Nützliches.
Man braucht an der modernen Dichtung nicht zu verzweifeln, weil sie solche Differenzierungen nötig macht, und man braucht sich nicht das Vergnügen an ihr zu versagen aus Angst, man könne durch ihre „falschen“ Ideen korrumpiert werden. Es ist Sache des Kritikers und des Lesers, die Ersatzreligionen dort zu erkennen, wo sie ein Teil der Dichtung geworden sind anstatt einer bloßen Hilfskonstruktion, die den Dichter bei seiner schweren Aufgabe unterstützt. Ich bezweifle, daß ein Leser, der kein Dichter ist (oder überhaupt, der nicht Rilke ist), lange nach der ästhetischen Religion leben könnte, die implizit, und manchmal auch explizit, in Rilkes Duineser Elegien verkündet wird, aber ein solcher Leser könnte dennoch einen Wissenszuwachs erfahren haben dadurch, daß er in eine Erfahrungswelt eingetreten wäre, die er sich ohne diese Lektüre nicht hatte zu eigen machen können; und mit „eintreten“ meine ich ein aufrichtiges, ernstes Eingehen in die Erfahrung, ohne Vorurteil oder vorschnelles Urteil. Wenn die Erfahrung einen Niederschlag von Ideen anstatt von Empfindungen zurückläßt, so werden diese Ideen in einem späteren Stadium zurechtgerückt werden müssen. Das Unterscheidungsvermögen, das dazu vonnöten ist, ist kein anderes als das, welches das Leben von uns verlangt; die Menschen und Dinge, mit denen wir zu tun haben, sind auch nicht mit einer Aufschrift „gut“ oder „schlecht“ versehen. Wahre und falsche Ideen werben um uns in jeder Zeitung, ganz zu schweigen von den Reklamen, die Baudelaire so ekelhaft waren.
Aber die Sache selbst lügt nicht; das trifft auf ein Gedicht als einen gut und ehrlich gemachten Gegenstand (A.E. Housman hat gesagt, daß Dichtung „viel mehr physisch als intellektuell“ sei)33 genau so zu wie auf rein materielle Erzeugnisse. In beiden Fällen mag es nötig sein, das Objekt von den Behauptungen, die darüber aufgestellt worden sind, abzusondern, selbst von Behauptungen, die auf das Objekt selber außen aufgeprägt sind. Wenn die zunehmende Notwendigkeit einer solchen Unterscheidung und Abtrennung verwirrend ist, wenn sie zu Tolstojs Verärgerung über die Literatur und zu Baudelaires Widerwillen gegenüber dem Leben geführt hat oder aber zu Zynismus, Gleichgültigkeit und bewußtem Spießertum, so hat die Literatur auch dafür ein Heilmittel: sie hat die Macht, neue Verbindungen zwischen den Dingen herzustellen, die im Leben mehr und mehr „auseinanderfallen“ [Anspielung auf W.B. Yeats’ Gedicht „The Second Coming“ (1921), wo es z.B. heißt: „Things fall apart, the centre cannot hold: Mere anarchy is loosed upon the world.“] wollen. Es zeichnet die moderne Dichtung aus, daß sie sich auf das Zählen der „Streifen auf der Tulpe“ konzentriert hat; aber immer wieder hat sie auch ihre Fähigkeit bewiesen, dem Partikulären einen universellen Sinn zu geben, ein neues Zentrum für Erfahrungen zu stiften, die nach allen klassischen Kriterien peripher sein müßten, weil sie die Erfahrungen von Spezialisten sind. Der moderne Dichter mag „die Streifen der Tulpe zählen“ und nicht nur glauben, sondern auch hoffen, daß er nichts anderes getan habe als dies; aber ob es ihm gefällt oder nicht, er hat etwas Neues über Blumen gesagt – und über den Menschen.

 

 

 

Vorwort

Was macht das Moderne an der „modernen Dichtung“ aus? Was macht sie schwieriger als jede andere Lyrik – wenn sie wirklich schwieriger ist als die Dichtungen von, sagen wir, Pindar oder Dante oder Shakespeare oder Góngora oder Blake? Ist es denkbar, dass die Lyrik seit Baudelaire eine Tendenz hat, zu etwas der Art nach anderem zu werden, als es alle vorherige Dichtung war? Und wenn dem so ist, bedeutet dieser qualitative Wandel, dass die Dichter seit Baudelaire nicht mehr versuchen, dieselbe Art von Aussagen zu machen wie ihre Vorgänger?

Das sind einige der Fragen, die mich beschäftigten, als ich mich vor gut zehn Jahren daran machte, dieses Buch in Angriff zu nehmen. Schon damals war mir klar, dass ihre Beantwortung eine viel eingehendere Kenntnis nicht der inneren Gesetze der Lyrik als Aussageform, aber von Dichtern und Einzelgedichten erforderte, als ich sie vermutlich je erlangen würde. Trotz all der Verschiedenheit zwischen den Traditionen und nationalen Eigentümlichkeiten, die bis heute das Schaffen der Dichter beeinflusst haben, ist „das Moderne“ an der modernen Lyrik ein internationales Phänomen. Ich hatte englische, amerikanische, deutsche, französische und italienische Dichter in der Originalsprache gelesen. Aber ich hatte keine gleichermaßen authentische Kenntnis von der Lyrik der Spanier, Portugiesen, Iberoamerikaner, Russen, Polen, Jugoslawen, Tschechoslowaken, Ungarn, Griechen, Holländer oder Skandinavier – um nur einige der Nationalitäten zu nennen, die in eine umfassende Studie mit einbezogen werden müssten. Wenn ich auch heftige Anstrengungen unternahm, meine Belesenheit auf solche Dichter auszudehnen, die mir nur in oder durch Übersetzungen zugänglich waren, so musste ich doch erfahren, dass mir eine solche Lektüre in den meisten Fällen die Texte nicht zum geistigen Eigentum werden ließ. Doch wie dem auch sein mochte, mein Buch war ja von vornherein nicht als ein Überblick über alle bedeutenden Dichter gedacht, die „moderne“ Gedichte geschrieben haben. Selbst in den Sprachen, die ich kann, habe ich Dichter unberücksichtigt gelassen, die vielleicht mindestens ebenso gut sind wie diejenigen, die ich erwähnt oder ausführlicher behandelt habe. Zugleich habe ich versucht, der großen Verschiedenartigkeit der Lyrik seit Baudelaire gerecht zu werden. Anstatt meine Untersuchung auf eine einzelne Entwicklungslinie zu beschränken, die von vornherein als „modern“ definiert wird, habe ich mein Augenmerk vor allem auf die Spannungen und Konflikte gerichtet, die im Werk – oder hinter dem Werk – eines jeden Dichters der in Frage stehenden Epoche offenbar werden – angefangen von Baudelaires eigenem Œuvre.

Wenn im Verhältnis zu viel Gewicht auf die Aussagen der Dichter über ihre Dichtung und zu wenig auf ihre Gedichte gelegt worden sein sollte, so ist der Grund dafür darin zu sehen, dass ein strenges, auf Textinterpretation ausgerichtetes kritisches Vorgehen die genaue Analyse von Hunderten von Gedichten erfordert hätte, von denen zudem viele in fremden Sprachen geschrieben sind. Wohl waren Gedichte, und nicht „die Lyrik“ oder Theorien über die Lyrik, mein Ausgangspunkt, aber es war unumgänglich, für ein Buch, dessen Thema sowohl dem geographischen Raum als der historischen Zeit nach beinahe unbegrenzt ist, von Anfang an sehr strikte Begrenzungen festzusetzen. Was immer die „moderne Lyrik“ sein mag, ihre ersten Anfänge sind leicht über Baudelaire hinaus zurückverfolgbar, und sie sind es auch über solche Dichter wie Edgar Allen Poe hinaus, auf den Baudelaire und seine Nachfolger ihre literarische Abstammung zurückführten. Die „Vorläufer“ mussten weggelassen werden; aber ich hoffe, dass etwas von dem Bewusstsein ihrer Wichtigkeit in meine Bemerkungen zu den Dichtungen, die in diesem Buch behandelt werden, eingegangen ist, ebenso wie ich hoffe, dass auch mein Wissen um die Bedeutung vieler Gedichte und Dichter, die im Text nicht erwähnt werden konnten, in dem Buche spürbar wird.

Zum Schluß möchte ich noch einmal betonen, daß dieses Buch keine Geschichte der modernen Lyrik ist, sondern ein Versuch, das Wesen, die Voraussetzungen und die Funktionen dieser Lyrik zu begreifen. Daraus erklären sich viele offensichtliche und weniger offensichtliche Auslassungen. Andere ergaben sich aus meiner Abneigung, Dinge zu wiederholen, die ich schon anderswo gesagt habe oder die schon von der Literaturkritik im allgemeinen festgestellt worden sind. Da auch das gegenwärtige Jahrzehnt mitberührt wird, wäre eine literaturgeschichtliche Darstellung in einen bloßen Überblick ausgeartet. Meine einzige Hoffnung auf Erfolg bestand darin, mich auf das zu beschränken, was nach meinem Dafürhalten die entscheidenden Probleme sind.

Michael Hamburger, Vorwort in der Originalausgabe, 1968

Nachwort zur Taschenbuchausgabe 1982

Vierzehn Jahre nach dem Abschluß dieser Arbeit kann ich keine Rechtfertigung dafür vorbringen, daß ich den Text noch einmal vorlege, ohne daran irgendwelche Änderungen vorzunehmen, die über das Tilgen von Druckfehlern hinausgingen. Das Buch war keine Geschichte, und noch viel weniger ein überblickartiger Abriß der Lyrik, die in dem Jahrhundert vor seinem Erscheinen (1968) geschrieben wurde, sondern es war eine Untersuchung bestimmter Gedichte im Zusammenhang mit bestimmten Fragen nach dem Wesen von Dichtung überhaupt. Eine solche Studie „auf den neuesten Stand zu bringen“ wäre ein sinnloses Unterfangen, und das nicht nur, weil dieser „neueste Stand“ zum Zeitpunkt der Publikation selbst schon wieder überholt wäre. Wenn mein forschendes Abtasten von vielen Arten von Gedichten aus dem zwanzigsten Jahrhundert irgend etwas bewies – und es wurde sicherlich nicht mit der Absicht unternommen, zu von vorne herein feststehenden Ergebnissen zu gelangen –, dann war es die Erkenntnis, daß die Spannungen, aus denen Lyrik entsteht, sich durch lange Zeiträume hindurch gleichbleiben, wenn auch die Ausdrücke dafür von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, ja von Jahr zu Jahr wechseln.
Wenn ich heute, vierzehn Jahre später, noch einmal eine derartige Studie schreiben wollte, würde ich mich wohl da und dort für andere Beispiele und Namen entscheiden, und zwar einfach deshalb, weil ich inzwischen andere Dichtungen gelesen und vieles von dem vergessen habe, was ich in den fünfziger und sechziger Jahren las; aber ich könnte heute eine solche Untersuchung gar nicht mehr schreiben. Jede Fortsetzung zu dem damaligen Buch würde aus einer veränderten Anschauungsweise entspringen, aus einem geschärfteren Bewußtsein von jener Krise, die viel mehr umfaßt als das Entstehen und die Funktionen von Dichtung. Das allerletzte, was ich mit einem solchen Buch beabsichtigen würde, wäre, einen Überblick über die neuesten Entwicklungen in dieser oder jener Nationalliteratur zu geben. Schon 1968 lag mir jeder Versuch fern, einen umfassenden Bericht über den „neuesten Stand“ der Lyrik oder über die neuesten Dichter zu liefern. Was die Literatur meines Heimatlandes betrifft, so hatte ich schon Jahrzehnte früher für mich die Entscheidung getroffen, daß ich niemals über die Arbeiten meiner unmittelbaren Zeit- und Altersgenossen schreiben würde, und zwar um mich aus jenen Gruppenkämpfen herauszuhalten, die man in den Zeitschriften als Kritik von Neuerscheinungen ausgibt. Anders war die Situation bei ausländischer Literatur, denn die Tatsache, daß sie ausländisch war, schuf die Distanz, die für ein kritisches Urteilen unerläßlich ist; und ein weiterer und dringlicherer Ansporn war hier die Einsicht, daß niemand über einige dieser ausländischen Autoren schreiben würde, wenn ich es nicht täte. Das gilt auch für gewisse amerikanische Dichter; ich unterließ es aber, über diejenigen amerikanischen Lyriker zu schreiben, die, wie Lowell, Berryman und Ginsberg, die ihnen gebührende Beachtung hier in England gefunden hatten und die zudem nicht sehr instruktiv für meine Themen waren. Dort wo meine englischen Altersgenossen in die Argumentation einbezogen wurden, geschah dies, weil meine Thematik es erforderlich machte. Auch in ein paar anderen Fällen habe ich gelegentlich meine selbstgesetzte Regel verletzt und etwas über britische und amerikanische Zeitgenossen gesagt, wenn ich besondere Gründe dafür hatte; aber solche kurze Äußerungen gehören nicht in den thematischen Bereich dieses Buches – sie werden gesammelt in einem anderen Band von Schriften über Lyrik erscheinen.
Eine dieser Ausnahmen waren die späteren Arbeiten von W.S. Graham, der nach einem langen Schweigen mit Gedichten hervortrat, die für mich einige meiner früheren Ansichten in Frage stellten. Im letzten Kapitel der Truth of Poetry hatte ich eine Gefahr gesehen in zwei extremen Entwicklungen: einerseits in der Kommerzialisierung der Lyrik in der Unterhaltungsindustrie und andererseits in der atrophischen Schrumpfung der Lyrik in den Sprachlaboratorien.  W.S. Grahams neuere Arbeiten bedienen sich zwar nicht der Verfahren der „konkreten“ oder experimentellen Lyrik, aber sie nutzen die „Laboratoriumserfahrung“ – den Kampf des Dichters mit dem Material seiner Kunstart, also der Sprache – auf außerordentlich originelle Weise, auf eine Weise, die nie durch methodische Pedanterie langweilt, sondern immer fesselnd, ansprechend und lebendig ist. Das löste bei mir ein neues Nachdenken über die in seinem Wesen begründete „Unreinheit“ des Mediums Dichtung aus (es unterscheidet sich darin wesentlich von dem Medium Musik), und dieses Nachdenken schloß auch das traditionelle Bedürfnis der Lyrik nach einem Inhalt mit ein. Wenn gute Dichtung aus dem Ringen um gute Dichtung gemacht werden konnte, so schien es mir, dann war Dichtung vielleicht einer weiterreichenden Autonomie fähig, als ich bereit gewesen war zuzugestehen; oder genauer, der Gegenstand der Lyrik, ihr Inhalt, ist weniger wichtig, als ich geglaubt hatte, vorausgesetzt, daß das Menschliche nicht durch eine mechanistische Anwendung von Methoden und Verfahren ausgeschlossen wird. Jedenfalls ist Sprache ein so entscheidender und wesentlicher Bestandteil des Menschseins, daß sie sich als geeigneter Inhalt erweist, wenn sie außerhalb der Laboratorien bleibt. Es stellt sich also heraus, daß das, was den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten oder zwischen einem lebendigen und einem toten Gedicht über das Verhalten der Sprache ausmacht, nicht eine Frage des Was, sondern des Wie ist – nicht eine Frage der Thematik, sondern eine Frage der Behandlung und Entwicklung der Thematik; und das rückt die Lyrik wiederum näher an die Musik heran, trotz der Plage mit der Bedeutung.
Die andere Gefahr, jene der populären Verflachung – Gebrauchslyrik zum Sofortverbrauch in öffentlicher Lesung – macht mir ebenfalls weniger Sorgen als 1968. Da die Sprache wahrer und tieflotender Dichtung ein besonderes Medium ist, das auch eine besondere Art von Aufmerksamkeit erfordert – genau wie Musik und Malerei oder Bildhauerei eine spezifische Aufmerksamkeit erfordern –, und da dies ebenso auch das Herausbilden besonderer Fähigkeiten bei den Aufnehmenden verlangt, scheint es mir wahrscheinlich, daß sich die meisten Leser aus der Minderheit, die sich solcher Dichtung überhaupt zuwendet, ihr immer mit Erwartungen zuwenden wird, die mehr mit dem Was als mit dem Wie zu tun haben. Daraus erklärt sich die ungebrochene Anziehungskraft von Lyrik für solche Leser, die keine anderen Gedichtsammlungen kaufen als Anthologien von „Naturgedichten“, „Liebesgedichten“, „Katzengedichten“ oder was sonst noch – obwohl doch jeder echte Dichter oder Leser von Lyrik in seinem Herzen weiß, daß dies bedeutungsleere Unterteilungen sind, daß das „Katzengedicht“ genauso ein Liebesgedicht oder ein soziologisches oder metaphysisches Gedicht sein kann. Wenn derartige Leser dann auch den Kitzel eines Prominentenauftritts mit der Qualität der dargebotenen Texte verwechseln, so könnte das bestenfalls eine Phase im Ausbau ihrer Empfänglichkeit sein – eine Phase, die sie weiterführt zur Suche nach solideren Arten der Befriedigung. Wenn es dazu nicht kommt, werden sie bald das Interesse an jeder Art Versdichtung verlieren; im übrigen scheint der Höhepunkt der Beliebtheit öffentlicher Lesungen berühmter Dichter sowieso vorbei zu sein, zumindest in England und Nordamerika.
Wenn ich unbeschränkten Raum zur Verfügung gehabt hätte, hätte ich auch solche Lyrik behandeln müssen, die zwar in englischer Sprache aber von Dichtern verfaßt worden ist, die weder Engländer noch Amerikaner sind. Der Grund, warum ich das nicht tat, war der, daß man, um über afrikanische, australische, neuseeländische, karibische oder kanadische Dichter schreiben zu können, einiges über ihren Hintergrund, über die sprachlichen und sonstigen Bedingungen ihrer Arbeit wissen muß; ich hatte aber nie, und sei es auch nur zu kurzen Besuchen, irgendwelche außereuropäischen Länder besucht, mit Ausnahme der USA und einiger Ausflüge nach Kanada. Zumindest ein australischer Dichter, Les Murray, hätte mich dennoch dazu verleiten können, die erwähnte Beschränkung zu durchbrechen, wenn ich zur Zeit der Abfassung dieses Buches seine Werke gekannt hätte oder Gelegenheit gehabt hätte, seine erhellenden Ausführungen über seine Situation als australischer Bereicherer seiner Landessprache zu lesen – ein Lichtblick in meiner allgemeinen Unwissenheit, der sich mir aber leider zu spät für dieses Buch eröffnete. Ungefähr dasselbe gilt für einige kanadische Lyriker, deren Arbeiten ich 1968 noch nicht kannte. Aber es wäre ein starkes Wagnis gewesen, wäre ich über die sowieso ziemlich weiten Grenzen, die ich mir gezogen hatte, hinausgegangen. Viele Leser werden sie sowieso zu weit gesteckt finden.
Als die Truth of Poetry zum ersten Mal erschien, wurde das Buch in einer Wochenzeitung als ein Beitrag zur „vergleichenden Literaturwissenschaft“ angegriffen. Meine Entgegnung auf diesen Angriff war ähnlich der von M. Jourdain, als er erfuhr, daß er sein ganzes Leben lang Prosa gesprochen hatte. Um dieses Buch zu schreiben und die dazu nötige Lektüre leisten zu können, hatte ich tatsächlich eine Universitätskarriere aufgegeben, aber eine Karriere als germanistischer Literaturwissenschaftler. Die für dieses Fach erforderliche Spezialisierung erwies sich als unvereinbar mit der Abfassung eines Buches, dessen Konzeption und dessen erste Entwürfe mehr als zehn Jahre vor der Veröffentlichung lagen. Wahrend dieser ganzen Zeit hatte ich nur eine ganz vage Vorstellung davon, daß es da noch eine andere akademische Disziplin gab, die sich „vergleichende Literaturwissenschaft“ nannte. Wenn ich mich dafür entschieden hatte, über Gedichte aus mehr als einer Sprache zu schreiben, so hatte ich das getan, weil es mir selbstverständlich schien – und noch immer scheint –, daß man bei dem Versuch herauszufinden, was Dichtung tut, was sie tun kann und nicht tun kann, sein Beispielmaterial aus einem möglichst weiten Bereich nehmen muß. Auch meine Schriften über deutsche Literatur waren immer aus einem bewußten Mitbedenken anderer Literaturen hervorgegangen; und schon allein die Annahme, man könnte Nationalliteraturen abgesondert und für sich studieren, ist eine zweifelhafte und relativ spät aufgetauchte Ansicht. Was Europa betrifft, so ist zu sagen, daß Literaturen mit geschlossenen Grenzen Ausnahmeerscheinungen waren und keinesfalls die Regel; und zumindest in dieser Beziehung ist England ein Teil Europas. Ein einziger Blick auf die englische Literaturgeschichte vom Mittelalter bis zum Anfang der Romantik – oder sogar bis zu den letzten Zügen der Romantik in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts – zeigt, daß die betonte Insularität, die in gewissen Kreisen heute propagiert wird, eine hoffnungslose Simplifizierung ist.
Was nicht heißen soll, daß mein Buch als ein Plädoyer für den Internationalismus der Lyrik gedacht war. Es hat ebensoviel über die tatsächlichen und notwendigen Unterschiede zwischen einer Kulturtradition und einer anderen zu sagen wie über das Ineinanderfließen und Parallellaufen von nationalen Literaturentwicklungen; und sein völliges Ausklammern jener zwanghaften Theoriebesessenheit, die noch immer in Frankreich und Italien nicht nur die Literaturkritik, sondern sogar die Praxis von schöpferischen Autoren bestimmt, muß es zwangsläufig auf eine typisch englische Art provinziell und dilettantisch erscheinen lassen, zumindest bei denen, die den schöpferischen Prozeß modischen Theorien über das, was Literatur angeblich sein sollte, untergeordnet haben. Die Truth of Poetry ist also sowohl der Argumentationsweise als auch dem Inhalt nach die Arbeit nicht nur eines Nicht-Spezialisten, sondern eines Anti-Spezialisten, der noch heute, ebenso wie zur Zeit der Abfassung, davon überzeugt ist, daß das, was das Überleben der Dichtung bedroht, nichts anderes ist als das, was das Überleben jeder Art von Wahrheit, jeder Art von sinnvoller Tätigkeit bedroht – nämlich unsere zerstückelnden und zerstückelten Spezialisierungen, seien sie nun bürokratisch technisch ökonomisch oder politisch. Solange diese Bedrohung in Schach gehalten werden kann, so lange wird es wahrscheinlich Dichtung dieser oder jener Art geben, denn Dichtung ist ebenso zählebig und anpassungsfähig wie ihr Erzeuger, der homo faber; und ihre Wahrheiten werden immer einerseits von den Bedingungen ihres Überlebens abhängig sein und andererseits doch absolut bleiben aus ihrem Bedürfnis heraus, diese Bedingungen zu transzendieren.
Was sich in diesen vierzehn Jahren verändert hat, ist das Theorieverständnis, der Jargon und die verordneten Rezepte. Dort wo diese Dinge ernster genommen werden als in England, hat sich auch die Beachtung, die diesem oder jenem Dichter oder dieser oder jener Dichtergruppe von der Kritik geschenkt wird, entsprechend verschoben. In Westdeutschland etwa wurde die Neo-Brechtsche Minimalpoesie der kritischen Stellungnahme zu politischen oder gesellschaftlichen Fragen in den frühen siebziger Jahren abgelöst durch eine offenere, mitteilsamere „neue Subjektivität“, die wieder Platz hatte für das individuelle Bewußtsein und das spontane persönliche Erleben; aber dieser Pendelschlag brachte diese Art von Lyrik nur näher heran an die lyrischen Arbeiten, die in den vorausgehenden Jahrzehnten von amerikanischen und britischen Autoren geschrieben worden war. Zwei der begabtesten Vertreter dieser „neuen Subjektivität“, Rolf Dieter Brinkmann und Nicolas Born, starben frühzeitig, gerade als diese Richtung ihren Höhepunkt erreicht hatte. Zur selben Zeit gab es eine massenhafte Abwanderung von ostdeutschen Lyrikern, die sich nach Westdeutschland oder nach der Schweiz absetzten und dies führte zu einer plötzlichen Gleichgewichtsverlagerung zwischen den beiden politisch getrennten Literaturen und konfrontierte die Ausgewanderten mit der Notwendigkeit drastischer Neuorientierungen; diese waren nur insofern weniger extrem als diejenigen, denen sich Joseph Brodsky seit seiner Emigration in die USA gegenübergestellt sah, als sie sich nicht auf die Sprache der betroffenen Lyriker erstreckten. Ebenfalls während dieser Zeit fand ein westdeutscher Dichter, Ernst Meister, der sich kaum um die wechselnden Trends gekümmert hatte und deshalb sehr wenig Aufmerksamkeit erregt hatte, verspätet die ihm gebührende Anerkennung und starb dann genau an dem Tag, an dem ihn die Nachricht von der Verleihung des ehrenvollen Büchner-Preises erreichte.
Die düstere Ironie dieses Zufalls wäre weniger schmerzlich gewesen, wenn Westdeutschland nicht eines der europäischen Länder wäre in denen ernste Literatur in der Öffentlichkeit ernst genommen wird – zumindest in Form von gelegentlichen Lippenbekenntnissen selbst von Seiten der Politiker, der Industriellen und der Medien –; in denen unpopuläre Autoren nicht verachtet oder einfach nicht beachtet werden, sondern Respekt dafür ernten, daß sie ihren eigenen Maßstäben treu bleiben; und in denen Literatur als Berufung immer noch unterschieden wird von der Literatur als Geschäft. Ein solcher Zustand mag gut oder auch schlecht sein für die Seele von Dichtern – manchen von ihnen wird nie die Lektion in Bescheidenheit und Ausdauer im Angesicht öffentlicher Gleichgültigkeit zuteil, die ihren Kollegen in den Ländern, in denen der Lyriker sich seines (Handels-)Wertes in der Gesellschaft ständig bewußt sein muß, so reichlich erteilt wird – aber ein solcher Zustand ist gut für die Lyrik selber. Im Falle von Ernst Meister war es so, daß er es sich leisten konnte, auszuharren und weiterzuproduzieren zu seinen eigenen Bedingungen – nur die Mode und die Trends standen ihm entgegen. In anderen Ländern sind die Schwierigkeiten, gegen die bedeutende Lyrik ankämpfen muß, aus anderen Gründen überwältigend groß geworden – dort will man keine bedeutenden Werke, das Trachten danach wird als Anmaßung empfunden, und die allzueng miteinander verflochtene Zunft der Wissenschaftler und Zeitungsleute, die die Reputationen manipulieren, hat ein besonderes Vergnügen daran, ein solches Bemühen verächtlich zu machen. In England hat ein Suchender wie der verstorbene John Riley vor seinem Tod nie vermocht, diese Barriere zu durchbrechen, weil ihn die Kritiker in einen „Untergrund“ oder fringe verbannten, der von der Mehrzahl der allgemeinen Presse nicht für würdig befunden wird, zur Kenntnis genommen zu werden, ganz gleich, ob er es verdient oder nicht. Es besteht kein Zweifel, daß John Riley, ebenso wie Basil Bunting oder Roy Fisher vor ihm, im Laufe eines Lebens aus dieser Hölle des Übersehenwerdens aufgetaucht wäre, wäre er nicht so früh einem Mord zum Opfer gefallen; aber die Barriere ist heute noch undurchdringlicher als sie 1968 war. Auch unsere unmittelbare Gegenwart sieht aus wie ein „Zeitalter ohne jeden Fixpunkt“ – bis auf die wachsende Bedrohung von einem Punkt aus, der außerhalb der Reichweite dieses Buches liegt. Unter die offenkundigen Gründe dafür zählt nicht nur die riesige Zahl von Lyrikern, die am Werk sind – der schlaue Yeats erkannte darin schon beinahe vor einem Jahrhundert ein Hindernis und sann auf sichere Wege, dieses Hindernis zu umgehen –, sondern auch ihre ungeheure Verschiedenheit und die Unfähigkeit der Kritiker, aus dieser Verschiedenheit auf andere Art auszusieben als nach Maßgabe ihrer Parteilichkeit, um nicht zu sagen kollegialen Verfilztheit. Die weniger offensichtlichen Gründe für die geschilderte Situation hängen mit dem Allgemeinzustand der Gesellschaft und des Erziehungswesens, mit den Verhaltensgewohnheiten und moralischen Ansichten ebensosehr zusammen wie mit der Entwicklung des Geschmacks und der Empfindungsweisen. Nichts, was mit der Rezeption und Funktion von Dichtung zu tun hat, kann international abgehandelt werden – so interessant Vergleiche sein können –, sondern verlangt detaillierte Analysen der gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen, um die es sich handelt. Das wäre ebenfalls ein Thema für ein weiteres Buch – und vielleicht für einen anderen Autor, der für dieses Thema besser qualifiziert ist als ich.
Alle derartigen Veränderungen und Vorgänge – und zahllose, unzählbare derartige Dinge vollziehen sich auf der ganzen Welt, während ich schreibe – gehören zu der Geschichte, welche dieses Buch nur da und dort berühren konnte, dort wo die Spannungen, die sein eigentliches Thema sind, durch ihren Einfluß besonders verstärkt wurden. Die Erkenntnis, daß sich diese Spannungen zu Katastrophen auswachsen können, war ein Teil jenes Bewußtseins, aus dem heraus das Buch geschrieben wurde; und jeder Leser, der sich auf es einläßt, kann all das, was es an nützlichen Erkenntnissen enthalten mag, ausweiten und auf spätere Entwicklungen anwenden, und ebenso auf die vielen Dichter und Gedichte, die das Buch hätte mit aufnehmen können, die es aber – aus Gründen, die nichts mit der Chronologie zu tun haben – nicht aufgenommen hat.
Obwohl es weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene je so etwas wie eine geradlinige Entwicklung der Kunst gegeben hat, und obwohl es 1968 ebenso klar zutage trat wie 1982, daß die verschiedenen Bewegungen der Moderne viel von ihrem Schwung verloren haben, gibt es einen bezeichnenden Unterschied zwischen diesen beiden Jahrzehnten: heute werden in den meisten der Literaturen, aus denen ich mein Beispielmaterial bezog, die Avantgarden als viel weniger aufregend empfunden als damals. Eine sehr einfache Erklärung dafür mag sein, daß dort, wo es um das schiere Überleben geht, der Fortschritt so etwas wie ein Luxus wird. Aber im Bereich des individuellen Vollbringens ist und bleibt die Weiterentwicklung in der Kunst genauso unerläßlich wie in anderen Tätigkeitsbereichen, denn die Alternative ist Stagnation und Verfall. Wir haben heute mehr und mehr Grund, gegenüber dem Glauben des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts an einen steten Fortschritt an allen Fronten skeptisch zu sein – und Avantgarde ist ein militärischer Terminus; aber es gibt nicht einen guten Grund dafür, die authentischen und notwendigen Innovationen der Moderne zu verwerfen.
In jedem Meinungs- und Überzeugungsklima ist es die Aufgabe der Dichter, zu den Möglichkeiten ihres Mediums, der Sprache, Neues hinzuzugewinnen, wobei dies freilich ebenso durch den Blick rückwärts wie durch den Blick nach vorne geschehen kann – solange diese Blicke nur aus einem ehrlichen Suchen entspringen. „Die Kunst beschäftigt sich mit dem Schweren und Guten“, bemerkte Goethe nach einem lebenslangen Ausschauhalten in alle Richtungen. Kein Wandel der Stimmung oder der Lage kann der Wahrheit dieser umfassenden Aussage irgend etwas anhaben.

Michael Hamburger, Nachwort

 

Das Standartwerk über die moderne Poesie

ist ein brillanter Versuch, das Wesen, die Voraussetzungen und die Funktionen der modernen Lyrik zu begreifen.

Wahrheit und Poesie ist ein grundlegender Beitrag zur modernen Ästhetik (The Times), eine hilfreiche und eindringliche Studie zur europäischen und englischsprachigen Poesie der letzten hundert Jahre (Library Journal) und als Führer zu den bedeutendsten dichterischen Werken der Zeit von 1880 bis zur Gegenwart von eminenter Wichtigkeit (The Sunday Times). Bis heute gilt das Werk auch dem universitären Betrieb als eines der wissenschaftlichen Grundlagenwerke für die literarische Analyse – zumal es von einem Autor, der selbst Dichter und Übersetzer ist, mit dessen ganzem Einfühlungsvermögen verfasst worden ist.

Folio Verlag, Ankündigung, 1995

 

Still He Is Turning – Michael Hamburger

Im Oktober 2002 nahm ich Kontakt zu Michael Hamburger auf, um ihn für Ein Dach aus Laub, den vierten handgeschriebenen Sammelband in der edition bauwagen zu gewinnen. In den darauf folgenden Wochen und Monaten gingen Briefe hin und her, wir sprachen fernmündlich wiederholt miteinander und lasen die jeweils neuen Publikationen des anderen. Seit Mitte der 1980er Jahre (während ich mich intensiv mit der Lyrik von Richard Burns auseinandersetzte, von dem ich zwei Bände ins Deutsche übertragen habe) las ich immer wieder einzelne Gedichte von Michael Hamburger. Mein eigentlicher „Durchbruch“ zur fundamentalen Lyrik Michael Hamburgers erfolgte allerdings erst Ende 1997, als ich Unteilbar las, den bei Hanser erschienenen Sammelband mit Gedichten aus sechs Jahrzehnten. Unteilbar wirkt wie ein Vermächtnis. Die von verschiedensten Dichterkollegen ins Deutsche übertragenen und von Richard Dove zusammengestellten Gedichte klingen durchgängig wie deutsche Lyrik. Nur sind die im Deutschen so schwer mögliche Leichtigkeit vieler Verse sowie der direkte, offene, unverblümte Umgang mit den schwärzesten Kapiteln deutscher Geschichte Hinweise darauf, daß diese Gedichte ursprünglich in einer anderen Sprache geschrieben wurden. Michael Hamburger, dem wir wesentliche poetologische Anregungen verdanken, ist es gewesen, der die deutsche Lyrik nach dem Krieg in England entscheidend gefördert hat. Hierfür gebührt ihm ein besonderer literarischer Preis – obwohl er eher skeptisch ist gegenüber einer Gesellschaft, in der die literarischen Preise wichtiger sind als die eigentliche Wertung der Literatur. Unteilbar enthält Gedichte aus 60 Jahren. Es ist die fulminante Bestandsaufnahme eines lyrischen Lebens, in dem die Dinge sich ineinander verflechten und verschlingen und naturgemäß zu einem unteilbaren Ganzen werden. Michael Hamburger ist ein Dichter, dem bei aller argen Erinnerung und bei aller nüchterner Erkenntnis, daß seine Mahnungen nicht von den eigentlich Gemeinten gelesen werden, bei aller Skepsis vor dem Wort („Lebt wohl, Wörter, / Ich mochte euch nie. / …“) die Hoffnung – allen und allem zum Trotz – geblieben ist:

Ob für ihn oder für sie,
die aufgehört haben zu lesen oder zuzuhören,
für das Schweigen, das sie sind,
für das Schweigen, das all ihre Werke enthält,
oder für die, die mir unbekannt sind,
noch grabe ich statt nach Wurzeln nach Worten,
noch streue ich Worte aufs Papier.

Und er schreibt unbeirrt weiter: Michael Hamburger ist Zeit seines Lebens ein lyrischer Schwerarbeiter gewesen. Zahlreiche erst in den letzten Jahren in England, Deutschland und Österreich erschienene Titel, von denen ich mir einige besorgt habe, bezeugen es. [Als Geschenk zum 80. Geburtstag Michael Hamburgers verstehen sich die Übertragungen, die Sie in Unterhaltung mit der Muse des Alters (Hanser, München 2004) lesen können. 38 Menschen hat Herausgeber Richard Dove eingeladen, sich an diesem Geburtstagsprojekt zu beteiligen. Herausgekommen ist dabei auch ein Buch, daß die unterschiedlichen Stile zeitgenössischer Lyrik im deutschen Sprachraum nach 2000 spiegelt. Insofern ist Unterhaltung mit der Muse des Alltags ein in mehrfacher Hinsicht wahrhaft spannendes Buch: Zum einen lernen Sie eine Auswahl der Gedichte Hamburgers kennen, die er zwischen 1999 und 2004 in zwei Londoner Verlagen veröffentlichte, zum anderen lesen Sie, wie forsch und lebendig etwa Ulrike Draesner, Durs Grünbein oder Raoul Schrott mit Hamburgers Originalen umspringen. So ist Unterhaltung mit der Muse des Alltags nicht unbedingt ein stilistisch in sich geschlossenes lyrisches Werk, sondern eher ein erstklassiger Flickenteppich, den ich allerdings mit großer Freude in meinem Lyrikzimmer auslege.]

From A Diary of Non-Events erschien im Herbst 2002 bei Anvil in London. Ich las das 60seitige, als zyklisches Langgedicht in zwölf Kapitel „from December until November“ gegliederte Bändchen spät in der Nacht bei stürmischem Herbstwetter und ließ mich in die Landschaft von Michael Hamburgers Heimat Suffolk entführen (wo er in dem winzigen Weiler Middleton lebt), die die natürliche Grundierung bildet für elementare und vitale Verse „from death-in-life to life-in-death“.
Late heißt der 60seitige, 1997 bei Anvil erschienene Titel, der mir mehr und mehr die Spannweite der Hamburgersehen Lyrik vor Augen führt. „Still it is turning“ setzt das Poem hoffnungsfroh ein: late – but not too late!? [Michael Hamburger gestattete mir, für die Überschrift das „It“ durch „He“ zu ersetzen.] Verräterisch sind diese Verse:

Oh, but our cities, our CIVITAS,
Become more cruel by far
Than wilderness, worst of weathers
Within the shelter of walls,
[…]

So grausam die Natur ist (und auch Hamburger schreibt nie idyllische Naturgedichte, sondern ganz in der Tradition des Eliotschen „April is the cruellest month“ aus The Waste Land) – die Großstadt übertrifft diese natürliche Grausamkeit bei weitem. Und so heftig Zorn auch in Late, ebenfalls einem zyklisch angelegten Langgedicht, gelegentlich aufflammt: Hamburger ist kein engagierter Dichter oder gar politischer Dichter, sondern es geht ihm – ganz bewußt der Moderne seit Mallarmé verpflichtet – um die Sprache, um das Wort. Und hier zieht er die englische Sprache der deutschen entschieden vor: beispielsweise wegen ihres erheblich größeren Wortschatzes und der vielen einfacher strukturierten Wörter, die er besonders liebt und die er in der englischen Sprache, die er sich seit vielen, vielen Jahrzehnten anverwandelt hat, so zahlreich vorfindet. Das folgende Diktum Hamburgers unterstreicht nicht nur das soeben Gesagte:

Was nicht selbstverständlich ist, wird nicht ohne weiteres verstanden. Selbstverständliche Lyrik ist aber langweilig und überflüssig. Dabei liebe ich die Schlichtheit über alles, wenn sie sich aus der notwendigen Reduktion ergibt und keine falsche Naivität ist. Die Lyrik, die ich am meisten schätze, ist zugleich schlicht und rätselhaft, also schwierig. Ich bin der Meinung, daß man gute Gedichte zunächst gar nicht zu verstehen braucht. Erst erobern sie die Sinne, dann liefern sie sich dem Verstand aus. Denn Gedichte wollen und sollen in das sonst nicht Sagbare eindringen. Als Leser will ich dem Gedicht dorthin folgen.

Lesen Sie die auf Seite 95 zitierten vier Verse laut, und Sie hören sogleich, wie hier den Wörtern und der sprachlichen Form absoluter Vorrang vor der eingeschlossenen Botschaft gewährt wird. Die opulente Alliteration ermöglicht eine Musikalität, die Sie auch in den mehr erzählenden Gedichten Hamburgers stets antreffen. Hamburger kein politischer Dichter? Und wie kommt es dann zu einem Gedicht wie „In einer kalten Jahreszeit“ (einer Auseinandersetzung mit Eichmann) oder „Treblinka“ im 2000 im Wiener Folio Verlag als zweisprachige Ausgabe innerhalb des Editionsprojekts Michael Hamburger erschienenen Gedichtbuch In einer kalten Jahreszeit? Auch hier geht es nicht um Abrechnung oder Anklage. Hamburger versucht eher eine Entdämonisierung, wie er sie in den Romanen von Doderer erlebt hat (über den er einen kenntnisreichen Aufsatz geschrieben hat), die möglicherweise erschreckender ist als ihr Gegenteil. Die Banalität der Nazimaschinerie wird hier genial – auf einfachste Art und Weise – entlarvt: „Words cannot reach him in his prison of words / Whose word killed men because those men were words“. „Poems know better“, betont Hamburger, und nirgends wird dies deutlicher als in diesem Gedicht.
In dem Brief eines schreibenden Zeitgenossen lese ich als Anmerkung zu den eigenen Texten, er verfasse „Naturgedichte“, während ich in Hamburgers opus magnum Wahrheit und Poesie (Folio, Wien 1995) vom Unsinn solcher Zuschreibungen lese. Es gibt keine politischen Gedichte, Naturgedichte, Liebesgedichte im engeren Sinne, genauso wie es solcherart einzustufende Lyriker nicht gibt. Wer will ausgerechnet das stets und immer „ins Offene“ strebende Gedicht durch Einordnung in derart ungeordnete Begriffsschubladen einengen? Gedicht ist Gedicht ist Gedicht. Wahrheit und Poesie ist der groß angelegte und gelungene Versuch, sich anhand ausgewählter Einzelbeispiele dem zu nähern, was wir „moderne Gedichte“ nennen. Hamburger tut dies mit einer Gründlichkeit, die die Lektüre zu einer berauschenden Abenteuerreise werden läßt, bei der es hohe Klippen zu erklimmen, reißende Flüsse zu durchschwimmen und endlose Wüsten zu überwinden gilt, in denen mir permanent Sand in die Augen fliegt. Denn Lyrik, zumal moderne Lyrik, ist etwas, das wir nicht geschenkt bekommen. Manchmal ist sie sogar wie Knast bei Wasser und Brot. Aber alle diese Bilder sind natürlich schief. Wissen Sie was? Lesen Sie statt dieser Zeilen hier Michael Hamburgers Wahrheit und Poesie, ein Buch, das auf jeden Fall neben Hugo Friedrichs Die Struktur der modernen Lyrik gehört, mit dem sich Hamburger kurz und kritisch auseinandersetzt. Der große Unterschied: In Wahrheit und Poesie schreibt der Dichter über moderne Lyrik, in Die Struktur der modernen Lyrik der Literaturwissenschaftler. Beide Bücher haben mir viel gegeben und mich der Lyrik jeweils viele Schritte näher gebracht.
Wenige Tage später lese ich die 450 Seiten der Collected Poems (Anvil, London 1995) innerhalb von 24 Stunden; zahlreiche Gedichte daraus hatte ich ja vor ein paar Jahren in Unteilbar auf deutsch gelesen, andere in Anthologien oder schmaleren Einzeltiteln. Was für dichterische Dimensionen! Ich werde mehrfach in den frühen Morgenstunden wach und bin begeistert und mitgerissen, fühle mich beseelt. Wieder wird mir die unerschöpfliche Schaffenskraft, die lyrische Spannweite der weltumspannenden, verschiedenste (auch „antipoetische“) Tonarten und Personae einschließenden Verse des Kosmopoliten Michael Hamburger Seite um Seite vor Augen geführt – nur diesmal noch intensiver. Gedichte aus über 50 Jahren von 1941 bis 1994, denen ja mittlerweile schon wieder eine Reihe von Zyklen gefolgt sind: Still he is turning!
Sein Werk wird in erster Linie von drei Verlagen betreut: Anvil Press London mit den englischen Erstausgaben, der Folio Verlag Wien mit der zweisprachigen Werkausgabe und der Carl Hanser Verlag München mit deutschen Übertragungen. Entscheiden Sie, womit Sie beginnen wollen, wenn Sie es noch nicht getan haben. Michael Hamburger gehört zu den großen Dichtern der letzten Jahrzehnte. Das letzte Wort überlasse ich dem großen Dichter Michael Hamburger, der am 22. März 2004 das 80. Lebensjahr vollendete, mit einem Vierzeiler aus den 1960er Jahren:

PROGRESS

Take rhetoric and wring its neck.
Ditto with anti-rhetoric.
Then, poet, all temptation gone
To fake or posture, wring your own.

P.S. Unmittelbar vor dem Redaktionsschluß von Aus dem Hinterland erreichen mich zwei druckfrische Bücher von bzw. über Michael Hamburger: Baumgedichte (Folio, Bozen und Wien 2005) und Peter Waterhouse, Die Nicht-Anschauung. Versuche über die Dichtung von Michael Hamburger (Folio, Wien und Bozen 2005), ein Buch, in dem ich eine Audio-CD mit von Michael Hamburger und Ian Galbraith gesprochenen Gedichten entdecke. „But silence mends: we are safe“, lauten die ersten Wörter, die ich beim zufälligen Aufschlagen der Baumgedichte lese, und der erste Blick auf Die Nicht-Anschauung konfrontiert mich mit dieser Erkenntnis von Peter Waterhouse, dem Hamburger-Experten schlechthin: „Es gibt in Michael Hamburgers Gedichten eine Untrennbarkeit, die dem Augensinn fast entgegensteht: Sehen scheint eine Grenze zu ziehen, Sehen klassifiziert, trennt Eigenes und Anderes, ist wie eine Umzingelung. Sehen vielleicht ein Gefängnis.“ Wir werden sehen.

Theo Breuer, aus: Theo Breuer: Aus dem Hinterland, Edition YE, 2005

 

W.G. Sebald besucht Michael Hamburger. Ein Text aus dem W.G. Sebald-Forum für den ausgewanderten Schriftsteller, Wanderer, Germanisten, Autor des Elementargedichts „Nach der Natur“ und  weiterer Werke. Eingerichtet von Christian Wirth.

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLfGIMDb + Archiv +
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Nachrufe auf Michael Hamburger: P.E.N. ✝ Die Zeit ✝ BZSZ

 

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Michael Hamburger

 

Michael Hamburger – Ein englischer Dichter aus Deutschland. Ein Film von Frank Wierke (hier in voller Länge).

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