Michael Krüger: Zu Karl Kraus’ Gedicht „Man frage nicht…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Karl Kraus’ Gedicht „Man frage nicht…“ aus Hans Wollschläger (Hrsg.): Das Karl Kraus Lesebuch. –

 

 

 

 

KARL KRAUS

Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.

 

Das Schweigen des Beredten

Wenn die Menschheit keine Phrasen hätte, bräuchte sie keine Waffen.

1933, als dieses zu Herz und Hirn gehende Gedicht geschrieben wurde, gab es von beidem genug; seither leben wir davon, und nicht einmal schlecht. Phrasen und Waffen machen die letzten Tage der Menschheit zu einer festlichen Dauereinrichtung jenseits des Kalenders: die letzten Tage werden nicht bang gezählt, sondern mit Worten zugeschüttet.
Karl Kraus, dem es selten die Sprache verschlug, der bis zur Besserwisserei stets das letzte Wort behalten wollte und dessen letzte Worte „Pfui Teufel“ gewesen sein sollen, der mit angstmachender Beredsamkeit den Strom der verhunzten und mißbrauchten Sprache zum Halten bringen wollte und aus Angst vor den zu erwartenden Phrasen sogar seinen eigenen Nachruf aufsetzte – dieser Karl Kraus kommentierte im 888. Heft der Fackel, das im Oktober 1933 nach langer Pause erschien, die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler vom 30. Januar des Jahres mit einem zehnzeiligen Gedicht. Davor ließ er nur noch die Totenrede auf Adolf Loos setzen. Sprachkritik, Analyse, Wut, Aggressivität und Spott – Eigenschaften und Vermögen, über die er wie kein anderer seiner Zeit verfügte, fielen von ihm ab:

Kein Wort, das traf.

Müde und gewissenhaft, mit letzter Anstrengung, hält er sich an die Form, um auf das Chaos antworten zu können; klammert er sich an den gliedernden und ordnenden Reim, um im Mahlstrom der lügenhaften Rede nicht unterzugehen.
Ein Gedicht über die Sprachlosigkeit, das sprachlos macht. Wer dessen tiefe Traurigkeit in diesem sich redselig an der Katastrophe vorbeischmuggelnden Jahrhundert nicht versteht, hat weder von Karl Kraus noch von der Literatur und ihrer Funktion etwas verstanden.
Brecht hatte verstanden. Er schrieb zu den zehn Zeilen einen beredten Kommentar in Versen, der mit dem Satz endet:

Als der Beredte sich entschuldigte
Daß seine Stimme versage
Trat das Schweigen vor den Richtertisch
Nahm das Tuch vom Antlitz und
Gab sich zu erkennen als Zeuge.

Was danach passierte, ist bekannt. Kraus optierte für Dollfuß, in der Meinung, gegen den Faschismus Partei zu ergreifen. Im Februar 1934 ließ Dollfuß auf Arbeiter schießen. Brecht, dem die Worte nie ausgingen, schickte dem ersten ein zweites Gedicht hinterher:

Welch eine Zeit, sagten wir schaudernd
Wo der Gutwillige, aber Unwissende
Noch nicht die kleine Zeit warten kann mit der Untat
Bis das Lob seiner guten Tat ihn erreic
ht.

Kraus starb 1936, zwei Jahre vor dem Anschluß Österreichs ans Deutsche Reich. Hätte er, dem die Stimme für einen Moment ausblieb, gewußt, für welche Partei er Partei ergriffen hatte, hätte er weiter geschwiegen; und hätte er erlebt, welche Partei, auch durch sein Schweigen, an die Macht kam, dann wäre er von ihr erschlagen worden.
Diese kleine Geschichte erzählt das Gedicht ohne Titel über das Schweigen.

Michael Krüger, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechster Band, Insel Verlag, 1982

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