Michael Lentz: Aller Ding

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Michael Lentz: Aller Ding

Lentz-Aller Ding

EIN LEICHTES
die dinge beim namen zu nennen
aber dem namen gestalt zu sein
− grenze und kontur −:
das nämlich hieße nur
kruste knute kostüm
darin der wind sich fängt
rasselndes kindergesicht aus blech
seit platon steht die sonne still
und kein schatten der erde
kein wort
scheint selig in sich selbst

 

Michael Lentz liest im Lyrik Kabinett München am 6.3.2003 aus seinem Band Aller Ding. Einleitung Ursula Haeusgen, Einführung Wieland Freund und Lesung Michael Lentz.

 

 

 

Inhalt

Aller Ding: ein Band mit neuen Gedichten des Bachmann-Preisträgers Michael Lentz. Ungewöhnlich ist allein schon das Spektrum des Bandes. Traditionelle Gebilde stehen neben „Liebesgedichten“, sogenannten „erweiterten Fundstücken“ und „Einworten“. Kapitel wie „Gedichtete Gedichte“ oder „Reim und Schlamm“ versammeln Poeme, in denen Tradition und Experiment zu einer sprachlichen Einheit verschmelzen. Aller Ding erprobt unterschiedliche Haltungen und Tonfälle, lotet auch formale Grenzen aus und zeigt sich so ganz frei von sprachmodischen Zwängen. Zwischen „todernst“ und „lebensheiter“ liegt das Alphabet, unser aller Ding.

S. Fischer Verlag, Ankündigung

 

Dieter Schnebel, leer sich betend

− „Anagramm? Mmargana!“ bescheidet uns der Bachmann-Preisträger Michael Lentz. –

In dem Film Shining von Stanley Kubrick gibt es eine Szene von grausiger Intensität: Die Frau des Schriftstellers (gespielt von Jack Nicholson), der sich mit ihr und ihrem kleinen Sohn zusammen in ein einsames winterliches Berghotel vergraben hat, nützt eine unbeaufsichtigte Minute, um einen Blick in das Manuskript zu tun, das er Tag und Nacht auf seiner alten Schreibmaschine hämmert. Auf der ersten Seite steht nichts als unzählige Male untereinander „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“ (oder ein ähnlicher Spruch – in Filmen kann man ja leider nicht nachschlagen wie in Büchern); rasch blättert sie weiter, dasselbe wiederholt sich auf der zweiten Seite, der dritten, der zehnten, der dreißigsten; sie lässt das Manuskript sinken; entsetzt erkennt sie, dass ihr Mann wahnsinnig geworden ist, und sie und ihr Sohn in höchster Lebensgefahr sind.
Von solchem Entsetzen ist der Lektor verschont geblieben, als er das Gedicht-Skript von Michael Lentz zur Hand nahm. „Dieter Schnebel“, sah er da, „eine Erzählung, laut zu lesen“. Sie begann: „Belichtender. Es / eilt. Brechendes / Teil, Brechendes / brechend, teil es / brechend, leiste / brechend Eitles.“ Dann hat er wohl ein paar Strophen überschlagen, blätterte um und fand: „Berichte lesend, / sende erbleicht / Elendsberichte:“ Blättern, weiter: „blies echter den / der echten Silbe / Eden, recht Silbe / Echtsilbe reden / deren Silbe echt.“ Blättern, weiter: „Betend Schleier, betend Sichel er- / betend ich, Leser / leer sich betend.“ Blättern, weiter: „Tischrede Leben, / es leben Dichter / dichtes Leben, er / erdichte Lebens / Besen: Erde, licht“ – bis zum Schluss, der da lautet: „Liebster HC: Ende / Dieter Schnebel“, alles in allem 251mal ein zeilenweises Anagramm aus dieser heillosen Kunstfigur. Der Lektor erschrak nicht, weil er einsah, dass es sich bei diesem Wahnsinn um eine ungefährliche Variante handelt, die höchstens durch Langeweile tötet, nämlich den trocken-pedantischen Aberglauben, dass Sprache keineswegs zu Bezeichnungen dient, sondern ausschließlich als Material zu handhaben sei.
Faul mag man diese Witze des Bachmann-Preisträgers Michael Lentz gar nicht nennen, denn bei Fäulnis schweben einem Gärung und Flüssigkeit vor, während hier, was verwelkt ist, klappert. Vier „sonette“ erscheinen nacheinander. Das erste geht: „sonett / sonett / sonett / sonett“ usw., dann abschließend „terzett / terzett / terzett“ usw. Das zweite arbeitet mit Beirrungen, es geht: „terzett / terzett / terzett / terzett“ usw. – man versteht, das sind in Wahrheit die Quartette, aber Lentz schreibt Terzett! Na, und dann kommen eben noch zwei von der Sorte, das letzte einfach „a / b / b / a // a / b / b / a // c / c / d // e / e / d.“ Ein Meisterwerk kritisch gebrochenen Umgangs mit der Tradition! Da können Naivlinge wie Petrarca und Gryphius zusperren.

Etwas wenig
Die drittletzte Abteilung dieses Bandes, den man bei seiner hübschen sauberen Aufmachung auch gern als Notizbuch zweitverwenden kann, wenn man sich an den hier und dort auftretenden Buchstabengruppen nicht weiter stört, trägt den Titel „Zwei Zeilen“ und enthält Perlen wie die folgende: „etwas / wenig“. Dies zwar denkt sich der Leser auch, aber ihm ist durch die Selbstanzeige sozusagen der Wind aus den Segeln genommen. Es war jedoch noch vergleichsweise geschwätzig, denn jetzt lässt Michael Lentz die Abteilung „Einzeilen“ folgen. Man ist nun doch wieder gespannt, was an komprimiertem Ausdruck eine Zeile tragen kann. Zum Beispiel solchen: „alles weiterhin“, das lässt aufhorchen; oder „es ist nicht so dass“. Wie aber wäre es dann? Oder „sex ist kein thema“. So blütenrein, abgesehen von diesem schroffen Verweis, ist die Seite, dass man sich sofort fühlt, als wäre man einer Unschuld zu nahe getreten. Und: „aller ding“ – das nun erschien Autor und Verlag so geglückt, dass sie es zum Titel erhoben.
Die Bremsspur, die dieser überschwengliche Geist aufs Pflaster zieht, ehe es ihm gelingt, zum Stillstand zu kommen, ist jedoch noch länger. „Einworte“ machen den Kehraus, „ausnahmsweise“, „STARREN“, „machtverhältnisse“, „sachenmachen“. Da denkt sich doch so manches! Durch ein Versehen beim Binden des Buches müssen die Nullworte verloren gegangen sein, ein Umstand, der sich kaum verschmerzen lässt. Dem betrogenen Leser bleibt schlechterdings nur übrig, ein paar Bogen leeres Schreibmaschinenpapier zu nehmen, sie entsprechend zurechtzuschneiden, ins Buch einzulegen und darüber auf eigene Faust ein Anagramm des Nichts vor sich hin zu schweigen.

Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 31.3.2003

Kleines, doch auch großes Blech

− Ein Sprachkonzert, frei nach Heißenbüttel, Pastior und Jandl: In seinen Gedichten gräbt Michael Lentz eher flach als tief. –

Kein Zweifel: Der Bachmann-Preisträger Michael Lentz, der mit der rasanten Prosa von Muttersterben beeindruckte, ist ein shooting star unter den jungen Autoren. Ob sein Glanz am Literaturhimmel sich weiter entfalten wird, mag Liebeserklärung zeigen, sein für den Herbst angekündigtes Romandebüt. Bei der Lyrik von Lentz sind allemal Zweifel angebracht.
Sein Gedichtband Aller Ding kommt mit fast zweihundert Seiten üppig daher, ist aber ein mageres Buch – ein Fake der Fülle. Mager ist es, weil ein Drittel des Buches nur mit ein, zwei Zeilen bedruckt ist. Mager, weil der Autor die Spiele der konkreten Poesie noch einmal nachspielt. Mager, weil er den Leser daran hindern möchte, die Leere seiner Texte leer zu nennen. Der Autor zwinkert uns zu, möchte uns durch Ironie korrumpieren. Er selber gibt den Kaiser, der nackt ist. Und wer möchte schon als ironielos gelten, gar als humorlos?
Zum Glück sind die Fallen so aufgestellt, daß vermutlich kaum ein Leser hineintappt. Er liest auf Seite 144 ganze zwei Zeilen: „etwas / wenig“. Das denkt er schon die ganze Zeit. Doch wenn er jetzt nickt, weiß er: Er hat etwas falsch gemacht. Die Frage auf Seite 163, „was soll ich daran sagen“, bleibt ihm im Halse stecken – denn natürlich hat er sich verlesen: was soll ich dazu sagen? So akklamiert er womöglich übereilt der Einzelzeile auf der letzten Seite: „so! jetzt reicht es nicht.“
Aber reicht es denn wirklich? Es sind ja geläufige Übungen der Einschüchterung, die der auch nur halb gewitzte Leser sofort pariert. Sie gehören zur bekannten Modernitätsfalle. Das Publikum, ohnehin gesättigt und oberflächenfixiert, ist bereit, jede kokette ästhetische Ambition unbeeindruckt zu konzedieren. Die Kritik übrigens nicht minder. Sie nimmt die Frechheit für Könnerschaft.
Aber zumindest Kennerschaft darf man Lentz zubilligen. Er kennt die Tradition der Experimentellen und Konkreten, er hat sie studiert. Vielleicht bis zum Überdruß. Er weiß, was sie gemacht haben. Und macht es noch mal, wenn es ihm paßt. Er ist dekorativ wie Gomringer, verbissen wie Heißenbüttel, anagrammatisch wie Pastior, verjuxt wie Jandl. Das heißt: Er ist alles und nichts. Er verläßt im nächsten Text, was der vorige noch demonstriert hat. Er ist so frei. Aber nicht mehr. Er nimmt sich Pounds Losung zum Motto: „Hier graben“. Aber was er ausgräbt, sind alte Hüte. Die schwenkt er lustig in der Luft. Und fragt: Kennt ihr den?
Kennt ihr die Sache mit dem Sonett, das nur aus seinem Reimschema besteht – abba und so? Oder aus der Wiederholung des Wortes Sonett? Vierzehnmal „sonett“ – kennen wir, sagen wir. Haben wir schon bei Jandl gesehen. – Aber ich habe das Wort „sonett“ durchgestrichen! Also sonett. Und außerdem eine Anmerkung geschrieben: Siehe Jandl. Da staunt ihr, was?
Ja, da staunen wir. Aber wir staunen nicht so oft und so sehr, wie es für den Genuß der meisten Texte nötig wäre. In der ersten Abteilung „Reim und Schlamm“ finden wir vom Versprochenen immerhin einiges, nämlich Reim und Schlamm in zuträglicher Mischung. Hier gibt Lentz sich als Bruder Lustig, der ein Lachprogramm aufstellt. Er macht sich ’ne Liste: „mit was einfällt und doch standhält / denn das biste“. Und was ist Lentz, der Poet? „ein lachsack tränenreich / ein blech so butterweich / eine bunte lampe / und auch mal bitterpampe…“. Man könnte es durchaus weiterzitieren – dieses heiter-witzige Selbstbild, das sich freilich in den meisten Stücken des Bandes nicht herstellt.
Was ihm sonst einfällt, ist ein Mix bekannter Zutaten, darin Mörikes „Tännlein“ zu „zündholz und mayröcker“ kommt: Dazwischen „klirrts“ wie bei Hölderlin – aber nicht zu sehr, denn winterlich ist durchgestrichen. Einiges eignet sich fürs Kinderbuch: „ohne ,b‘ wird aus der beule / eine wunderschöne eule.“ Aber ohne ,t‘ wird aus Lentz kein Frühling. Wie auch immer. Hier gilt Brechts Ansicht, Lyriker sollten keine Ärmel tragen, damit sie keine Verse aus ihnen schütteln können.
Einmal zumindest hat Michael Lentz die Ärmel enorm aufgekrempelt. Nämlich in seinem über neun Seiten reichenden Anagrammgedicht auf Dieter Schnebel. Diesen Text hat keiner der bisherigen Rezensenten loben wollen. Ich tue es. Zwar heißt es dort:

Redest ein Blech,
bricht es Elende
beeilend rechts,
berieselnd echt,
reitendes Blech,
Blech redest nie.

Doch hier ist die Selbstdenunziation mehr als ein ironischer Gag. Hier hat das Anagramm etwas von seiner ursprünglichen religiösen Potenz, die zu dem Werk des angesprochenen Komponisten paßt. Der Schluß wird zu einem furiosen Sprachkonzert, in dem das große Blech den Ton angibt. Ein Sprechstück, das man vom Sprechkünstler Lentz wohl gern hören würde.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.6.2003

Bier trinken gegen die Sinnflut

Der Ingeborg-Bachmann-Preisträger Michael Lentz hat einen schönen Gedichtband herausgegeben. Er heißt Aller Ding. Er enthält nicht sonderlich viel Text, viele Seiten sind fast leer. Wozu der Romanautor Seite um Seite braucht, dafür genügen dem Lyriker wenige Sätze: Zum Beispiel ein ganzer Schauerroman, gefasst in einer einzigen, unheilvollen Beobachtung:

ich dachte da war schimmel.
da war kein schimmel. nur so ETWAS.

Dem „ETWAS“ (diese Kürzesttexte stehen jeweils ganz oben am Blatt) folgt edle, cremefarbene Leere. Da kommt der Leser ins Grübeln. Was ist mit diesem ETWAS? Und: schönes Papier. Denkt sich der Leser auch. Könnte man direkt raustrennen und einen Brief darauf schreiben. Mit Michael Lentz als Briefkopf! Das wär doch mal was. So ungefähr laufen die Überlegungen des praktisch denkenden Lesers, der fast leere Seiten in einem Buch ja doch nicht gewohnt ist. Der dann weiterblättert und auf ein anderes – was sind das eigentlich? Gedichte? Fundstücke? Notizen für eine Erzählung? – Textchen trifft. „etwas / wenig“ steht da oben an der Seite, fein säuberlich übereinander geschrieben. Das ist lustig. Auch das mit dem „schimmel“ war lustig. Überhaupt sind viele dieser Dinger sehr komisch, aber längst nicht alle. Aller Ding pendelt zwischen Witz und Melancholie, zwischen Texten, die den Leser anspringen, und andern, die ihn in ein Verswerk von täuschend einfacher Brillanz hineinsaugen. Die ersten Gedichte sind seitenfüllend. Eine ganze Bibliothek versteckt sich in den ersten Kapiteln des Bandes, vom Volkslied („was hört was kommt vom draußen ich…“) zu Shakespeare („sieh da sieh da jambeus auch du“), zu lyrischem Ringelreihen mit Jean Paul und Georg Büchner, Ezra Pound und Panizza. Dann wieder so etwas wie Alltagsgeschichten:

… he wirt! sage ich, ich hatte heut so verhetzte gedanken über politik und ähnliche sinnflut da muss ich erst mal bier trinken…

Da ist auch ein Kapitel mit „Liebesgedichten“, das hauptsächlich Gedichte über den Tod enthält, und ein anderes mit „Glossen“, die oft nicht mehr als fünf Worte lang sind. Zum Beispiel:

Worte des Jahrhunderts arschloch.

Oder:

es gibt einen ausweg allerdings.

Das muss man gesehen haben, wie dieses „allerdings“ unter dem „ausweg“ lauert und die Türen gleich wieder zuklappen lässt, die die Hoffnung kurz aufgestoßen hat. Alles auf drei Zeilen! Und unten immer noch viel Platz für einen Brief! Oder eine Einkaufsliste. Oder auch gar nichts, denn selbst der praktisch denkende Leser fängt irgendwann an zu genießen, dass ihm der Dichter so viel Raum für die eigenen Projektionen gelassen hat. Und wird direkt ein bisschen ungehalten, wenn Lentz wieder ein ganzes Blatt mit Text besetzt, mit einem Anagramm zum Beispiel, das sich über Seiten und Seiten hinzieht und laut gelesen sein will. Ein andermal. Erst gehen wir weiter zu einer nächsten fast leeren Seite:

Das muss ein schönes buch gar sein, das niemand fiel zu lesen ein.

So kommt eine lyrische Schlichtheit daher, die’s faustdick hinter den Ohren hat. Ein Genuss für alle, die sich dafür die Zeit nehmen – was auch der programmatische Auftrag von Aller Ding sein könnte. Zeit nehmen. Zeit stehlen. Zeit lassen: „in jedem blatt die zeit lassen“ zitiert Lentz dazu seinen Lautpoesiekollegen Valeri Scherstjanoi. Wir aber sind ganz einverstanden mit dem letzten Satz des Bandes:

so! jetzt reicht es nicht.

Brigitte Helbling, Berliner Zeitung, 2.6.2003

Sterben und gestolperte Schönheit.

Lentz hat seine Meriten als Lautpoet verdient, mit dem performativ-oralen Ausloten des Lesesaals und mit der eigenen Physis im Sprechakt. Mit der Muttersterben-Prosa hat er weitere Ambitionen signalisiert. Da gab es dann auch den Bachmann-Preis zur Belohnung und endlich den Anschluss an die offiziellen Literaturzirkel. Unlängst ist im Fischer-Verlag sein neuer Gedichtband Aller Ding erschienen. Er kommt als slicke Hardcover-Ausgabe daher. Vertreter experimenteller Traditionen, die hier Pate stehen, können auf solche Ausgaben wohl noch post mortem lange warten.
Lentz erprobt „Haltungen und Tonfälle“, wie es der Klappentext formuliert. In den 12 Kapiteln des Bandes finden sich anagrammatische und formale Exerzitien, manipulierte Text-Readymades und Einwort-Gedichte. Bedient werden klassische Themen wie die Liebe, und, zentral gerade im Anschluss an Muttersterben, die Begegnung mit dem Tod. „möchte ich auch einmal / nur erinnern und / konstant im zeitfluss wittern sprechen / ohne rütteln ohne spreißfuß“ heißt es in einem der Toten gewidmeten Gedicht programmatisch, das sich sogar, ganz ohne parodistische Absicht, ein wenig Hölderlin einverleibt. Es ist übrigens eines der wenigen, die sich die Ironie verbieten. Die Frage nach dem Tod hat Vorrang gegenüber der Frage nach der Möglichkeit von Sprache und Poesie. Und sie motiviert eigene Vorgehensweisen.
Wenn Lentz Reimformen oder volksliedhafte Strophen versucht, werden diese immer auch ad absurdum geführt, systematisch der Lächerlichkeit preisgegeben: auf „lethe“ muss sich „grete“ und „käthe“ und „gräte“ reimen. Im Kapitel „Formate und Formalerei“ wird Sprachspielen à la konkreter Poesie nicht mehr abverlangt, als paradox zu sein. Lentz spielt das Verhältnis von graphischer Figur und Textsemantik im Piktogramm gegeneinander aus, nicht um materialer Erkenntnis willen, sondern um in ein „kosmisches gelächter“ einzusteigen. So beispielsweise in der quadratischen Anordnung des Satzes:

der selbe kreis kommt immer wieder.

Überhaupt scheint Lentz in der kalkulierten Lächerlichkeit eine Möglichkeit des Weiterschreibens zu sehen, wenn das Gedicht konstatieren muss:

alles
zu RETROSPEKTIVEN erstarrt!
kläffendes klaffend OHNE TITEL.

Der Gestus eines Grossteils dieser Gedichte erinnert an die Mechanik der aufziehbaren Blechspielzeugtrommler, die gelegentlich bei Auftritten des Autors zum Einsatz kommen. Ist der Dichter einmal am Sprechen, so spult er wie im Wiederholungszwang ähnliche und gleiche sprachliche Muster ab, jedes Wort ein Klöppelschlag, bis ihm die Energie ausgeht:

Warum ist da das da das da ist
Und warum das da so ist
Warum ist das nicht soda
Warum ist das denn dada
Und warum das da so ist

Auch wo die Sprache von einem bestimmten Gedanken ausgeht, nicht in Selbstreferentialität verharren soll, wird ihr Irritationspotential kaum zugunsten einer vermeintlichen Klarheit von Mitteilung ausgeblendet, sondern konstruktiv eingesetzt. Das dichterische Sprechen von Lentz stolpert, wo es nur geht: über Homophonien, über die Schemen von Syntax und Reim, und es stolpert schön:

und übern faltplan jagt
die fliege warm
ins licht da jagt
das panzertier
das rat das irrt
das rat ich dir

Bei aller klanglich-rhythmischen Durcharbeitung bezieht diese Dichtung gerade aus dem Mut zum Krampf, dem ausgestellten Ungenügen der Sprache, ob poetisch oder alltagssprachlich, ihre kaputte Schön- und Eigenheit.
Nach den 191 Seiten des Bandes, der ein ganzes Spektrum an Gedichtmöglichkeiten demonstriert, kann man zurückblättern, erneut von vorne, ruhig chronologisch, zu lesen beginnen und feststellen, dass die Kapitelabfolge einer bestimmten Bewegung folgt. Sie läuft auf eine zunehmende Kargheit bis zum Verstummen hin zu, das in den schlussbildenden „Einworte(n)“ längst die fast leeren Seiten bestimmt. Verstummen aber ist Tod, und dass dieser zwar passiert, aber nicht einfach so hingenommen wird, dafür steht Lentz ein. Am Ende deutet er damit an, dass er noch einiges vor hat. So muss dann auch das Fazit von Aller ding heissen:

so! jetzt reicht es nicht.

Bastian Winkler, lit04.de, 2003

Führung durchs Sprachhaus

Einem größeren Publikum bekannt geworden ist Michael Lentz, der beim Klagenfurter Wettlesen im Jahre 2001 preisgekrönt wurde, durch seinen im letzten Jahr erschienenen Erzählungsband muttersterben, worin der Autor sich, sprachlich furios, an die Erfassung, an das wörtliche Erschreiben seiner/unserer Welt macht. Diese Welt ist, so leiblich darin auch gelitten und gestorben wird, eine Sprachwelt. Nun liegt ein Gedichtband des Autors vor, der die Sprache, unser aller Ding eben, schon im Titel führt.
Was geschieht in Aller Ding? Ich möchte mich dieser Fragestellung fragend annähern, denn so gutwillig Lentz sein Thema, den Ausgangs- und Anstoßpunkt seines Schreibens, offen legt, so vielschichtig und naturgemäß flatterhaft stellt dieses sich letztlich im Geschriebenen dar. Was also passiert in den lentzschen Gedichten einerseits mit der Sprache, andererseits mit dem durch die Sprache Transportierten? Oder wird überhaupt nichts durch die Sprache transportiert? Soll man sich die Sprache, die Lentz in diesem Buch installiert, als autopoetisches System vorstellen, das sich unablässig selbst hervorbringt? Handelt es sich um eine Sprache, die nicht über sich hinaus kommuniziert, eine Sprache, der ein sogenanntes Sender-Empfänger-Prinzip fremd ist, und die darum mehr über ihre Strukturen als über ihre Inhalte sich vermittelt? Vielleicht hilft es, sich über das Prinzip – das natürlich nichts anderes als ein Formprinzip sein kann – des Buches klar zu werden, um zu verstehen, was hier geschieht. Dieses Prinzip nun scheint die Reduktion zu sein, und zwar zuerst einmal die Reduktion in syntaktischer Hinsicht. Die Anordnung der Gedichte ist so gewählt, dass eine Art Einschrumpfung stattfindet. Von „Reim und Schlamm“, dem ersten Kapitel, bis zu den „Einworte[n]“, die das Buch abschließen, findet eine gehörige Entschlackung des Sprachmaterials statt. Wer nun aber eine Entschlackung gegen Null, also quasi ins Nichts, erwartet, der sieht sich getäuscht und wird auf der letzten Seite mit den Worten „so! jetzt reicht es nicht.“ aus dem Buch entlassen. Nichts ist eindimensional in diesem Buch, und doch scheint alles auf wunderbar einfache Weise schlüssig. Ein, wie ich meine, seltener Fall von Komplexität, dem nicht widersprochen werden kann. Und doch lauert eben darin, in dieser unwidersprochenen Komplexität, ständig der Gegenbeweis für alles Gesagte. Das macht die Sache so angenehm unpathetisch.
Reduktion in syntaktischer Hinsicht also. Und wie ist es mit der Semantik? Leicht ließe sich annehmen, dass bei einer solchen Konzentration auf die Syntax jeder semantische Wert wegbreche, zumindest aber zu etwas Austauschbarem gerate. Weit gefehlt. Vielmehr scheint der Fall hier so zu liegen: Semantik und Syntax bedingen sich gegenseitig derart, dass an eine Entkoppelung der beiden Ebenen nicht zu denken ist. Die Semantik verbeißt sich in die Syntax, die Syntax in die Semantik. Durch die Syntax werden die Inhalte nicht nur transparent, sondern sie werden in einer Weise vorgeführt, für die Anschaulichkeit wohl das zutreffendste Wort ist. So finden sich z.B. unter dem Kapitel „Formate und Formalerei“ eine ganze Reihe von visuellen Gedichten, die, obzwar mit Anspielungen und Zitaten gespickt, dem Genre eine durchaus frische Seite abtrotzen können. „Epische Breite“ ist das freilich nicht, aber wer wollte die in solch einem gelungenen Fall von Formfanatismus ernsthaft vermissen?
Man merkt Lentz, von der ersten bis zur letzten Seite des Buches, sein Herkommen, seine Verpflichtung gegenüber bestimmten poetischen Traditionslinien an. Immerhin hat er im Jahr 2000 ein zweibändiges, fast möchte man sagen: Standardwerk, unter dem Titel Lautpoesie/-musik nach 1945. Eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme vorgelegt. Dass so etwas nicht ohne Spuren bleibt, versteht sich fast von selbst. Lentz zweifelt die Benennungskraft des Wortes an, er verlässt sich auf die Sprache als Sprache, nicht auf die Sprache als Abbildungsmaschinerie. Was dabei im poetischen Prozess herauskommt, ist ein sprödes, störrisches, wiewohl witziges und sehr kluges Sprechen (und Schreiben). Eine Dosis (Sprach)Zweifel, so verabreicht, hat noch niemandem geschadet.

Lars Reyer, titel-magazin.de

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Wieland Freund: „himmel ist nichts für mich“
Die Welt, 7.6.2003

Martin Droschke: Antwort zu verlosen
Der Tagesspiegel, 8./9.6.2003

Tobias Lehmkuhl: Etwas wenig
Neue Deutsche Literatur, Heft 4, 2003

 

Ein Gespräch mit Michael Lentz

Olga Olivia Kasaty: Können Sie sich noch an Ihre ersten Berufswünsche erinnern, ob Sie schon als Kind Poet und Schriftsteller werden wollten?

Michael Lentz: Ich wollte ich selbst werden. Ich hatte das Gefühl, nicht ganz bei mir zu sein. Ich wollte nicht werden, wie mein Vater einer war – war also kein Kaspar Hauser. Zu Gleichaltrigen hatte ich wenig Kontakt, da ich nie im Kindergarten war. Hatten die Nachbarskinder oder meine Freunde eine klare Vorstellung, was aus ihnen mal werden wird, machte mich das kirre.

Kasaty: Waren Sie ein viel lesendes Kind und hatten schon in der Kindheit Lieblingsbücher? Gab es vielleicht auch eine erste Lektüre, die Sie geprägt hat und bis heute noch prägt?

Lentz: Karl May. Ungefähr 25 Bände. Karl May war die Lektüre bei Unwohlsein, Erkältung, Grippe. Gedichte von Georg Trakl. Onkel Toms Hütte. Später dann, so ab 14, Prosa von Thomas Bernhard. Hermann Hesse auch kiloweise verschlungen. Geprägt? Dann gab es noch ein Kinderbuch. Buch ist übertrieben. Das war so eine Handvoll. War Bello beim Spinnen hieß das. Sehr beeindruckend. Das werde ich mir gleich noch mal kaufen, wenn’s das noch gibt.

Kasaty: Vielleicht könnten Sie zunächst noch kurz für die Leser, denen Ihre Vita nicht vertraut ist, ein bisschen von Ihrem Elternhaus und Ihrer Kindheit erzählen?

Lentz: Ich bin 1964 in Düren im Rheinland geboren. Eine im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstörte Stadt. Heimat. Sprachengemisch. Eifel und Rhein. Wir wohnten in der Holzstraße 1, 5160 Düren, französische Besatzungszone. Mein Vater war dort Oberstadtdirektor. Ein weißes Haus. Außen wie Innen. Ich habe das Haus sehr geliebt. Und den Garten, Vorgarten, Hauptgarten, Gemüsegarten. Circa 20 Apfelbäume, unterschiedliche Sorten; Birnen- und Kirschbäume, Süß- und Sauerkirschen; Kartoffelbeet. Ein großer Rasenplatz, auf dem man Fußball spielen konnte. Zum Rasenmähen kam ein riesiger roter Mäher, auf dem der Rasengärtner saß. Ich habe zu früh angefangen, zu viel zu lesen. Das hat mir die Sozialkontakte ruiniert. Lesen kann asozial machen. Den sozialen Umgang mit den Mitmenschen musste ich mir über die Jahre erst mühsam zurückgewinnen. Meine Mutter war immer vorsichtig, immer auf Außenwirkung bedacht. Das habe ich alles im Prosaband Muttersterben beschrieben. Mein Vater wusste oft nicht zwischen Außen und Innen, Beruf und Familie zu unterscheiden. Kam er nach Hause, war er sehr oft einfach zu laut. Andererseits hatte ich meine Freiräume. Ich war auf meine Art frei, und das rechne ich meinen Eltern – meine Mutter starb 1998 – sehr hoch an. Ich konnte lesen, mich der Lektüre hingeben, einfach verschwinden, für Stunden nicht mehr auftauchen, ich hatte sozusagen Narrenfreiheit – spätestens, als ich zu Hause unters Dach gezogen bin, mit 14. Heute weiß ich, dass es ein Familienleben jenseits der Tischordnung, jenseits der Schwarz-Weiß-Fotos gibt, dass man jenseits der Familie mündig werden kann, ohne diese Familie zu verlieren. Mein Bruder heißt Martin, meine Schwester Andrea. Beiden bin ich sehr nahe.

Kasaty: Ist es Ihnen möglich festzustellen, was der eigentliche Antrieb für Ihr anfängliches Schreiben war?

Lentz: Langeweile. Grübeln. Den Anschluss verpasst haben: Keiner Clique angehören, sehr früh schon die Freunde vernachlässigen, kein ausgesprochenes Hobby, Durchschnittsbegabung in allen Bereichen, dabei aber die Gewissheit, durch Zähigkeit vorankommen zu können, Vaters Bibliothek in greifbarer Nähe, Mutters Schulbücher, dann wahllos einige Bücher zur Hand genommen, merkwürdigen Welten begegnet, festgestellt, dass ich in diese abtauchen kann, also völlig versinken. Ich kann mich noch an einen Test erinnern, den ich mit mir selbst machte: eine oder ein paar Seiten lesen, Buch weglegen, mit eigenen Worten wiedergeben, was ich gelesen habe. Dann noch mal dieselben Seiten lesen. Die Feststellung, dass die eigene Wiedergabe mit dem Gelesenen überhaupt nicht übereinstimmt, war zunächst ein Schock – allerdings einer, aus dem ich sofort Kapital schlagen wollte. Lesen ist also Schreiben.

Kasaty: Ihr erstes Buch haben Sie erst 1998 veröffentlicht. Gab es einen deutlichen Moment, in dem Sie angetangen haben, ernsthaft darüber nachzudenken, Schriftsteller/Autor zu werden? Mich würde nämlich sehr interessieren, ob es eine wohl überlegte Entscheidung war, sich dem literarischen Schaffen zu widmen, und ob Sie eindeutige Etappen erkennen können, in denen sich Ihr Schreiben entfaltet hat?

Lentz: Ich habe nie darüber nachgedacht. So arrogant das klingt, ich war sofort Schriftsteller. Hans Carl Artmanns Statement, dass man auch Dichter sein kann, ohne ein einziges Wort geschrieben zu haben, wirkt auch heute noch auf mich sehr beruhigend. Was die Etappen angeht, man versucht halt, immer besser zu werden. Wenn man 40 geworden ist, weiß man spätestens, dass das eine Illusion ist. Mittlerweile merke ich aber schon, dass die Zeit davonläuft. Ich habe das Gefühl, dass jetzt eine Zeit starker Konzentration kommt.

Kasaty: Sie haben Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte studiert. Hat das Gelernte Einfluss auf Ihr Schreiben, oder war das Studium eher ein Umweg zum Wesentlichen?

Lentz: Es hat einen entscheidenden Einfluss. Ich gehöre nicht zu denen, die da ein Ausschlussverfahren entdecken: Entweder Literatur oder Geschichte, entweder Genie oder Beamter, entweder sofort oder nie. Ich habe nie bereut, genau das studiert zu haben. Im Gegenteil, ich habe den Kopf frei, weil er so fixiert ist, weil das Leben und das Lesen kein Ende nehmen. Ich bin von dem schönen Zwang besessen, immer wieder zu überprüfen, ob ich etwas richtig verstanden habe. Verstehen kommt nie, du hast etwas gelesen und musst immer von vorne anfangen. Das ist doch schön, oder? Andererseits hatte ich das große Glück – auch das danke ich meinen Eltern, dass sie das ertragen haben –, Musik machen zu können. Literatur und Musik sind eine sehr glückliche Paarung. Eine andere Kunst sollte dabei sein. Dichter ist vielleicht der, der nicht einfach nur schreibt. Der auch hinüberfühlt. Der die Fühler ausstreckt. Seismograf mit musikalischen Tentakeln, die Bilder malen. Hätte ich diese Fächer nicht studiert, würde ich mich wie ein Nichtschwimmer auf hoher See fühlen – ohne Rettungsring.

Kasaty: Roland Barthes hat einmal gesagt: „Das Begehren schreibt den Text“. Laut der Klassifikation der Kunst von Friedrich Nietzsche schreibt man entweder aus Mangel oder aber aus Überfluss. Warum schreiben Sie?

Lentz: So ist es. Nietzsche hat einen späten Barthes. Und der Barthes war nicht bloß Nietzsches Esel. Thomas Bernhard hat einmal gesagt („hat einmal gesagt“: die Grundformel der Legendenbildung), er schreibe, um sich nicht aufzuhängen. Da hat der Bernhard es sich schön einfach gemacht. Ich schreibe, um die Verhältnisse klarer zu sehen. Nicht, um mir etwas schön zu schreiben. Erst durch das Schreiben. Außerdem ist mir das Schreiben eine Gedächtnisstütze, eine Krücke. Es ist immer Erinnerungsarbeit, die Spuren bahnt und das disparate Leben in seinen scheinbar so diskontinuierlichen Einzelheiten und Unvereinbarkeiten ein bisschen näher zusammenführt, es klarer macht – zumindest auf dem Papier. Das Papier transformiert sich dann ins Gehör.

Kasaty: Dieter Wellershoff sagte einmal:

Das Schreiben ist der Versuch herauszufinden, was man über das Leben weiß. Und es ist immer auch eine Selbstbefragung.

Was ist Schreiben für Sie?

Lentz: Was da der Wellershoff sagt, hat ungefähr soviel Erkenntnisgewinn wie der Satz, „Fußball spielen ist der Versuch, gegen den Ball zu treten“. Für mich ist Schreiben Sex. Und das hilft auch nicht weiter. Es ist eine Tätigkeit wie Butterbrot Schmieren, Essen, Schlafen. Ein Kreislauf. Es ist ein Parallelbewusstsein, das immer mitläuft. Vielleicht läuft man als Schriftsteller gezwungenermaßen durch die Welt mit der nicht abschaltbaren Frage: Kann ich das jetzt für die Arbeit, an der ich gerade sitze, verwenden oder nicht, ist diese Erfahrung über die Erfahrung hinaus brauchbar oder nicht? In gewissem Maße ist Schreiben also ein sozialer Defekt.

Kasaty: Sie dichten, schreiben Prosa, spielen seit 1989 im Ensemble von Josef Anton Riedl, unterrichten, forschen, ab und zu arbeiten Sie auch journalistisch. Momentan arbeiten Sie, um die Vielfalt Ihres Tuns zu zeigen, unter anderem an einer Buchreihe Klangzeichen, in der Sie Autoren der Lautpoesie präsentieren. Das erste Buch war Bob Cobbing gewidmet, das zweite, Freiflug für Fangfragen, Franz Mon. Wo liegt der Kern Ihrer Arbeit?

Lentz: Im Apfel. Ich versuche, aus diesen unterschiedlichen Tätigkeiten eine Einheit zu machen. Das Wichtigste ist und bleibt aber die Literatur, das Verfassen von Büchern, die Produktion von Hörspielen und Sprechstücken.

Kasaty: Fast fünf Jahre lang forschten Sie über Lautpoesie/-musik. Im Jahr 2002 erschien die zweibändige Ausgabe Ihrer Dissertation unter dem Titel Lautpoesie / -musik nach 1945. Eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme. Beruht Ihr Schreiben auf der erforschten Tradition? Fühlen Sie sich dem Dadaismus und dem Surrealismus verbunden?

Lentz: Tradition ist für mich immer ein wesentlicher Bezugspunkt. Sie bereichert den eigenen Formvorrat, erweitert das Vokabular, macht bescheidener. Weder dem Dadaismus noch dem Surrealismus fühle ich mich verbunden oder gar verpflichtet. Raoul Hausmann allerdings ist eine wichtige Bezugsgröße. Ich sehe mich eher an der Schnittstelle von Tradition und avancierten Konzepten arbeiten – und zwar auch inter- und multimedial.

Kasaty: Sie arbeiten auch für Hörspiele, machen Musik, treten sehr viel auf, sind im Bereich der Slam Poetry zu sehen, Ihre Lesungen werden zu bunten, lebendigen Veranstaltungen. Wenn es langweilig ist, steigen Sie einfach auf den Tisch und sagen Gedichte auf. Was bewegt Sie, dies zu tun?

Lentz: Die innere Notwendigkeit. Da halte ich es mit Arno Holz und seinem Manifest „Revolution der Lyrik“ (1899) – übertragen auf Konzepte der Medienadäquatheit.

Kasaty: Bezüglich der Anagramme haben Sie gesagt: „Aus dem Ernst wird Spiel, das wiederum Ernst macht“, ein Anagramm schafft es, die merkwürdigsten Komponenten wie selbstverständlich in einem gemeinsamen Kontext aufleuchten und wieder untergehen zu lassen. Was meinen Sie, wenn Sie sagen, dass ein Anagramm für Sie ein Sinnstiftungsangebot ist? Können Sie das genauer erläutern?

Lentz: Sinnstiftung im Prokrustesbett. Das Materialangebot ist sehr reduziert. Aus dem Kleinsten kann ein gemeinsames Vielfaches entstehen. Das Anagramm ist für mich letztlich eine romantische Form, das heißt eine solche, die den romantischen Poetologien (Novalis, Schlegel) und ihren Forderungen (qualitative Potenzierung…) Genüge tun kann. Eine besondere Herausforderung ist es für mich, mittels der Anagrammtechnik konventionelle Gedichte entstehen zu lassen. Das sind vielleicht die besten Anagramme, die die Methode ihrer Entstehung vergessen machen. Mache aus einem beschränkten Vorrat an Mitteln mittels einer beschränkenden Regel unbeschränkten Sinn.

Kasaty: Poesie wird als Flaschenpost, Widerspruch, Verdichtetes, Lied, als Kunst des Unvorhersagbaren, als Weltsprache, auch als Gestus oder als ein Blick bezeichnet. „Poesie ist ja Selbstvernichtung, ein zu Ausführung gelangter Selbstentwurf, nicht wahr, das ist die Poesie, ein aufgegangener Kuchen, der den Namen Poesie verdient, ein aufgegangenes Rezept, und darin ich selbst, könnte ich mich selbst vertilgen, ich müsste mich dauernd erkennen, ich bin die Poesie, die ich selber nicht essen kann“, steht in Ihrem Roman Liebeserklärung (2003). Was bedeutet Poesie für Sie?

Lentz: Sie ist das Lebenselixier. Sie dient der Selbstvergewisserung. Poesie ist das geeignetste Medium, eigene Erfahrung als Fremderfahrung zu konservieren. Eine Welt im Allerkleinsten – und zugleich im Großen. Beides nämlich ist gar nicht greifbar. Poesie ist aber auch eine fortwährende Annäherung, der Versuch, das Flüchtigste, Zeit, zu arretieren.

Kasaty: Was macht Ihrer Auffassung nach ein gutes Gedicht aus?

Lentz: Dass es mehr als oft durchquert werden muss und sich auch beim letzten Durchqueren noch nicht alle ästhetischen Überschüsse und Mehrwertigkeiten offenbart haben. Form als Philosophie. Knappheit als Reichtum (siehe Becketts „Mirlitonnades“). Ein Gedicht muss existenziell weh tun können. Es muss nach dem Herzen greifen und das Denken anwerfen.

Kasaty: 2001 gewannen Sie mit der Erzählung „Muttersterben“ (2002) den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Der Erfolg hat Sie als Autor von Prosastücken bekannt gemacht. Hat der Erfolg Ihnen viele neue Türen geöffnet? Was hat er in Ihrem Leben verändert?

Lentz: 2001 war ganz wichtig. Es war ein Aufbruch, der allerdings auf solidem Fundament stand, da ich bis dahin bei der edition selene (Alfred Goubran) in Wien schon drei Bücher veröffentlicht hatte. Die Dissertation lag zu diesem Zeitpunkt in zwei Bänden gedruckt auch schon vor, ebenfalls bei der edition selene. Das Wichtigste für mich war der S. Fischer Verlag mit Monika Schoeller, Jörg Bong und Oliver Vogel. Bei diesem Verlag bin ich seitdem zu Hause. Es hat sich nicht mehr die Frage gestellt, was ich werden soll. Zumindest für Jahre schien mir das ganz klar zu sein. Ich habe sofort angefangen, zielstrebiger und konstanter zu arbeiten, sowohl an den Texten als auch an meinem Vortragsstil. Es gab von da an kein Tändeln mehr. Allerdings habe ich seitdem auch keine konkrete Vorstellung mehr, was Freizeit sein kann. Was ist denn Freizeit? Der Ingeborg-Bachmann-Preis war ein Glücksfall. Ohne ihn wäre es ein dorniger Weg geworden. Vielleicht wäre es nicht einmal ein Weg, sondern ein Irrlauf.

Kasaty: Aus dem Erlebten, Gelesenen und Beobachteten resultieren viele Ihrer Texte; Sie beschäftigen sich mit aktuellen gesellschaftlichen Zuständen und Themen, dem Alltag, Leben und menschlichem Verhalten. Sie dokumentieren unsere Wirklichkeit und äußern sich kritisch zu ihrer Entwicklung. Ist die Konfrontation mit den „Albernheiten“ unserer Welt Ihr Ziel, oder sind das eher Momentaufnahmen?

Lentz: Das sind notwendige Momentaufnahmen. Man möchte das Leben ja unmittelbar, ohne Bürokratie, ganz unverstellt. Und findet immer nur seitenlang auszufüllende Papiere, Rufnummern, Weiterschaltungen, Umleitungen, Staus, Verspätungen, vertane Zeit. Auffälligkeiten sind da eine willkommene Abwechslung. Aber nicht um ihrer selbst willen. Sie machen, gehen sie nicht auf Kosten Einzelner (oder zumindest nicht zu sehr), das ganze Unternehmen Leben menschlich. Und sie sind manchmal symptomatisch, sie verraten etwas über Gemütszustände, können lange Erklärungen ersetzen, sind anschaulich. In diesem Sinne habe ich solche „Albernheiten“ und Auffälligkeiten, Kleinigkeiten, verschrobenen Details oder merkwürdigen Geschichten auch in dem Roman Liebeserklärung eingesetzt.

Kasaty: Liebeserklärung ist nicht nur ein Buch über Liebe, sondern auch ein Buch über Deutschland; der Ich-Erzähler des Buches fährt quer durch das Land, von West nach Ost und Ost nach West, und erzählt, was er sieht, was ihm merkwürdig vorkommt, was ihn berührt. Das Buch spiegelt die gegenwärtige Lage wider, in der sich Deutschland befindet. Haben Sie all diese Reisen quer durch Deutschland tatsächlich gemacht? Und warum haben Sie Ihrer Liebesgeschichte diesen Krisen-Hintergrund gegeben?

Lentz: Ich war nicht überall. Man braucht ja bloß die im Zug ausliegenden Fahrpläne zur Fahrtroute des Buches zu machen. Die Liebeserklärung ist ja auch eine an Deutschland, mit allen dazugehörenden Krisenmomenten. Manchmal im Buch weiß man nicht, ob es sich jetzt um das Liebespaar oder um Deutschland handelt. Das ist ganz bewusst so inszeniert. Und so bespiegeln sich diese beiden Ebenen dauernd, bis die eine ohne die andere nicht mehr zu denken ist. Eine Liebe „findet statt“ immer in einem zeitlichen Kontext. Dieser Kontext ist im Falle der Liebeserklärung das zeitgenössische Deutschland – als beiderseitige und gegenseitige Bestandsaufnahme.

Kasaty: Gab es eine ursprüngliche Idee für dieses Buch? Wollten Sie über Deutschland oder eher über Liebe schreiben?

Lentz: Ich wollte schon lange einmal einen Liebesroman schreiben. Das klappte aber nicht. Als sich herausstellte, dass der Roman analog zu einer Bahnfahrt funktionieren kann, mit schnellen Schnitten, Übergängen und Überblendungen, koppelte ich das Deutschland-Thema mit der Liebes-Thematik. Das eine wird zum Symptom des anderen.

Kasaty: Im Titel Liebeserklärung versteckt sich ein Bachmann-Zitat „Erklär mir, Liebe“. Ist es Ihnen gelungen, Liebe zu erklären? Was ist Liebe für Sie?

Lentz: Es ist mir selbstredend nicht gelungen. Das wäre ja noch schöner. Liebe ist ein Ritual, das sich dauernd selbst bestätigen muss. Es ist – neben der Sprache – das Medium, das auf Wiederholung und Redundanz dringend angewiesen ist. Die Identität der Liebe ist ihre Nichteinholbarkeit bei gleichzeitig fortwährender Bestätigung und Bejahung. Wir haben keine Gewissheit mit ihr und über sie; vielleicht ist das Gebrauchsvokabular der Liebe deshalb so beschränkt, damit wenigstens über die Sprache Erinnerung und schnelle kommunikative Abtastungen möglich sind – zumindest potenziell; oft jedoch herrscht Verklemmung, Verzagtheit und Scham vor.

Kasaty: Von vielen Büchern der 1990er Jahre sagt man, dass sie die neue Generation in Deutschland widerspiegeln. Eine Generation, die kommunikationsunfähig sei, die irgendwie in Liebe und Angst be- und gefangen das wirkliche Leben verfehle und das Scheitern der eigenen Lebenspläne mehr melancholisch beobachtend als trauernd erlebe. Haben wir es seit den 1990er Jahren mit einer verlorenen Generation der Konsumgesellschaft zu tun? Auch in Liebeserklärung gelingt die Liebe nicht, die Liebenden sind einsam und kommunikationsunfähig, scheitern in ihren unzähligen Versuchen, zueinander zu finden – ist das eine realistische Bilanz unserer Zeit?

Lentz: Um mit der letzten Frage anzufangen, es ist nur zum Teil eine realistische Bilanz. Es beschreibt aber den Widerspruch zwischen der Ruhelosigkeit, dem steten Wandel, der scheinbar frei flottierenden Identität, die viele als Resultat einer gesellschaftlichen Entwicklung erleben, die nicht mehr auf den Punkt kommen will, weil es ihn vielleicht gar nicht (mehr) gibt, und dem gleichzeitigen innigen Wunsch nach Stabilität, Wiederholbarkeit und dem „Paradies auf Erden“, das sich oft als die Hölle herausstellt, die Anderen. Eine verlorene Generation der Konsumgesellschaft sehe ich überhaupt nicht. Wieso verloren und wieso Generation der Konsumgesellschaft? Das ist mir zu stromlinienförmig, zu monokausal gedacht. Außerdem sehe ich nicht einmal eine Generation, ich sehe nur Altersunterschiede, die sich aber auch unterschiedlich auswirken. Das Denken in Generationen ist für mich zunehmend zur Frage nach Lebenserwartung und Rente geworden, und so scheint das in der Politik auch zunehmend gehandhabt zu werden.

Kasaty: Die männliche Figur in Liebeserklärung führt unendliche Monologe mit dem dänischen Philosophen Kierkegaard. Es ist nicht nur ein Buch, das eine Geschichte erzählt, sondern auch andere Geschichten wiederholt und neu bearbeitet. War Die Wiederholung von Seren Kierkegaard eine Art Vorlage für diesen Roman?

Lentz: Ja, das stimmt. Eine Vorlage war das Buch allerdings nur unter formalen Aspekten. Hier findet ein Abgleich statt – der Erfahrung bei Kierkegaard und des Ich-Erzählers in meinem Roman. Kierkegaards Wiederholung steht auch – auf sehr hoher Ebene – für die Beziehungs-Ratgeber. Liebeserklärung ist solchermaßen ein Buch im Buch, eine Anverwandlung, eine Überprüfung. Es ist die Durchführung der These, dass es individuelle Erfahrung nicht gibt, dass das Besondere immer für das Allgemeine steht, auch wenn die Erfahrung mit uns niemand teilen will und wir uns immer für die besonders schlecht Behandelten halten, denen Unrecht widerfährt. Das sogenannte Individuelle wiederholt sich in der Fremderfahrung. Ob darüber allerdings ein Austausch bestehen kann, ob diese Erfahrung mitteilbar ist, das ist die Frage.

Kasaty: „Was mich interessiert, ist mein Schreiben auf eine Vergleichsebene mit Lektüreerfahrung zu bringen, deshalb ist Grönemeyer drin – eher eine Hörerfahrung – oder Kierkegaard und aus dem Bereich der Poesie Alexander Blok, Paul Celan, Sergej Jessenin, Ingeborg Bachmann“, haben Sie einmal gesagt, können Sie das ein bisschen mehr erläutern?

Lentz: Ich halte es für völlig legitim, das eigene Schreiben und die darin zum Ausdruck kommenden Weltausschnitte mit Fremdlektüre abzugleichen (und zwar im Text selbst) und mit Fremdtexten anzureichern. Das habe ich in Muttersterben mit Gedichten und Prosatexten gemacht, die über den Tod handeln, im Roman Liebeserklärung mit Liebesgedichten. Diese Texte stehen für mich für Darstellungsmomente, die ich selber nicht besser erschreiben könnte, und sind zugleich ein innerer Kanon.

Kasaty: Seit den 1990er Jahren sind viele der großen Welterklärungsentwürfe der Philosophie verblasst. Sie setzen sich mit vielen Philosophen auseinander – zum Beispiel mit Aristoteles und Friedrich Nietzsche oder eben mit Søren Kierkegaard. Welche Philosophen sind Ihnen sehr wichtig?

Lentz: Leibniz, Kant, Hegel, Wittgenstein, Derrida sowie die Soziologen Adorno, Barthes und Luhmann. Schopenhauer schreibt eine wunderbare, auch bissige Prosa. Kants systematisches Denken hat mich von Anfang an angezogen. Kant ist ein Mutmacher. Bei Leibniz, als einem Vorläufer von Kant, interessierte mich insbesondere die Exposition der Fragestellung und ihre argumentative Einlösung. Sein Monadenmodell erleichterte mir die Lektüre von Samuel Beckett. Leibniz bedeutete für mich Einübung in systematisches (systemisches) Denken – außerhalb der hohen Abstraktionsebene eines Hegel, an dem mich insbesondere die „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ und insgesamt seine Theorie des modernen Staates interessiert. Wittgenstein, Derrida und Barthes sind für mich als Sprachanalytiker wichtig, Luhmann als Erforscher des Liebesdiskurses (quer durch die Jahrhunderte) und als systemtheoretischer Soziologe, Adorno u.a. als Musiktheoretiker.

Kasaty: Viele Schrittsteller haben mir erzählt, dass ihr Schreiben immer mit einem Gedanken oder mit einem Satz anfängt, oder aber mit einer Situation, die sie sich einprägen und um die sie dann weiter herum schreiben. Wie fängt es bei Ihnen an?

Lentz: Es hat immer schon angefangen. Es fängt mit der Wahrnehmung an, der Sprach(en)wahrnehmung. Jemand spricht. Ich höre ihm zufällig zu. Sein Sprechen ist Teil seiner Biografie. Ich versuche, von seinem Sprechen auf seine Biografie zu schließen. Hierdurch wird er zu einer Figur. Oder Schreiben fängt an mit Lesen. Schreiben und Lesen sind sowieso nicht unabhängig voneinander zu denken. Ich entdecke in der Tageszeitung einen Artikel (zum Beispiel über einen Mord), oder in einem (Sach-)Buch stoße ich auf die Biografie eines Menschen, die mich augenblicklich sehr interessiert und in der Folgezeit nicht mehr loslässt. Manchmal dauert es Jahre, bis dann daraus ein Buch ausgekocht wird. Es fängt mit einem Widerwillen an: Das schreibe ich jetzt nicht, später fange ich an, das zu schreiben; ich habe jetzt keine Zeit dazu, ich lege das erstmal beiseite; nicht das auch noch, man kann doch nicht aus allem Literatur machen wollen usw. Und dann stellt sich Stück für Stück die Geschichte ein, die sich untergründig schon selbst geschrieben hat. Eine Krankheit. Wie Atemholen.

Kasaty: Wie ist für Sie der Weg vom gestaltlosen Text im Kopf zum fertigen Werk? Wie verläuft bei Ihnen die kritische Arbeit am Text?

Lentz: So selbstverständlich es klingt, sie fängt einfach an. Mit Soll- und Bruchstellen. Energetisches Durchschreiben bis zum Durchfall. Das sind dann die natürlichen Stopps. An dieser Stelle ist dann für den Moment Feierabend, Sendepause. Der Moment kann Monate dauern. Viele Notizen auf vielen Zetteln. Die Zettel werden Tag für Tag durchgesiebt. Die Hälfte stellt sich sofort als unbrauchbar heraus. An der anderen Hälfte wird rumgedoktert. Einige Notizen werden zu längern Passagen, die dann zu tragenden Pfeilern des Textes werden. Jedes Schreiben an einem Text ist die immer wieder neue Einübung, endlich einen Text ganz durchzuschreiben, von Anfang bis Ende. Bei mittellangen Texten geht das mittlerweile schon ganz gut. Bei Romanen ist es eher ein Problem, vielleicht ein natürliches, dem Genre geschuldetes. Mit der Hand zu schreiben hat den Vorteil, dass ich beim Abtippen in den Computer bereits mein eigener Lektor bin. Da fliegt dann einiges raus, stellt sich als Irrtum heraus, als Durchhänger, Schwachstelle, Abirrung. Wenn die Straße so Stück für Stück, Stelle für Stelle gepflastert worden ist, muss sie befahren werden. Das ist dann der Test, ob sie taugt. Die Textstraße wird laut lesend abgefahren. Das laute Lesen schafft der Textgestalt eine Resonanz, die nochmals Unverträglichkeiten aufdecken hilft. Diese Phase der Selbstkorrektur betrifft eher größere Sequenzen, die als Ganzes durchleuchtet werden. Die Kleinarbeit, Austausch einzelner Wörter, Streichen ganzer Sätze, Umstellen von kurzen Abschnitten, ist der nächste Schritt. Danach wird der gesamte Text noch einmal gelesen. Das Lesen erfolgt aber permanent, jeder Fortschreibung muss – wie beim Sport – eine Erwärmungsphase vorausgehen. Das heißt, die vorangegangenen Passagen müssen noch mal gelesen werden, sie stellen die Weichen für die Fortschreibung, und zwar nicht nur inhaltlich, im Sinne des Plots, auch bezüglich der Anmutung des Textes, der Wortwahl, der Erzählperspektive etc.

Kasaty: Ist Ihnen die Erfahrung vertraut, nach dem einzig richtigen Wort suchen zu müssen? Treibt auch Sie die Sprache zuweilen in eine Art Enge oder Verzweiflung?

Lentz: Eigentlich nicht, ich suche gerne und freiwillig nach dem passenden Wort. Ob es allerdings jemals das einzig richtige ist? Gibt es das? Dann gäbe es ja immer nur eine einzige Fremdsprachen-Übersetzung. Verzweiflung empfinde ich eher über das Leben und das Sterbenmüssen. Die Sprache ist da doch eine schöne Ablenkung.

Kasaty: Viele Autoren erzählten, dass sie sich von der Sprache tragen lassen, die anderen suchen nach der einzig passenden. Für manche Autoren ist Sprache eine Art Code, der aus Buchstaben besteht, man kann ihn knacken und vielleicht sogar anders verschlüsseln. Katja Lange-Müller sagte einmal, die Sprache sei wie eine Flasche, die gefüllt werden müsse. Womit würden Sie die Sprache vergleichen? Was ist die Sprache für Sie?

Lentz: Das Selbstverständliche, das nie selbstverständlich ist. Der Schatten, über den wir nicht springen können. Ewige Baustelle. Das unsichtbare Brett vor dem Kopf. Eine um sich selbst kreisende Metapher also. Die Sprache ist das Auto und die Garage zugleich. Und wir müssen aufpassen, dass wir der Fahrer bleiben. Sprache regiert die Welt.

Kasaty: In Deutschland gibt es Schreibinstitute, wie das Deutsche Literaturinstitut Leipzig, an dem Sie als Dozent tätig sind, in denen zukünftige Autoren das Schreiben erlernen sollen. Sind Sie der Meinung, dass man das literarische Schreiben erlernen kann? Ist, literarisch schreiben zu können, nicht eine Fähigkeit, die sich erst als Frucht eines allgemeinen Lern- und Reifungsprozesses herausschält?

Lentz: Schreiben kann jeder. Literatur machen kann nicht jeder. Da halte ich es mit Wladimir Majakowski, der in „Wie man Verse macht“ betont, dass man das Schreiben täglich üben muss, und sich erst mit den Jahren ein literarisches Ich herausbildet. Da sind dann einige Maßnahmen erforderlich wie das Studium von Lexika, Etymologien etc. Es muss Fleiß aufgebracht werden, sich vorübergehend auch mit Bruchstücken zufrieden zu geben, die – als Partikel eines Gedichts – erst mal auf der diaflachen Fläche des Papiers (des Bildschirms, der das Papier simuliert) geparkt werden. Peter Rühmkorf beschreibt diesen Prozess wunderschön in Einmalig wie wir alle, ausgehend von dem ingeniösen Fund „Himmel: Pflaumenfleck“. Dem immer wieder verklärten Ingenium muss der Handwerker zu Hilfe eilen, damit es nicht meint, alles erfunden zu haben und alles neu erfinden zu müssen. Sonst kann der geniale Jungpoet genauso schnell auf der Strecke bleiben wie der geniale Musiker, der mit zehn schon den gesamten Chopin in die Tasten haut und mit 11 schon nicht mehr weiß, was da eigentlich in ihn gefahren war. Die eigenen Fähigkeiten müssen konserviert werden. Dazu müssen sie aber erst einmal selbst erkannt werden, ohne dass einem da jemand reinredet (Vermarktungsgeschwätz und schmutzige Wäsche). Das Deutsche Literaturinstitut der Universität Leipzig ist in der Anerkennung und Praktizierung dieses Mischungsverhältnisses auf dem richtigen Weg. Den Leuten ihren eigenen Kopf lassen, das Handwerk des Schreibens und die literaturhistorische und -wissenschaftliche Kenntnis fördern. Alle großen Autoren waren große Leser, siehe Joyce und Beckett oder Friederike Mayröcker. Warum soll der Autor sich gegenüber sich selbst nicht ein bisschen mehr Aufklärung angedeihen lassen, das muss ja gerade nicht Psychoanalyse sein. Ich finde, viel zu viele Autoren sind, was sie selbst anbelangt, viel zu unmündig. Jeder hat seine Schemata, mit denen er arbeitet und die von zentraler Wichtigkeit sind. Diese Schemata sollen ja gerade nicht auf Selbstwiederholung hinauslaufen; es geht nicht darum, ein tolles Buch zu schreiben, um das dann in Variationen ewig zu wiederholen. Die Schemata helfen der Wiedererkennung seiner selbst, ohne die Schreiben gar nicht möglich ist. Sie lassen einen da weitermachen, wo man aufgehört hat. Im positiven Sinne heißt ein Schema Routine. Ein anderes heißt Sondierung der bestmöglichen Arbeitsphase, die auch biorhythmisch grundiert sein kann. Ein drittes Einübung in eine konstante Vorstellung davon, was ein Gedicht sein kann. Routine des Beginnens – und des momentanen Aufhörens, wenn es zerfasert, wenn Geschwätz entsteht, wenn der Faden verloren ging, wenn ein Durchhänger unvermeidlich da ist, um zu lernen, ökonomisch mit den Energien umzugehen.

Kasaty: Burkhard Spinnen sagte einmal, „wenn eine Tasse immer bloß zum Trinken da ist und eine Wohnungseinrichtung immer bloß zum Drauf- oder Drinsitzen, wenn ein starkes begriffliches Denken herrscht, ein Denken in Verwertungskontexten, dann wird es keinen literarischen Impetus geben.“ Sie finden Ihre Impulse zum Schreiben wahrscheinlich überall?

Lentz: Ich finde ihn sehr gerne in Büchern, die andere geschrieben haben. Dann auf der Straße. Dann in der Sprache selbst. Eine Redewendung, ein sprichwörtlich merkwürdiges Wort, über das ich einen Moment lang zu lange nachdenke, und schon sitzt man in der Falle. Schreiben heißt sich wundern. Was es nicht alles gibt auf der Welt. Dieses Wundern versucht man zu konservieren. Der körperliche Zustand bestimmt bei mir aber weitgehend auch den Schreibimpuls. Der Körper darf mich nicht ablenken, er muss ruhig laufen wie ein gut eingefahrener Motor. Der Körper muss beim Schreiben sozusagen aus dem Gesichtsfeld verschwinden, er muss sich hinten anstellen.

Kasaty: Ist es schon vorgekommen, dass Sie auf ein Problem oder eine Situation gestoßen sind, die Sie nicht losließ und zum sofortigen Schreiben zwang, beziehungsweise Notizen machen ließ? Haben Sie ein sogenanntes „Schriftsteller-Notizbuch“, in dem Sie Ihre zahlreichen, auch vielleicht plötzlichen Beobachtungen aufzeichnen?

Lentz: Leider habe ich mehrere Notizbücher, von denen ich dann welche vergesse und später erst wiederfinde, manchmal für ein Buch, an dem ich gerade schreibe, zu spät. Daraus lässt sich dann vielleicht für einen anderen Text was machen. Bei Gedichten ist es eigentlich die Regel, dass ich nachts aufwache, und die Wendung ist da, kaum lässt man sich wegdriften, tauchen die Formulierungen auf, ganz unangestrengt. Ärgerlich, wenn dann kein Notizheft, kein Zettel zur Hand ist, um das Ding aufzuschreiben. Noch ärgerlicher, wenn man sich fest vornimmt, bis zum Aufstehen zu warten, weil so lange hin ist das ja nicht mehr, da hat man das ja schließlich noch im Kopf, das genügt doch wohl, und natürlich genügt das überhaupt nicht, selbstverständlich hat man es bis dahin vergessen, unter Garantie, da nützt auch der angestrengte Versuch nichts, es vor dem Wiedereinschlafen auswendig zu lernen. Durch das nachts – direkt – Aufschreiben sind schon ganze Gedichte entstanden; vielleicht nicht die besten. Ein Notizbuch ist jedenfalls unerlässlich. Und man sollte sich das auch was kosten lassen. Das macht es ernsthafter.

Kasaty: Viele Schriftsteller brauchen die Einsamkeit, und gleichzeitig beklagen sie sie. Für viele sei das Schreiben eine Art Lebensverzicht. Ist Schreiben auch für Sie ein einsamer Prozess?

Lentz: Zuweilen ja. Ich will aber immer „ran an den Speck“, die Sprache. Und wenn’s zu einsam wird, kann man ja raus gehen. Schreiben ist kein Lebensverzicht, es ist Leben. Für mich ist Schreiben ein hochenergetischer Akt, ein Sport auch, eine Phase erhöhter Konzentration, wie im Straßenverkehr, man weiß nicht immer, was von vorne, von hinten, von links oder rechts kommt, und hofft, dass nichts von oben kommt. Man bahnt sich (s)einen Weg und verliert zeitweilig das Ziel aus den Augen. Wenn es aber wie beim Autofahren auch beim Schreiben einen Navigator geben würde (eine tolle Einrichtung), wäre das ein weiterer Schritt zur Entmündigung und Bewusstlosigkeit.

Kasaty: Wo und wie arbeiten Sie, Herr Lentz? Was ist für Sie notwendig, was können Sie nicht ertragen, während Sie schreiben?

Lentz: Ich arbeite anfallsweise. Impulsiv. Dann aber, wenn erst mal Dampf abgelassen ist, mit großer Ruhe und Planung. Telefonklingeln ist dann miserabel. Wenn es zu warm im Zimmer ist, schlafe ich ein. Es sollte eher zu kühl sein. Kaffee trinken ist notwendig, den Kopf frei haben auch. Ich muss unbeobachtet sein, oder das Beobachtetwerden muss – wie im Zug – allgemeine und wechselseitige Voraussetzung sein. Ich muss ein paar Stunden durchgängig Zeit haben. Dann arbeite ich hochkonzentriert und (hoffentlich) ohne Stockfluss. Wenn mich ein persönliches Problem zu sehr belastet, oder ich kriege einen ablenkenden Gedanken an etwas der Arbeit Fremdes nicht aus dem Kopf, kostet das dieser Arbeit zumindest augenblicklich den Kopf. Hunger haben ist tabu. Ein Hungerzustand (nicht nur körperlicher Art), wie ihn Knut Hamsun in Hunger beschrieben hat, ist der Feind der Arbeit.

Kasaty: Sie arbeiten auch an Netzprojekten, z.B. arbeiten Sie mit Kathrin Röggla, Norbert Niemann, Norbert Kron und Georg M. Oswald an einer Internetplattform „richtige-Literatur“, damit zeigen Sie, dass Sie zu wissen glauben, was Literatur ist und was die richtige Literatur sei. Welches Ziel verfolgen Sie mit diesem Projekt?

Lentz: Es ist ein loser Netzverbund von miteinander befreundeten Autoren. Die Initiative ging von Norbert Kron aus. Die Plattform „richtige-Literatur“ ist kein Verein, und von Klugscheißern schon gar nicht. Sie ist ein gefaketes Label, das genau diese Fragen auslöst. Das einzig relevante Ziel ist die seriöse Selbstdarstellung der Autoren. Das Projekt dient zur Information der Leser und ist aus dem Unmut der Autoren hervorgegangen, dass immer wieder und insbesondere bei Lesungen Falschmeldungen gedruckt wurden oder im Umlauf waren. Jetzt sind wir an diesen Falschmeldungen, sollten welche unterlaufen sein, wenigstens selbst schuld.

Kasaty: Können Sie sich vorstellen, eines Ihrer Bücher im Internet zu schreiben, ein paar Jahre online zu arbeiten?

Lentz: Nein. Zumindest zur Zeit nicht.

Kasaty: Was sagen Sie zu der Aussicht, dass der Literatur und der Kunst ein immer geringerer Stellenwert beigemessen wird und immer mehr von der elektronischen, virtuellen Literatur gesprochen wird?

Lentz: Abwarten und Ruhe bewahren. Solche Untergangsszenarien sind einübbar und damit handhabbar. Es wird weiterhin eine stabilisierte Koexistenz von analogen und digitalen Medien geben. Das gedruckte Buch hat gegenüber „0“ und „1“ so viele Vorteile, dass mir da nicht bange wird. Die Medienlandschaft hat sich ausdifferenziert, und das ist überaus spannend und von ästhetischem Gewinn. Ich selbst bin nicht ausschließlich ans Buch gebunden, halte es aber hoch. Und das Buch wird sich nicht unterkriegen lassen. Schauen Sie sich doch mal in der U- und S-Bahn oder der Tram um.

Kasaty: Welche Funktionen, welche Bedeutung hat Literatur für Sie? Die Diskussion darüber wurde etwa im Jahr 1968 neu entfacht. Damals wurde behauptet, Literatur sei überflüssig und bedeutungslos, es sei denn, sie diene der unmittelbaren Vorbereitung politischer Praxis. Die Gruppe 47 hat die deutsche Literatur nach dem Krieg neu etabliert – die berühmtesten deutschen Nachkriegsautoren gehörten der Gruppe an –, und ihre Meinung war gesellschaftlich anerkannt. In den 1990er Jahren wäre diese Einstellung nicht denkbar, dass die Sinnstiftung, die aus der Literatur kommt, tatsächlich wichtig für die Gesellschaft ist. Welche Definition, welche Rolle hat Literatur für Sie?

Lentz: Ich habe keine Definition von Literatur, ich mache Literatur. Im wissenschaftlichen Sinne kann über „Literarizität“ und ihre Definition gestritten werden. Die Frage aber ist, inwieweit solche Definitionen relevant sein können für die Tätigkeit, die man literarisches Schreiben nennt. Literatur ist für mich Vergewisserung, Erinnerungsarbeit und Vergegenwärtigung. Sie führt vor Augen, und das vor Augen Geführte bleibt auch vor Augen, wenn die Literatur gut ist. Dann ist sie auch eine Brille. Manche Literatur ist noch schneller abgelaufen als Tagespolitik. Sie ist selber Tagesgeschäft. Warum sollte sie als moralisch etc. höher veranschlagt werden als Politik? Mir dient Literatur dazu, mich selber ein wenig haltbarer zu machen – und überprüfbarer. Ich kann an älteren Texten von mir ablesen, wie ich früher getickt habe.

Kasaty: Ihre ersten Bücher kamen in den 1990er Jahren heraus. Um 1995 begann allgemein der Versuch, „diese neue Literatur nach der Wende“ zu etablieren und gleichzeitig zu definieren und zu beschreiben. Das Feuilleton spricht von zwei Literaturen in Deutschland nach der Wende, die eine, die aus dem Osten kam, und die andere, die aus dem Westen kam. Wie würden Sie die literarischen Veränderungen der 1990er Jahre beschreiben?

Lentz: Diese These ist von ihrem zu veranschlagenden Antwortvolumen eher was für eine Doktorarbeit anstatt für ein Interview. Mir scheint sie ein wenig herbeigeklaubt zu sein. Das hängt sich an Jahreszahlen auf; historische Umbrüche und Neukonditionierungen sind aber Prozesse. Jahreszahlen sind da von symbolischem und markierendem Wert. Abgesehen davon sind die historischen Voraussetzungen, um von einer Stunde Null sprechen zu können, nach 1945 doch gravierend andere. Ein Schriftsteller, der aus dem ehemaligen Osten kommt, wird diese Frage wahrscheinlich anders beantworten – und mit mehr Kompetenz. Eine andere Frage ist, was „neu“ heißen soll. Auch das ist eine Doktorarbeitsfrage. Boris Groys hat „Über das Neue“ und die Zwanghaftigkeit, es überall etabliert zu sehen, schöne Dinge geschrieben.

Kasaty: Wie würden Sie heute die junge deutsche Prosaliteratur bezeichnen?

Lentz: Gekonnt auf der Suche. Wageunmutig. Im Umbruch. Sich selbst erzählend. Oder mit Koloratur in die Ferne schweifend. Ernsthaft verspielt. Zu alt. Zu vielfältig und vielstimmig, um über einen Konsenskamm geschert zu werden.

Kasaty: Die Lyrik der 1990er Jahre wird oft, z.B. von Raoul Schrott, als anämisch bezeichnet. Sind Sie auch der Meinung, dass nicht alleine die Prosa, sondern auch das zeitgenössische Gedicht sich der Entwicklung nicht entziehen kann und ebenso dem Geist der Zeit verfällt. Was ist Ihre Meinung dazu?

Lentz: Ich habe diesbezüglich meine Meinung geäußert in „Genau genommen – 10 Thesen zur Poesie“, die zuerst abgedruckt wurden in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dann im Jahrbuch der Lyrik 2005.

Kasaty: Wie würden Sie kurz den Kulturbetrieb in Deutschland umreißen?

Lentz: Es gibt viele Leute, die etwas kulturell bewegen wollen. Es kommt auf die Einzelinitiative an, die sich mit anderen zusammenschließt. Die zum Teil drastischen Einsparungen, die sicherlich nicht die letzten gewesen sein werden, haben zum Ende von Einrichtungen und Initiativen geführt oder beigetragen, für die es leider keinen Ersatz gab und gibt. Außer in der Schweiz kenne ich aber kein Kulturleben, das so rege ist wie in Deutschland. Insbesondere in der sogenannten Provinz bin ich immer wieder Veranstaltern und Initiativen begegnet, die mit ihrem Mut, ihrer programmatischen Ausrichtung und ihrem tollen Publikumszuspruch überraschen und wiederum Mut machen, dass Deutschland auch in Zukunft keine Kulturdiaspora wird. Stellvertretend nennen möchte ich hier die Literaturveranstaltungen Coburg liest, das Literaturfest Poetische Quellen in Bad Oeynhausen und Löhne oder zum Beispiel die LesArt u.a. in Ansbach und Schwabach.
Die Veranstalter dieser Reihen machen vor, wie es gehen kann, programmatisch, organisatorisch und das Publikum interessierend. Als Autor denkt man an diese Orte sehr gerne zurück. Ein weiterer Beweis, dass Deutschland nicht nur auf dem (brüchigen) Sockel Berlin ruht, und dass das Herz der Republik nicht allein in München, Hamburg oder Köln schlägt.

Kasaty: Viele Schriftsteller erzählen, dass Lesen eine fundamentale Voraussetzung des Schreibens ist. Lesen Sie, während Sie schreiben?

Lentz: Ja, immer. Zur Anregung, als Recherche, zum Lockerwerden. Im ganz pragmatischen Sinne aber auch zur Recherche bzw. Nachrecherche. Oder wenn ich mir nicht mehr sicher bin, ob etwas faktisch richtig ist. Lesen ist also in vielerlei Hinsicht Stimulanz. Thomas Mann ist ein Autor, den ich schätze, und der mir stilistisch nicht in die Quere kommt. Wen ich einen Hänger habe, lese ich zwischendurch Thomas Mann, um mich zu unterhalten, auf andere Gedanken zu kommen, mich einzuüben in einen Erzählfluss. Es ist ja nicht so, dass ich nicht erzählen möchte. Im Gegenteil. Aber auf meine Art. Und da lese ich dann einen Autor, der die Sache ganz anders anpackt, den ich dann auch wieder aus der Hand legen kann, ohne Angst haben zu müssen, es könnte sich in den nächsten zehn Seiten, die ich schreibe, ein zu starker Widerhall finden.

Kasaty: Was lesen Sie gerade?

Lentz: Gedichte und Stücke des Expressionismus (August Stramm, Gottfried Benn), Wladimir Majakowski (Gedichte und Stücke), zwei Bücher über Pflanzen und Vögel, James K. Lyon: Bertolt Brecht in Amerika, Bertolt Brecht: Arbeitsjournal, Hans Jürgen von der Wense: Werke (erschienen bei Zweitausendeins), Samuel Beckett: Malone stirbt (zum dritten Mal), Uwe Dick: des blickes tagnacht. gedichte 1969–2001 (immer wieder!), Hans-Ulrich Treichel: Der Felsen an dem ich hänge, Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte.

Kasaty: Welche Schreibprojekte stehen jetzt auf dem Plan?

Lentz: Zwei Bücher mit Erzählungen, ein Gedichtband, ein Hörspiel, ein Roman, ein Theaterstück. Die Erzählungsbände sind weit fortgeschritten, der Gedichtband ungefähr bei 40 Prozent, das Hörspiel in Arbeit, der Roman im Werden, das Theaterstück in der Konzeptplanung.

Kasaty: Mit welchen Adjektiven würden Sie sich charakterisieren?

Lentz: Konzentriert, schnell, geradeaus, starker Willen, Energie (kein Adjektiv); uneinsichtig, dickköpfig, kompliziert, eitel.

Kasaty: Was ist Ihnen lebenswichtig?

Lentz: Geliebt werden, gesund sein, gut essen, mit großer Energie meine Arbeit machen können, Sport treiben, Beschäftigung mit Literatur, Musik und Kunst, keine finanziellen Sorgen zu haben, Teamarbeit für größere Projekte, immer wieder an dieselben Orte zurückkehren zu können, der Wechsel der Jahreszeiten, spazieren gehen, mobil sein, von anderen Autoren und Autorinnen gute Sachen zu lesen, Nachdenken. Mit einem Text, einem Buch fertig werden, den/das ich gerade schreibe. Mir ist danach die ganze Welt offen.

Berlin, 19. April 2004, aus Olga Olivia Kasty: Entgrenzungen. Vierzehn Autorengespräche, edition text + kritik, 2007

 

 

 

Yevgeniy Breyger und Michael Lentz – Das Gedicht in seinem Jahrzehnt – am 27.5.2022 im Haus für Poesie

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Michael Lentz

 

Michael Lentz – Performance wie es früher war beim PROPOSTA-Festival Barcelona im November 2002.

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