Michael Zeller: Zu Gottfried Benns Gedicht „Wirklichkeit“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Wirklichkeit“ aus dem Gedichtband Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Wirklichkeit

Eine Wirklichkeit ist nicht vonnöten,
ja es gibt sie garnicht, wenn ein Mann
aus dem Urmotiv der Flairs und Flöten
seine Existenz beweisen kann.

Nicht Olympia oder Fleisch und Flieder
malte jener, welcher einst gemalt,
seine Trance, Kettenlieder
hatten ihn von innen angestrahlt.

Angekettet fuhr er die Galeere
tief im Schiffsbauch, Wasser sah er kaum,
Möwen, Sterne – nichts: aus eigener Schwere
unter Augenzwang entstand der Traum.

Als ihm graute, schuf er einen Fetisch,
als er litt, entstand die Pieta,
als er spielte, malte er den Teetisch,
doch es war kein Tee zum Trinken da.

 

Wirklichkeit

Benns Verse verherrlichen den Mann, als Mann und als Künstler. Sie tun das mit einer bedenkenlosen Sicherheit, die man heutzutage nicht mehr zu äußern wagt, die man gerade noch in einer starken schwachen Stunde zu bewundern sich getraut. Zu kritisch sieht man seine eigene Rolle als Sozialwesen Mann, zu plausibel sind die Forderungen engagierter Frauen nach Gleichberechtigung in jedem Sinn, als daß da noch der Rausch phallischer Allmacht sich ungebrochen feiern ließe. Aber die Minierarbeit des Bewußtseins, die Anstrengung zu gesellschaftlicher Sensibilität – sie bleiben gefährdet durch eine untergründige Sehnsucht nach dem, der seine Existenz nur durch sich selbst beweisen kann, der ohne Sozialversicherung und Bausparvertrag Werke schafft.
Diese Sehnsucht kann auch durch ein selbstauferlegtes Sprechverbot nicht weggenommen werden. Sie läßt sich nur verdrängen, und damit wächst sie sich zu einer unkontrollierbaren Gefahr aus: sie wird zur Angst und liefert sich dem politischen Sex-Appeal des „starken Mannes“ ebenso wehrlos aus wie in der Unterhaltungsindustrie den Batman, Bronson, Wayne und Reinhold Messmer.
Die einzige Möglichkeit, daß sich Männlichkeit weder sozialfreundlich zurücknimmt noch dem unkontrollierbaren Machtrausch verfällt, sieht Benn im selbstinszenierten Spießrutenlauf des Künstlers, in der freiwillig auferlegten Askese des Maiens; Schreibens, Komponierens, im Dienst an einer Form. Nur dort – im „Urmotiv der Flöten“ – ist der Überschuß phallischer Kraft aufgehoben, in dem Sinn, daß sie zu sich selbst kommt und sich selbst begrenzt: Sie lichtet ihre Energie nach innen, zerstörerisch und fruchtbar, wird zum Regisseur der Wirklichkeit an der Grenze zwischen Ich, Traum und Welt: „Aus eigener Schwere / unter Augenzwang entstand der Traum“. Dieser Mann hat keine Wirklichkeit zu fürchten, nur die jener „starken Männer“, die zu einer schwachen starken Stunde sich entschließen, „Politiker zu werden“. Dann kann es kommen, daß die „Kettenlieder“ jenseits eines Stacheldrahtverhaus erklingen.
Doch Benn wäre kein großer Poet, wenn er die Apotheose des Mannes als Mann und als Künstler mit eben jener Wirklichkeit, die doch gar nicht mehr „vonnöten“ schien, nicht ins Handgemenge brächte. In der letzten Strophe setzt er den männlichen Machttraum auf den harten Boden der Tatsachen. In drei Zeilen wirft Benn dabei die Kulturgeschichte dessen, was man Abendland nennt, aus dem Ärmel, mit Grandezza „Teetisch“ auf „Fetisch“ reimend.
Der Kraftüberschuß des Mannes und die Kunstbemühung waren da in mythischen Vorzeiten und entluden sich in den Fetischen der Höhlenmalerei; das religiöse Zeitalter personifizierte das „Urmotiv der Flairs und Flöten“ im leidenden Menschen, dem gestürzten Ikarus („Pieta“), abgelöst von den ernsten Spielen eines Ästhetizismus, der kein metaphysisches Sinn-System mehr hinter sich wußte. Ob Phidias, Michelangelo, ob Cézanne – sie alle gaben die phallische Dämonie an Kunstwerke ab, unter „Augenzwang“, sie schufen Welten, die ihren Existenzbeweis in sich tragen. Sie formulieren Träume, die den Betrachter noch nach Jahrhunderten beschämen, und doch: die Mägen, ihre, unsere, blieben und bleiben leer dabei.
Mit berlinischer Schnoddrigkeit, die den westpreußischen Pastorensohn Benn zum Dichter machte, entläßt das Gedicht den Leser mit der Frage: „Was heißt ’n dann noch Wirklichkeit?“

Michael Zeller aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

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