Milan Rúfus: Strenges Brot

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Milan Rúfus: Strenges Brot

Rúfus-Strenges Brot

WORTE
Für František Halas

Nur Tempelstufen sinds –
nur sie sind Worte.

Du meine Lotterie, tagtägliches Hasard.
Der Muttersprache Abgrund, jäh und tückisch,
er tut sich auf und schließt sich ohne Narbe.

Nur Tempelstufen sinds –
nur sie sind Worte.

Hoch über ihnen aber herrscht das Schweigen.
An seiner Schwelle, Dichter, steht die Wahrheit.
(Mag sein, der Träne kleine Münze wird
aufklingend sagen, was ich euch verschweige.)

Ach Wort, du Ranzen unterm Kopf. Ich sah
die Dichter überm schwindlen Schlund der Stille.
Und über eine zarte Brücke gingen
sie im Gedicht hinüber in die Größe.
Und schluchzten vor Befürchtung.

 

 

 

Das Strenge Brot des Milan Rúfus

Strenges Brot ist keine zufällige Metapher für die Poesie von Milan Rúfus, Strenges Brot ist ein Signum. Dieser nachdenkliche, ernste Dichter hat es sich selbst gegeben, als er seinen Band von 1987 so nannte und im Titel-Gedicht schrieb, daß er das Wort „wieder und wieder im wunden Munde“ wälzt.
Auf jene prägnante Weise, mit der Rúfus seine Verse formt, hat er damit erneut ausgesprochen, was ihm Poesie ist und was er in einem Gedicht der frühen 70er Jahre so umschreibt:

Etwas Greifbares auf den Tisch gelegt
wie Brot oder Wasser
oder wie Salz zwischen zwei Fingern.

Das Dichterwort gewertet als Notwendigkeit für den Menschen, als Bedürfnis. Es ist Wort-Brot, um den Hungernden zu speisen, den Trauernden aufzurichten: Es ist ursprünglich und bedarf keiner zusätzlichen Auslegung. Es spiegelt in der alltäglichen Verrichtung das Dasein als Ganzes und öffnet so Wege, die Welt als das große Wunder zu begreifen. Rúfus schöpft aus der Tiefe der Quelle, über der „kein Krämerladen…, ja nicht einmal ein Tempel“ errichtet werden soll. Das Wort als Wort, für das wieder Zeit ist, weil es die Gesetze des Lebens ergründen hilft.
Man mag eine solche anspruchsvolle Sicht der Poesie in der Zerfahrenheit unserer Zeit als altertümlich ansehen, vielleicht gar als überholt; doch dem ist nicht so. Sie ist im Gegenteil jene Position, die Dichtung in ihrer Ursprünglichkeit sieht, sie beim Wort nimmt und zum Wort zurückführt. Die das Grundsätzliche der menschlichen Existenz zwischen Geburt und Tod aussprechen will. Die helfen will zur Ganzheit unseres Lebens zurückzufinden, indem sie dem Dasein einen Sinn zu geben sucht und das Gedicht als Sinnbild des Lebens begreift. Es ist die ureigenste sinnstiftende Funktion von Poesie, die Milan Rúfus erneuern will und der er sich ein halbes Jahrhundert lang schon stellt: mit einem wachen Gewissen, mit einem Wahrheitsrigorismus, der selten ist, und wissend: „Auch Gesang ist Arbeit“ wie das Pflügen der Scholle oder das Weben von Leinen, um Vergleiche aus seiner dörflichen Bildwelt aufzugreifen.
Dichten weitab jeglicher eitlen Selbstgefälligkeit, Dichten als Verantwortung. „Mit der Gnade des Sprechens begabt“, heißt für Milan Rúfus in der Pflicht stehen. All denen gegenüber, die genauso verwundbar sind wie der Dichter und das Wunder des Lebens oft im Schmerz begreifen müssen, in der Einsamkeit und der Trauer, in der Krankheit und der Demütigung und doch nicht aufgeben, aufrecht bleiben, auch wenn sie „schon den Tod mit trockner Peitsche knallen hören“.
Weil Milan Rúfus auch aus eigener Leiderfahrung darum weiß, gebiert er „sein Wort im wunden Munde“. Eben darum sucht er umso nachhaltiger den verlorenen Mythos vom Menschen, beschwört ihn in seinen Versen, um immer wieder zu zeigen: bei all seinen Schwächen, all seinen Gebrechen ist es gerade die tätige Aktivität des Menschen, die das Antlitz der Erde formt, selbst wenn es ein so karges Land ist wie das seiner „Bergbauern“:

Hoch hast das Salz du, hast es, o Gott
hoch uns gestellt. Und wollen wir es greifen,
schwitzen wir Blut, Salz rinnt an uns nieder.
Teuer kommt uns das Salz, teuer zu stehen

… Mein grausames, mein strenges Land,
wie bist du mir so nah!

Die Bildwelt, die Milan Rúfus wählt, ist die seines slowakischen Dorfes, aus dem er selbst stammt. Von seiner Kindheit her trägt er sie in sich, ist sie ihm Inspiration, in ihren Geboten und ihrer Landschaft. Da führt der Mensch noch sein Zwiegespräch mit seinem Schöpfer, da ist tätiges Christentum noch selbstverständlich, das sich aus Glauben und Liebe und Hoffnung herleitet und Wahrheit, Gerechtigkeit und Güte will. Da ist die Hilfe für den Nächsten und den Schwachen noch wichtig und das Wohl der Gemeinschaft. Und da pflanzt der Dichter auch angesichts des Todes noch seinen Apfelbaum.
Aus solcher Sicht entsteht Verantwortung, die Pflicht, „singend die Last zu tragen“, weil der Künstler weiß, „wer zur Taufe… die Schönheit trägt“. Aber auch Bescheidung wird daraus geboren, Demut vor der Größe und der Majestät des Lebens. „Nur Demut schafft die Form / nur Treue zum erahnten Bild“, artikuliert es der Dichter. Und weist zugleich darauf hin, daß bei alldem den Menschen ein inneres Streben nach Schönheit und Wahrheit auszeichnet, ihn erhebt, er daraus seine Harmonie herleitet:

Wer sagt dir, Schönheit, sagt,
wie tief du in uns wohnst.

So tief,
so unermeßlich tief, daß wir durch dich
schrecken den Tod.

In dem halben Jahrhundert, da Milan Rúfus Gedichte schreibt und – nach einem durch die politischen Bedingungen verzögerten Debüt – seit 1956 auch veröffentlichen kann, ist eine solche Haltung in seinem Kulturkontext so selbstverständlich nicht, wie es heute klingen mag. Da gab es totalitäre Vereinnahmungsversuche und große Worte über die Aufgaben des Künstlers nach dem jeweiligen tagespolitischen Verständnis: Die Poesie des Milan Rúfus weist in ihrer Kontinuität aus, daß der wahre Dichter sich von alldem seine Wahrheit nicht nehmen läßt und sie verteitigt. Seine Gedichte erkunden und künden so „des Daseins Weisheit und Demut vorm Geheimnis“. Und oft ist in ihnen vom Tod die Rede, vom Tod, der „nur von Angesicht schreckt, / im Rücken“ aber „alles von der schönsten Unschuld scheint. / Wie eine Maske für den Karneval“. Freilich relativiert Milan Rúfus solche Sicht, in „Ophelias Bestattung“, denn er betont damit zugleich die existentielle Schwere menschlichen Lebens:

Flachsblondes Haar; Ophelia damit
ans Kreuz gebunden. Verankert liegt
das schöne Schiff.
Durch Schwere.

Mit der die Toten sich ans Leben klammern,
Lebende an den Tod.

Von Anfang an hat Milan Rúfus dafür eine Sprache gesucht, die magisch-beschwörend ist. Er schafft Metaphern von poetischer Dichte und Präzision, in der die intellektuelle Begrifflichkeit über eine eigenwillige Konkretheit verbildlicht wird. Innerer Zustand und äußerer Gegenstand werden in eines gesetzt, durchdringen sich, erhalten eine neue Bedeutung. Die Wirklichkeit wird zum Zeichen. „Dumpfes Blitzen der Stille. / Kein Vogelruf tönt aus dem Feld. / Korn, erleidend die Reife, / scheu und schmerzlich gewellt“, beginnt eines seiner frühesten Gedichte, das er „Menschheit“ genannt hat und das auch diesen Band einleitet. Da wird keine ausufernde Bildfülle präsentiert, sondern Exaktheit des Denkens und des Dichtens dargeboten. Die Strophen des Gedichts sind dem Dichter die Einheit, von der er ausgeht und die er als Ganzes konzipiert. Nicht Segmentierung also, Bildaufsplitterung, Häufung oder barocke Kumulation, sondern denkerische Leistung als Prinzip.
Milan Rúfus konzentriert sich auf das Wesentliche, kann im Sinne solcher Verdichtung und Vereinheitlichung verknappen. Er geht bis an die Grenze des Schweigens, über das er oft nachdenkt und zu dem ihm die Worte nur „Tempelstufen“ sind:

Hoch über ihnen herrscht das Schweigen.
An seiner Schwelle Dichter, steht die Wahrheit.

Die Verse von Milan Rúfus werden oft gleichnishafte Sprüche von sinnbildhafter Schärfe, geformt über Metaphern, die man als absolut bezeichnen kann:

Dort, wo allein der Wind vom Kreuz nahm, wurde
der Mensch geboren, den Nagel in der Hand.
So schlug man ihn an die geliebte Erde.
So lebte und so starb er.

Das ist von seherhafter und epigrammatischer Dichte. So bündelt Milan Rúfus seine Worte zur spruchartigen Sentenz. Für sein slowakisches Volk und dessen schwere Geschichte, die er häufig reflektiert, formt er in solcher Weise Verse von definitiver Einprägsamkeit.

So schlicht
drei Spannen vor dem Schöpfungstage
lebt stets dies Volk. Empfangen, Scholle, du,
von der Geschichte schmerzlich ausgetragen
im Sklavenleib. Es zählt doch nicht
das Mitleid, nicht der Zorn, schweigsamer Spielmann, du!

Auch da, wo Milan Rúfus mit zunehmendem Alter und zunehmender Müdigkeit sein intensives Gespräch mit Gott führt und die Direktheit des Wortes sucht, bleibt er in den Prämissen solcher Darbietungsweise. Nur wird der Ton jetzt subjektiver, wird das eigene Ich stärker eingeblendet, wird Bescheidung zum dominanten Lebensgefühl des Dichters:

Durch die Worte schon enterbt
steht er hier nackt…
Es drückt ihn schuldlose Schuld: die Anmaßungen, das Wort zu versuchen…

Solche poetische Selbstreflektion ist von prophetischer Weisheit und biblischer Kraft.
Doch ist die Bilanz des eigenen Lebens auch Dank, Dank an seinen Schöpfer, daß er ihm dieses Leben als Wunder offenbart hat:

Vor allem
und trotz allem: für die Teilhabe am Wunderbaren,
das Fährgeld für das Schicksal
von den Ufern des Nichts zu dem Unerhörten

wie das letzte Gedicht seines vorläufig jüngsten Bandes von 1996 beginnt, das auch diese Auswahl abschließt.
Es ist die Danksagung eines großen Dichters unserer Zeit, daß er an diesem Jahrhundert teilhaben durfte und darf: mit dem Dichterwort, das als Wort-Brot stets ein Strenges Brot ist. Und das uns den Sinn unseres Seins erkennen hilft: als ein Wunder, das letztendlich das Leben ist und das unbegreiflich bleibt wie der Tod als die andere Seite des Lebens.

Manfred Jähnichen, Juni 1997, Nachwort

 

 

Milan Rúfus

ist als Dichter und Essayist einer der großen Moralisten der slowakischen Kultur, der ernst und mit einem seltenen Wahrheitsrigorismus die ursprüngliche, sinnstiftende Funktion der Lyrik erneuern will. Dichter heißt für ihn Verantwortung tragen, in der Pflicht stehen, all denen gegenüber, die wie er das Wunder des Lebens oft im Schmerz begreifen müssen. Nicht aufgeben, sondern aufrecht bleiben, ist seine Haltung.
In seinen Gedichten greift er nicht selten die Dorfwelt seiner Kindheit auf, da tätiges Christentum noch erlebbare Hilfe für den Nächsten ist, Hilfe für den Schwachen.
Milan Rulus’ Sprache ist magisch-beschwörend mit Metaphern von poetischer Dichte und Präzision. Seine Verse werden so gleichnishafte Sprüche von geistiger Schärfe.
Uwe Grüning und Richard Pietraß, zwei anerkannte deutsche Dichter, haben sich dieser Poesie auf unterschiedliche Weise genähert und sie nach ihrem poetischen Verständnis übertragen.
Mit dem Gedichtband Strenges Brot von Milan Rúfus startet die Reihe VERS-ZEIT BEI GOLLENSTEIN, in der bedeutende slawische Dichter vorgestellt werden, die die Literatur ihres Landes vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt haben. Professor Dr. Manfred Jähnichen von der Humboldt Universität zu Berlin ist der Herausgeber dieser Reihe.

Gollenstein Verlag, Klappentext, 1998

 

Sanfte Strenge

Milan Rúfus wurde am 10. Dezember 1928 in Závazná Poruba, einem Dorf der Mittelslowakei, geboren und gehört somit einer jüngeren Generation an als die bedeutendsten Dichter der klassischen tschechischen Moderne: Nezval (1900), Halas (1901), Holan (1905), Seifert (1909) und Hrubin (1910).
Im Gegensatz zu diesen verbringt er Kindheit und erste entscheidende Jahre nicht in der k.u.k. Monarchie. Weder deren Schatten noch deren Mythos spiegelt sein Werk. Der Wille zur nationalen Selbständigkeit, der Widerstreit zwischen traditionellem und neue m Selbstverständnis nehmen ihn nicht gefangen. Den Untergang des 3. Reiches erlebte Rúfus als 16jähriger.
Doch das, was als Befreiung, als Neubeginn empfunden wurde, führte zu einer neuen Gefangenschaft. Wer nach 1945 in Westeuropa aufgewachsen ist, wird sich schwerlich ein Bild von der Isolation, der Abgrenzung von jedem natürlichen Geistesleben machen, welche der Spätstalinismus auch über die Tschechoslowakei verhängte. Das Tauwetter nach dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die Entthronung des Götzen Stalin ermöglichte Rúfus die Veröffentlichung eines ersten Gedichtbandes: Bis wir reifen. Eine seiner bedeutendsten Sammlungen Die Glocken erschien im Jahre 1968, einem Schicksalsjahr, auch für die Slowaken. Jedoch blieb Rúfus im Gegensatz zu Seifert, Kundera, Skácel und vielen anderen – die öffentliche Anerkennung erhalten, auch wenn sie immer gefährdet und nur auf Widerruf geduldet war wie jede Gabe von Diktatoren.
Rúfus blieb, der er wurde, in einer seltenen Treue zu sich selbst und seiner Herkunft, ohne in einem Konservatismus zu erstarren, der das sich Wandelnde nicht sehen will oder es grundlos verachtet. Seine Verse sind prägnant. Er schreibt im einzelnen Gedicht keine Variation auf ein gewähltes Thema, obwohl sein Themenkreis wie der fast jedes bedeutenden Dichters fest umrissen und nicht sonderlich groß ist.
Seine karge Sprache meidet in gleicher Weise Manierismus wie Trivialität. Ein zur Poesie erhobener Alltag, nie jedoch die Belanglosigkeit tritt in seine Verse. Das slowakische Dorf und dessen Umkreis, Herkunft und erste Erfahrung verleugnet er nie. Zuweilen geriete er in Gefahr, sie zu idealisieren, wäre da nicht ein Grundzug früherer Jahrhunderte, fortwirkend in den 20er und 30er Jahren und selbst im kommunistischen Zeitalter sichtbar: Armut, Mühsal, Bedrückung des kleinbäuerlichen Tagelöhnerdaseins. Keimen, Wachsen, Reifen und Vergehen gilt Rúfus mehr als ein Gleichnis: es ist das Leben selbst. Wohl tritt der Mensch durch seine Geistigkeit aus der Natur, doch er gehört ihr auch dann noch an. Er wird stärker von ihr gestaltet, als daß er über sie herrscht. Das Unbelebte sowie das Wachsende, aus dem Korn und hernach Brot wird, und alle Kreaturen bleiben dem Menschen verbunden. In einer überhöhten bäuerlichen Sphäre lebt er brüderlich mit den Dingen. Hinzu tritt eine tiefe Christlichkeit, die Rúfus eigenwillig deutet.
Obwohl aus allen seinen Texten ein sich dem Leser erschließender Sinn spricht, erstrebt Rúfus, der Moralist und Lebensdeuter, keine Sinngebung oder, pathetisch gesprochen, keine Sinnstiftung, vielmehr Sinnentdeckung, Sinnerkundung und Sinngestaltung.
Er maßt sich nicht an wie einige Dichter der europäischen und amerikanischen Moderne, Weltschöpfer oder Weltzerstörer zu sein, er bleibt ein Dienender im höchsten Sinn dieses Wortes: untertan Gott, dem Wort und den Menschen. So triumphiert in seinen Gedichten ein Sinn, der dem späten Europäer abhanden kam, so verkündet er die Trinität: Welt, Wort, Mensch, deren Einssein sein Ideal ist, während wir nur noch die monotone Gottheit Mensch kennen.
Rúfus zieht keine scharfe Grenze zwischen Leben und Tod. Wir leben auf unseren Tod hin wie die reifende Ähre, aus deren Körner neues Leben entsteht. Deshalb muß er den Tod nicht aus seinen Versen verbannen und durch die scheinhafte Ewigkeit einer orgastischen Gegenwart ersetzen. Sein Tod tötet die Freudigkeit nicht, obwohl er nachdenklich, ja, zuweilen schwermütig macht.
Sein Bildvorrat, dem slowakischen Dorf entstammend, ist zugleich archaisch, archetypisch und zeitbeständig. Seine Symbole für Werden und Vergehen schauen auf eine reiche Tradition in der Weltdichtung. Wer so nahe der Erde lebt, führt ein ständiges, eigenwilliges, demütiges und aufbegehrendes Zwiegespräch mit Gott, hält mit-leidende Bruderschaft mit den Armen, den Dürftigen, den Verzweifelnden. Aus Bildern und Metaphern entsteht sowohl ein Lebenskern als auch eine Lebenssphäre, die größer ist als die dörfliche und auch die unsere berührt.
„Strenges Brot“ heißt, sowohl den Titel eines Gedichtes als auch den eines Gedichtbandes aufnehmend, die vorliegende Anthologie. Beides sind Schlüsselworte für Rúfus: Brot in seiner wörtlichen Bedeutung ist der Grundquell, der Nährgrund des Menschen, Poesie dessen geistige und emotionelle Nahrung. Rúfus glaubt, daß der Mensch ohne das Brot in beiderlei Gestalt, ohne Korn und ohne Poesie, nicht zu überleben vermag.
Strenge symbolisiert die Mühsal, die Qual, in der ein Gedicht entsteht und mit der das Korn der harten Erde entrissen wird. Die stille Strenge, die aus der Erde strömt, berührt im Gedicht „Menschheit“ die sanfte Ähre. So bringt diese Strenge, die nicht ohne Güte ist, das Weiche, das Duldende, das Geschmeidige hervor.
Hier, wie auch in anderen Versen, wird Reife als etwas Schmerzliches empfunden, als etwas, das erlitten wird, erlitten werden muß, weil es sonst keine Mahd, keine Ernte gibt.
Die Reife des Korns gleicht darin der Reife des Menschen. Nirgends scheidet sich in unversöhnlicher Schärfe belebte und unbelebte Natur. Das Unbelebte wird beseelt durch das Lebendige und bestärkt es seinerseits in seiner Daseinskraft. In der „Ballade des Herbstes“ erscheint der Mond als eine Füchsin, eine Fähe, die aus dem Bergsee trinkt. Die Schlachtwunde eines Lammes tränkt mit Purpurfarben den Mund des Herbstes. Beides ist ebenso metaphorisch wie dinglich zu verstehen. Die Eberesche der Vogelbeerbaum, wird zum verstehenden Wesen, zur Heimat selbst, zu deren Personifikation einer beichten kommt, um getröstet zu werden. Immer wieder leuchten die alten Symbole hervor: Korn, Ähre, Brot, Quelle und Brunnen. „Du Wasser, graue Schwester des Gedichtes“, heißt es. Das Wort ist so wenig durch Gewalt zu formen wie das Wasser und wenn es guten Boden tränkt, fruchtbar wie dieses. Maria wird zum Sinnbild aller irdischen Mütter. Gleiches gilt von der Weberin. Denn Weben, eine uralte dörfliche Tätigkeit, ist zunächst Mütterwerk: Hervorbringen und Formen. Das Leben ist ein Gewebe wie das Gedicht. In vielen Kulturen spinnen Schicksalsfrauen den Lebensfaden und zerschneiden ihn, wenn es Zeit ist. Auch an Bachofen sei erinnert, der in Penelopes täglichem Weben und nächtlichen Auftrennen das Werk der Natur versinnbildlicht sieht: sie bildet und zerstört, sie gebiert und verurteilt zum Tode.
Wie Rúfus denkt und fühlt, gewinnt im Gedicht „An sonnigen Oktobertagen“ höchste Dichte, überzeugende Bildhaftigkeit und paradigmatische Gültigkeit.

AN SONNIGEN OKTOBERTAGEN

An sonnigen Oktobertagen rinnt durch das Erdreich Stille.
Der Lehm wird leicht den Lebenden und Toten
an sonnigen Oktobertagen.

Vom Gottesacker weht es her.
Denkst du daran, macht es dich fast benommen.
Im Wind, durchdringend aber leis,
wispern und rascheln alte Frauen, diese braunen Pergamente,
gesiegelt mit dem Wappensilber. Und ganz erleuchtet.
Seltsames Licht – woher? Wohl jenseits schon des Lebens.
So daß heut jede Runzel sichtbar wird
und jedes Schauern ihrer Vogelleiber,
den flaumenleichten vor dem Flug
im sonnigen Oktober.

An sonnigen Oktobertagen rinnt durch das Erdreich Stille.
Der Lehm wird leicht.
Vom Gottesacker weht es her.
Im Unterraum der Erde ist es licht.

Die Jahreszeit, ein Gleichnis für ein Lebensalter des Menschen, kommt Jahr um Jahr in anderer Weise über das Dorf und bleibt doch sie selbst. Der Herbst gilt als ein Danach, ein Nachhall, ein Gewesensein; er lebt nahe am Nicht-Mehr. Der Sommer bedeutet Frucht, Fülle und Erfüllung, auch Sinnerfüllung, der Frühherbst Reife, selten der Spätherbst. Der Oktober zieht zwischen beide die Grenze.
An sonnigen Oktobertagen verschwistert sich das Leben mit dem Tod. Im Unterraum der Erde ist es licht, obgleich das oberirdische Licht zur Neige geht. Denn der sonnige Tag schenkt nur einen Abglanz des Sommers. Er bleibt ohne Verheißung und dunkelt früh.
„Vom Gottesacker weht es her“ die Wintersaat wird in die Furchen gesenkt. Mensch, gedenke, daß du sterben mußt – diese Mahnung macht benommen. Doch der Tod ist nichts Schreckliches, keine Drohung aus dem Schattenreich. Vielmehr wird der Lehm leicht und die Erde hell.
Licht durchströmt das gesamte Rúfus’sche Gedicht: Oktoberlicht, fahl, wehmütig, tapfer, Überwindung der Erdenschwere und -härte. Leicht wird der Flug wie der von Flaumenfedern. Der Mensch, vom Alter gemagert, vom Leben ausgezehrt, gewinnt einen Vogelleib. Durch das Erdreich rinnt Stille als Vorwegnahme der feierlichen Stille des Ewigkeitssonntags.
„Im Wind… wispern und rascheln alte Frauen, diese braunen Pergamente, gesiegelt mit dem Wappensilber.“ Das Schriftwort dringt in die Natur, durchdringt sie, wird von ihr durchdrungen. Es zeigt die Untrennbarkeit von Wort und Leben. Kunstreich ist die Metapher der Pergamente, des Schriftträgers, der gesiegelt wird, sobald alles geschrieben ist, was es zu schreiben galt. Die Pergamente sind alte Frauen, doch zugleich fallende und gefallene Blätter, obgleich diese mit keiner Silbe erwähnt werden. Die Pergamente, gealtert und gebräunt, sind ebenso wertlos wie kostbar. Eingebettetsein in den Kreislauf der Natur, nicht aber ewige Jugend heißt Rúfus’ Ideal. Gute Zahnprothesen haben die einprägsamen alter Gesichter, die Runzel-Haut durch einen Schimmer von Jugend ersetzt. Doch der Verlust von Glätte und Frische gab ihnen eine eigenwillige, wenn nicht Schönheit, so doch Ausdruckskraft. Gewissermaßen sprach das ganze Leben aus ihnen. Nun reden sie einförmig, sie werden spracharm.
Sprachlosigkeit ist für Rúfus eine andere Art von Tod, von unfruchtbarem Tod, der nicht wie der natürliche hinwegnimmt, um hervorzubringen. Dennoch kennt Rúfus auch das Leiden am Wort, die Schwierigkeit, das rechte zu finden, das eins mit den Dingen wird, anstatt sie zu verraten. Sein Wort steht immer in Korrespondenz mit der Stille, es kann beredtes, aber auch totes Schweigen werden. „Des Menschen hohle Krücke“, nennt er das Wort. Er vergleicht Worte aber auch mit Tempelstufen, mit dem Ranzen, den der Wanderer unter seinen Kopf legt:

Der Muttersprache Abgrund, jäh und tückisch,
er tut sich auf und schließt sich ohne Narbe.

Er reflektiert wie auch die tschechischen Dichter, ohne an der Legitimität dieser Reflexion zu zweifeln, über das Gedicht. Er überhöht es, erkennt aber auch seine Gefahr. So nennt er das Lied ein Danaeergeschenk. Die Erde stirbt, wenn alles gesagt ist. Darauf deutet das Gedicht „Herbstlaub“:

Was mitzuteilen war,
ist mitgeteilt.
Das Sagbare
gesagt.

Deshalb fallen die Blätter. Deshalb beginnt die Sprachlosigkeit. Wenn das Gedicht stirbt, vergeht auch das Leben:

Verläßt du mich, Gedicht? Ich spüre,
die Dinge heben an, mir Lebewohl zu sagen.
Und nicht genug, ich selbst entferne mich
aus ihnen…

Dörfliche Bilder deuten bei Rúfus auf den Ursprung, auf die rechte Deutung der Welt:

Auch du hörst manchmal schon den Tod
mit trockner Peitsche knallen.

Dieser Tod ist ein Fuhrman; oder ein Pflüger, auf jeden Fall aber der Lenker des Gespanns Leben. Häufig wieder kehrt das Glockenmotiv und das des Brunnens. Das Leben ist Brunnen wie die Erinnerung. Das Spiegelbild im Wasser offenbart unser Selbst:

Erinnrung Brunnen. Tastend trinkst
und schöpfst vom Wasserspiegel du
behutsam dein Gesicht.

Von der Heumahd heißt es: „Ein Schäfchen wird geschoren“. Das Gras verwandelt sich in ein Wesen, in Lamm und Schaf, die symbol-alten Tiere. „Die Läufe mit dem Band des Wegs gebunden“, liegt dieses zu scherende Schaf. Es ist keine Heumahd mit dem Mähbinder, sondern eine sehr alte, wie sie noch heute in manchen slowakischen Orten zu sehen ist.
Wege führen durch Verse und Welt, bedeutsam nicht nur, wenn sie zum Ziel leiten, auch weil sie Raum geben, weil sie wandern, fortgehen heißen. „Einen Heiligenschein aus frühem Staub trägst du, / geduldige und schlanke kleine Magd“, so spricht Rúfus zu einem Feldweg. Die Grenze zwischen Feldgestein und Lehm wird zur Lebensgrenze, die Pflugfurche zur gefurchten Linie in der Hand des Mannes.
Wie das Unbelebte, die Frucht und das Lebendige sich so nah werden, daß sie liebevoll ineinander übergehen, zeigt auf das Schönste das Gedicht

OKTOBER

So wie das Zicklein aus dem Mutterleib
gezogen wird, so liebevoll sei aus der Erde
geerntet die Kartoffel.

Langsam taucht die Hand
tief in das dunkle Nest
und tastet.

Wie sich die Arme breiten
spreizt sie die Finger. Lange tragen
die Nägel noch der Mutter Trauer,
die so früh verloren hat die Jungen.

Öd wird der Erde es auf Erden sein.

Es wäre aber verfehlt, bei Rúfus nach einer heilen Welt, einer Idylle zu suchen. Er fordert nicht, zur Natur, in eine bukolische Fraglosigkeit zurückzukehren. Er weiß, wie problematisch, wie schwer die menschliche Existenz sowohl in den Städten wie auf dem Lande ist: Ohne Gott ist kein Teufel, und schon als Kind ahnt Rúfus,

daß sie verbunden sind wie ein
Doppelbild auf dem Spielblatt.

In seine Kindheit kann keiner zurückkehren, es sei denn im Traum. Versucht er es in der Wirklichkeit, so wird er stürzen, denn das ist,

als wolltest du, ein schwarzer Passagier,
aus deiner Zeit und wie aus einem Flugzeug
hinüberwechseln eilig auf ein Wölkchen.

Rúfus, der sanfte, der Dichter der leisen Töne weiß:

Wo Riesen ihre Rechnung machen,
gibt es keinen Mittelweg

Uwe Grüning, Ostragehege, Heft 14, 1999

 

 

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Milan Rúfus liest „Škôlka“.

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