Miodrag Pavlović: Einzug in Cremona

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Miodrag Pavlović: Einzug in Cremona

Pavlović-Einzug in Cremona

DIE LETZTE STUNDE

Alles bleibt stehen
umsonst zieht man die Uhren auf
am Markt
niemand geht aus
nichts kommt heraus
nirgends ein Zeichen
ein Handwerker kommt vorbei
und fragt
was repariert werden soll
unten an der Mündung
berichten die Kapitäne
die Sonne
verkehre nicht mehr im Hafen
auch die Boote
ziehen sich aus der Affäre
wer bleibt bei uns?
nur die Photographen

 

 

 

Dies und das zu den unverwöhnbaren Dichtern

(statt eines Nachworts zu den Gedichten von Miodrag Pavlović)

*

Ein Phänomen der heutigen Zeit? nur dieser?: der Typus des verwöhnten Dichters, des arrivierten? Einmal ausgewählt von einer Öffentlichkeitsinstanz als ein Auserwählter, oder „Götterliebling“, tritt er sein Lebtag lang als solcher auf, als Gastpoet von San Francisco bis Venedig, von Johannesburg bis Stockholm; als Poetiklehrer von Campus eins bis Campus hundert; bedichtet nicht bloß eine jede seiner Gratisgaststätten, sondern weiß darüber hinaus zu jeder noch so fernen Weltlage was zu sagen; gibt sich, als poeta doctus etc., nicht bloß souverän, sondern spielt auch, ganz Teil und Ausgeburt der Instanzen, die ihn ausgewählt haben, vor diesen und innerhalb dieser den Universellen, oder eher den Eigentümer aller je aktuellen Themen. Statt sich wie andere Dichter von den Problemen mit Menschen, Dingen, Orten überwältigen zu lassen, bemächtigen sich diese verwöhnten Dichter dessen, was jeweils Sache ist – sind eher Annektierer.

*

Der serbische Dichter Miodrag Pavlović gehört zu den anderen Dichtern, den nicht bloß unverwöhnten, sondern unverwöhnbaren Dichtern – ohne freilich mit seinesgleichen eine Reihe, Riege oder Konferenzgruppe zu bilden. Seinesgleichen, das sind zum Beispiel: Paul Celan, Ilse Aichinger, René Char, Antonio Machado und vor allem, gerade in der gegensätzlichen Grundeinstellung, der Pole Zbigniew Herbert. Herbert: die vertrauenserweckende Trockenheit seiner Poesie; das Ja-ja, Nein-nein des Moralisten (so hat er sich selbst bezeichnet). Miodrag Pavlović: die anders Vertrauen erweckende Rhapsodik – obwohl er sich zwischendurch von ihr verabschiedet – seiner Gedichte: das über ein halbes Jahrhundert, trotz sich verändernder Rhythmik und Stimme, sich behauptende Enthusiastische. Früh enttäuscht – wenn man psychologisch argumentieren wollte, etwa durch die Bomben auf Belgrad 1941 und dann 1944 –, doch unverdrossen ausholend in den Zeiten – der Balkangeschichte – und den Räumen – dem Balkan als dem ewigen tragischen Zwischenraum. Eine begeisterte Enttäuschtheit, wild, schön – unverbesserlich; eine fruchtbare Desillusion – wobei doch eins der häufigsten Worte bei Pavlović die „Hoffnung“ bleibt (oder sollte man das serbokroatische „nada“ mit „Zuversicht“ übersetzen?), mit dem zugehörigen Beiwort „groß“ (als Gruß an Ilse Aichinger). Und wie alle die unverwöhnbaren Dichter tritt auch Pavlović niemals als ein Offizieller auf – selbst im eigenen Land ist er der zittrige, fragende, immer wieder beinahe bettelnde Gast. („Im Traum bin ich Bettler geworden…“) Universell: das sind er und seinesgleichen. So universell wie untröstlich. Poetikvorlesungen? Ja, aber nur von seinesgleichen, im stillen Lesen. Und zum Glück wird seinesgleichen ja auch nie zum regelrechten und regelversessenen Poetikdozenten, samt – Stuhl, bestellt werden.

*

Noch einmal zusammengesehen das Werk von Miodrag Pavlović mit dem Zbigniew Herberts, doch nicht in der Gegensätzlichkeit jetzt – in der Übereinstimmung: das „Cave Musicam!“, Hüte dich vor der Musik, Nietzsches, und dafür, bei aller Musikalität, das Beharren beider Poeten auf den Bildern, auf dem Malen, dem Bild, dem Gesetz des Bildes; dem unerkennbaren Gesetz im Bild:

Das Inbild der Schönheit wird Gnosis.

*

Was für eine herzliche Einladung in der Gedichtzeile: „Kommt doch auch einmal zu uns / unser Lied ist ein schöner Schrei“ – Gast, der einlädt in sein geliebtes Gastland. Und natürlich ist das Zwischenraumland Serbien gemeint, und damit auch dessen Hauptstadt Belgrad, БЕОГРАД, Pavlović’ Stadt. Verhaßte, an- und eingeschwärzte Stadt in aller Welt? Und wie kommt es aber, daß kaum eine Stadt auf der Welt heutzutage wohl so überzeugend geliebt wird, geliebt werden kann, nicht nur von Miodrag Pavlović, sondern von vielen, vielen, Einheimischen wie Fremden, am stärksten überzeugend und ansteckend aber von diesem ganz und gar nicht verwöhnten Dichter? – weil auch die Stadt, der Ort, das Land ganz und gar nicht verwöhnt sind, und es auch verachten, sich je verwöhnen zu lassen? Wie schrieb die Dichterin Desanka Maksimović aus dem Dorf Brankovina bei Valjevo (kein Gegensatz Stadt – Land!), eine Vorläuferin dieses Vorläufers wieder eines Vorläufers?:

Unser Land wird nicht verlorengehen.

Peter Handke, Nachwort

 

Ein Dichter von europäischem Rang

ist zu entdecken, neu zu entdecken – Miodrag Pavlović, der Grandseigneur der serbischen Gegenwartslyrik. Sein legendärer Lyrikband 87 Gedichte machte ihn, den angehenden Arzt, 1952 in Jugoslawien über Nacht berühmt.  Heute gehört er mit seinem Œuvre von über 30 Gedichtbänden in eine Reihe mit Joseph Brodsky, Jan Skácel und Zbigniew Herbert.
Die vorliegende repräsentative Auswahl umspannt ein halbes Jahrhundert und versammelt eine Vielfalt lyrischer Formen, Tonlagen, poetischer Ansätze vom „Aufschrei am Rande der Existenz“, den schockhaften lapidaren Gedichten des Anfangs, bis zu den ruhigen, zur Ursprungserzählung tendierenden späten Prosagedichten. Von den frühen traumatischen Erfahrungen mit Krieg und Revolution bis zur Tragödie Jugoslawiens in den 90er Jahren, die er in visionären Gedichten vorhergesagt hat, zieht sich ein Thema durch das gesamte Werk: das Verhältnis des Menschen zu seiner Geschichte.
Im Rückgang auf die griechische Antike und die Mythen der Slawen auf dem Balkan sucht er die Grundlagen der heutigen Zivilisation, befragt Ideologien und nationale Mythologien. Seine Helden, die berichten, wie es war, sind gestürzte Götter, gescheiterte Fürsten, verfolgte Sektierer, Flüchtlinge oder eben jene Hunde auf Knossos, die sich von der Eroberung des Palastes durch die Dorer mehr Freiheiten versprochen hatten und resigniert feststellen müssen:

Wir hatten auf ein besseres Leben gehofft
unter neuen Herren.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2002

 

Eine Henne hängt aus den Wolken

– Allerhand Traumbilder: Das lyrische Werk Miodrag Pavlovićs ist (wieder) zu entdecken. –

„Das ist der dritte Blick auf die Dinge: / auf der leprösen Grundlage des Seins beginnt die Phantasie / ihre Arbeit an der Schönheit, und verschenkt freigebig / ihre egoistischen Werke“, heißt es in einem 1977 publizierten Gedicht des serbischen Lyrikers Miodrag Pavlović. Welche beiden Blicke mögen ihm vorangehen? Einmal angenommen, dass es sich auf der untersten Stufe um einen passiven, lediglich absorbierenden, dass es sich sodann um den die Welt analysierenden Blick handelt, so ist es wohl nicht völlig verfehlt, Pavlovićs dritten Blick als den poetischen zu bezeichnen – jenen, der die Welt um eine Möglichkeit ihrer selbst bereichert. War dem englischen Romantiker  Shelley  in seiner Defense of Poetry noch daran gelegen, den „Schleier von der verborgenen Schönheit der Welt“ zu ziehen, so ist es hier das Lepröse, das offenkundige Auseinanderfallen des Weltfundaments, das zum poetischen Tun motiviert. Es nimmt daher nicht Wunder, dass Pavlovićs Lyrik im Grundton weniger optimistisch als vielmehr dunkel, ja oft bedrohlich wirkt in ihrer keine Untiefen scheuenden, kraftvollen Bildlichkeit.
Es war 1952, als die lesende Öffentlichkeit des damaligen Jugoslawien erstmals die Früchte von Pavlovićs drittem Blick begutachten konnte – ein Jahr bevor  Vasko Popa, der andere Neuerer der modernen serbischen Lyrik, debütierte, und bereits vier Jahre nachdem Titos Staat aus der Kominform, also dem de facto von Stalin kontrollierten „Informationsbüro der kommunistischen und Arbeiterparteien“, ausgeschieden war und sich damit auch weitestgehend von den Dogmen eines Sozialistischen Realismus verabschiedet hatte.
Auf 87 Gedichte, so der schlichte Titel von Pavlovićs Erstling, sind bis heute rund dreißig Gedichtbände gefolgt – genug Material also für den heute teils in Belgrad, teils in Süddeutschland lebenden Autor, um einen repräsentativen Querschnitt durch das eigene Werk zusammenzustellen, der nun, wie schon eine erste, 1961 erschienene Auswahl, von  Peter Urban  ins Deutsche übertragen wurde. So ist ein Band entstanden, der eine ungemein packende Lyriklektüre bietet, deren Pole die jüngste Lyrik in Prosa und die Gedichte aus dem Frühwerk bilden – nicht zuletzt jenes herrliche, knapp gehaltene auf eine soeben geschlachtete Henne:

An den Füßen zusammengebunden
hängt aus den Wolken eine Henne
ohne Kopf

Blut in der Kloschüssel

Hand in Hand
spielen zwei Messer
Klavier

Die Federn im Kissen
werden vergeben
unseren nackten Hälsen

So deutlich die formalen Veränderungen werden, die Pavlovićs Gedichte im Lauf der Jahrzehnte durchgemacht haben – pendelnd zwischen schnellem Zeilensprung und dichter poetischer Prosa, zwischen Kurz- und Langgedicht –, so deutlich bleibt die Verbundenheit mit dem französischen Surrealismus, der schon in den dreißiger Jahren als „Nadrealizam“, als durchaus eigenständige Variante in Belgrad in Erscheinung getreten war. „Das stärkste Bild, muss ich gestehen, ist für mich das, das von einem höchsten Grad von Willkür gekennzeichnet ist; für das man am längsten braucht, um es in die Alltagssprache zu übersetzen, sei es, dass es einen besonders hohen Grad an offenkundiger Widersprüchlichkeit aufweist, sei es, dass einer seiner Ausdrücke merkwürdig verborgen bleibt, sei es, dass es sensationell zu sein verspricht und sich dennoch leicht auflösen lässt (dass es plötzlich den Schenkel seines Zirkels zusammenklappt)“, hatte André Breton in seinem ersten surrealistischen Manifest formuliert, und es sind solche Bilder, die in Pavlovićs Lyrik immer wieder hervorstechen – als kompakte, im Frühwerk oft genitivische Metapher, oder als von ebenso verstörender wie betörender Traumlogik geprägte Szenerie:

Wir schlendern weiter ohne Scham
bis zu dem Klavier mitten im Feld,
du lachst, das Klavier ist größer als der Acker
und ein Adler spielt auf ihm.

Während Vasko Popa den Surrealismus mit serbischer Folklore anreicherte, greift Pavlović immer wieder auf die griechische Mythologie, auf biblische wie geschichtliche Motive zurück und bevölkert seine Gedichte mit einer beachtlichen Anzahl historischer Gestalten; so begegnet der Leser Agamemnon, Orest, Oedipus, Pindar und anderen. Der Mythos – die mythische Episode, ihr Schauplatz – wird zur Folie, mit deren Hilfe sich über die Welt von heute sprechen lässt; neu interpretiert und verhandelt, erhellt das transponierte Material die Gegenwart – etwa wenn „Odysseus auf der Insel der Kirke“ sein Geschick und das seiner Mannen zu deuten beginnt und schließlich ein Urteil in eigener Sache fällt:

Auch unseren schweinischen Zustand haben wir verdient
um es rundheraus zu sagen
mit der Liebe zu einer Hure von Frau
und der Sehnsucht nach den finsteren Formen der Macht

Man ist bei vielen Gedichten Pavlovićs versucht, einen politischen, einen gesellschaftsrelevanten Sinn herauszulesen (und wird darin gar bestärkt durch den gelegentlichen allegorischen, wenn auch keinesfalls eindimensionalen Text wie etwa „Verwaltung“), doch verweigern sich Pavlovićs Gedichte der allzu einfachen Lesart und drängen am Alltäglichen vorbei zum Existenziellen, Grundlegenden, oft nur in Paradoxien Greifbaren vor. Der Mittelpunkt ist dabei stets derselbe: Es ist „der Mensch, dieser Prophet und Lotterbube“.
Bei allem Pessimismus, bei aller Herbheit, die Gedichten wie etwa einer „Variation über den Schädel“ zu eigen sind, gibt es immer wieder Momente von Saloppheit, ja Komik. Pavlović meidet nicht die verspielteren Formen des Surrealen, flirtet mit dem Profanen, gelegentlich sogar mit dem Slapstick, und sagt in dem Langgedicht „Verteidigung unserer Stadt“ von 1953:

Wenn ich schon die Frivolität verteidigen muss
von etwas das ich liebe, dann schon bei einem Bier

Und wenn „dieser kleinste Erlöser, / diese Maus am Horizont“ mit dem Ausruf „unsere große Hoffnung!“ begrüßt wird, erscheint das nur bedingt als Zynismus eines von der Geschichte Ernüchterten, denn Pavlović überzeugt fast durchgehend als Verfasser von gleich „zwei Chroniken, / von denen ich dir ständig erzähle: / dem Archiv der Spuren im Schnee vom vergangenen Jahr / und dem Gewächshaus temperierter Kerne die morgen blühen sollen“.
Hier ist einer, der in einem Memento mori das „Zwinkern des Staubs“ erwidern kann und zugleich „das gelbe Blatt / das nicht vom Zweig fällt“ zu feiern versteht, einer, den  Peter Handke  in seinem knappen Nachwort „zu den nicht bloß unverwöhnten, sondern unverwöhnbaren Dichtern“ zählt. Zumindest was die Gedichte dieses schönen Auswahlbandes angeht, ist trotz eines jahrzehntelangen Schaffens in der Tat kein Nachlassen an poetischer Intensität, an feinjustiertem Skeptizismus, an aufregender Bildlichkeit und gedanklichem Ernst zu spüren in einer Lyrik, die den Leser ebenso belohnt wie fordert. „Wer unbedingt sprechen will“, begründet dies der Dichter selbst, „der ziehe sich noch tiefer ins Dunkel zurück / und spreche dort alles aus, / nur solche Rede rettet sich aus dieser Zeit / und wird zum Symbol“.

Jan Wagner, Frankfurter Rundschau, 12.10.2002

Poesie als Geschichtslehre

– Eine Gedichtauswahl des Serben Miodrag Pavlović. –

Danilo Kiš hat lebenslänglich damit gehadert, daß ein jugoslawischer – oder allgemeiner ein ostmitteleuropäischer – Schriftsteller nicht umhinkönne zum homo politicus zu werden; die Geschichte zwinge ihn dazu. Liest man das poetische Œuvre des wohl bedeutendsten serbischen Gegenwartslyrikers, Miodrag Pavlović, wird man die Omnipräsenz dieser Geschichte bestätigt finden: Sie ist dominantes Thema von Anfang an.
Pavlović, 1928 in Novi Sad geboren, erlebte als Jugendlicher die Bombardierung Belgrads durch die Deutschen. Seine Erinnerungen an die Jahre 1941 bis 1944 (Usurpatoren des Himmels) hat er im März 2000, genau ein Jahr nach Beginn der amerikanischen Luftangriffe, erscheinen lassen. Kein Zufall. Nach dem Krieg studiert Pavlović Medizin und wirkt mehrere Jahre lang als Arzt. Mit dem Erfolg seiner ersten Lyrikbände (87 Gedichte, 1952; Säule des Gedächtnisses, 1953; Oktaven, 1957) wechselt er zum Beruf des Dramaturgen, dann des Verlagslektors. Seine literarische Produktion umfaßt – neben Gedichten – auch Essays (über Kunst und Rituale, über Anthropologie und Philosophie), poetische Prosa (Reminiszenzen, Reiseeindrücke) sowie Theaterstücke. Im Zentrum aber steht das lyrische Wort: Kurz- und Langgedichte, lapidare und visionäre Verse (etwa der Canto Apokalypse, 1972, über die jugoslawische Tragödie), Gereimtes und Ungereimtes, Narratives und Gleichnishaftes – insgesamt über dreißig Bände mit vielsagenden Titeln wie Opfergang, Helle und dunkle Feiertage, Geschichtslehre.
Ein repräsentativer Auswahlband liegt unter dem Titel Einzug in Cremona nun auch auf deutsch vor, betreut von Peter Urban, der bereits 1968 in der Edition Suhrkamp mehrere Dutzend Gedichte des Serben ediert und übertragen hatte. Einiges wurde wieder aufgegriffen – dabei lassen sich die übersetzerischen Revisionen studieren, sehr aufschlußreich. Pavlović beherrscht viele Tonfälle: den lakonischen und den psalmodierenden, den erzählerischen und den elegischen, den ironischen und den reflexiven. Sein kurzes Sinngedicht „Auf den Tod einer Henne“ kontrastiert mit dem weit ausholenden Gestus des Poems Verteidigung unserer Stadt. Doch bei näherer Betrachtung ergeben sich motivische Verschränkungen: Gestorben wird hier wie dort.
Tod und Krieg sind Leitmotive von Pavlovićs Schaffen, desgleichen die Geschichte – allen voran die leidvolle serbische –, ferner antike Mythen und Helden, die Zeit und die menschlichen Rituale. Keine bekenntnishafte Ich-Lyrik wird hier zelebriert, sondern ein weiter anthropologisch-historischer Raum entfaltet, in dessen Faltungen und Schichtungen das Einzelereignis eine alt-neue Bedeutung erhält. Wo die Optik bis ins Neolithikum reicht, ist der Blick sensibilisiert für Zusammenhänge und Kettenglieder (so der Titel eines Gedichtbandes von 1977); er assoziiert das Nächste mit dem Fernsten, die „Ahnung des Endes“ mit der „Milch des Ursprungs“.
Rück- und Vorschau, Mythos und Vision im Verein: Miodrag Pavlović – die Dichter-Imago des Forschers und Sehers verkörpernd – geht es um die großen Menschheitsfragen. Und dies schon früh. 1952 entsteht das wegweisende Gedicht „Fragen“:

Ein Fremder werden
oder
nicht weggehn

Den Kopf abwenden
oder
erblinden

Den Mund halten
oder
auf den Rücken fallen

Nicht mehr lang ticken die Uhren
reiche die Hand

Sterben
oder
nicht geboren werden

Neu geboren werden.

Es sind Grundsatzfragen (vor dem Hintergrund politischer Repression), die unbeantwortet bleiben – bis auf das positive Schlußstatement:

Neu geboren werden.

Hoffnung auf Wandel kennzeichnet Pavlovićs geschichtsträchtige Verse, doch wird sie ohne moralisierende Geste vorgetragen. Ob Rollengedicht oder Parabel, ob Klagegesang oder „spätes Gebet“, nirgends macht sich Eindeutigkeit breit. Universalität heißt auch: den Dingen Atem gewähren im Miteinander der Zeiten. Diesbezüglich ist Pavlović, der mit seinem Landsmann Vasko Popa manche surrealistische Bilder und die Hinwendung zur serbischen Historie teilt, freier als der Pole Zbigniew Herbert oder der formstrenge Joseph Brodsky, mit denen er gerne verglichen wird. Pavlovićs vielfältige Lyrik ist nicht zuletzt darum bedeutend, weil sie sich nicht vereinnahmen läßt. Politische Lesbarkeit gibt sich verschlüßelt, und das Spezifische verweist stets auf ein Allgemeines. Auf seiner Suche nach dem Sakralen – ein anthropologischer Impetus – evoziert Pavlović nicht nur die antike Götterwelt und die mittelalterlichen serbischen Klöster, er beschwört Patmos, die großen französischen Kathedralen und den ersten Steintempel der Menschheitsgeschichte: einen megalithischen Komplex auf Malta. Dem hektischen Zeitgeistdenken steht damit eine Gedächtniskultur entgegen, die wenn nicht sinnstiftend so zumindest tröstlich erscheint. Indem sie auch die Begriffe Anfang und Ende, Geburt und Tod relativiert.

Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 21.1.2003

Die Schlangen aber sind schlecht weggekommen

In dem Gedicht „Rückkehr des Sängers auf Erden“ aus dem Zyklus „Groß-Skythien“ von 1969/70 läßt Miodrag Pavlović einen Sänger vom Tode auferstehen:

da dämmerte es ihm:
er erwacht nicht aus dem Schlaf,
sondern steht aus dem Tode auf
wie ein großer Fisch aus dem Wirbel.

Er entdeckt seine „gesegnete Heimat“ wieder. Doch was er wahrnimmt – daß es keinen Krieg mehr gibt, keine Seuchen –, steht in unauflöslichem Widerspruch zur Kunde, die ihm über Feuer und Haß jammernde Witwen überbringen:

es gebe kein Dach mehr im Dorf,
keinen Obstgarten ohne Grab,
keine Brotkrume auf der Tafel.

Es ist ein Gedicht über die Verklärungsmacht des Todes. Jene, die durch den Tod gegangen sind, nehmen die Verwüstungen anders wahr als die Lebenden. In einem anderen Gedicht, wohl einem seiner berühmtesten, „Die Versammlung der Hunde von Knossos“, erhoffen sich die Hunde von den Eroberern, den Dorem, ein „besseres Leben“. Doch wird ihr Verlangen nach Fleisch man wirft ihnen die Leiche des früheren Herrschers vor – und ihr Wunsch nach „großen Freiheiten“ enttäuscht. Die Lage ist unter den neuen Herrschern schlimmer als zuvor. Die Hunde disqualifizieren sich schließlich durch ihren erbärmlichen Trost:

aber die Schlangen sind noch schlechter weggekommen:
die brieten sie am Spieß.

In dem gewaltigen, durch eine Vielfalt lyrischer Formen und poetischer Ansätze schreitenden Werk von Miodrag Pavlović, dem großen alten Mann der serbischen Gegenwartslyrik, gibt es Konstanten. Stets geht es um das vielschichtige Verhältnis von Individuum und Geschichte. Stoffe aus der Antike und dem Mittelalter, der slawischen Geschichte und der Mythologie werden vom Dichter skeptisch, oft ironisch geprüft und zur Formulierung aktueller Erfahrungen genutzt. Vasko Popa, Pavlovićs etwas älterer Kollege aus dem Banat, hat dies in einigen genauen Sätzen auf den Punkt gebracht:

Die offenen, schonungslosen Beichten historischer und legendärer Personen klingen wie die Stimme eines einzigen Menschen, der die Last aller Menschen auf sich genommen hat. Der Mündung des Schicksals entgegengehend, kommt Miodrag Pavlović, geführt von seinem klugen und strengen Vers, immer wieder an dessen Quelle selbst.

Es ist dem Suhrkamp-Verlag hoch anzurechnen, daß er eine frühere Gedichtauswahl – sie erschien 1968 in der edition suhrkamp – wieder aufgenommen hat, sie durch den Dichter revidieren und ergänzen ließ, so daß wir nun auch wichtige Proben aus den späteren Gedichtzyklen bis hin zu den erst 2001 geschriebenen Prosagedichten „Besuch der Osterinsel“ vor uns haben. Peter Urban hat seine früheren Übersetzungen geringfügig, doch stets zum noch Besseren überarbeitet und die vielen neuen Texte einfühlsam übersetzt.
In seinem kurzen Nachwort zieht Peter Handke den naheliegenden Vergleich zu dem großen polnischen Dichter Zbigniew Herbert. Ich möchte den Kreis möglicher Bezugspersonen gerne noch um den Griechen Konstantin Kavafis und den Tschechen Miroslav Holub erweitern. Mit Holub, wie Pavlović Mediziner und Arzt, teilt er die rational-naturwissenschaftliche Betrachtung von allem, was uns umgibt, von den Mistkäfern bis zu den Sternen. Mit Herbert, stärker noch aber mit Kavafis teilt er den besonderen, illusionslosen Umgang mit Geschichte und Mythen, transzendiert das Private der geschichtlichen Gestalten in einen öffentlichen und universalen Bereich und schlägt so aus einer erloschenen Vergangenheit Funken. Viele von Pavlovićs parabelhaften Gedichten halten Modelle bereit, wie mit dem Untergang umzugehen ist.
Daher werden sie auch wichtig sein für Generationen zukünftiger Dichter. Wie begegnet der Mensch, getäuscht, mißhandelt, von Herrschern und Ideologien unterdrückt, all diesen Anfechtungen? Mit Gelassenheit. Er muß so wenig anfechtbar wie möglich sein:

die einzige Rettung ist
glückliche Unempfindlichkeit
Was hast du verloren
als das Fleisch
Bekenntnis ablegte?
O Sklave
Schlafe
Kurz ist die Nacht,

heißt es in einem der frühesten Texte. Diese Verse haben eine trockene Musikalität, die sich allem Melodischem sperrt. Auch hier gibt es eine Verwandtschaft zur Sprödigkeit von Herbert und Kavafis.
Doch wichtiger als solche Wahlverwandtschaften sind Merkmale, die seine Lyrik einzigartig, seine Stimme unverwechselbar machen. Zum einen ist es die Grundierung durch slavische und serbische Geschichte, eine Folge von Konflikten, Unterdrückungen und brutalsten Zwistigkeiten bis hin zur „jugoslawischen Tragödie“ der neunziger Jahre, die Pavlović in visionären Gedichten vorausgesagt hatte. Für ihn, der den zweiten Weltkrieg in Belgrad erlebte, die faschistische Okkupation, die Revolution und die ihr folgende stalinistische Diktatur bis zum Bruch Titos mit Moskau im Jahre 1948, bleibt der Krieg von 1940/41 das einschneidende Erlebnis.
Zum anderen ist es die allen Gedichten bis zu den jüngsten zugrundeliegende Konzeption von Mythos und Geschichte als Prüfstein dichterischen Sprechens. Immer wieder gelingt es Pavlović in bewundernswerter Weise, die alten Mythen durch die Frische seiner Imagination und neue Bedeutungen ganz in die Gegenwart zu holen. Er selbst hat das in einem Essay etwas steif so erklärt:

War der Gebrauch mythischer Bilder im vergangenen Jahrhundert vorwiegend dekorativen Charakters, so ist der Mythos heute einer Reihe von Dichtern Wegweiser zur tieferen Durchdringung, zu Vorstößen zum Wesen dichterischer Erfahrung.

Das ist reichlich abstrakt, aber seine Gedichte mit ihren ungeheuren Bildern sind von aller Gedankenlyrik weit entfernt.

Ich hob die Hände um mich des Himmels zu vergewissern
und berührte die Brüste eines riesigen Vogels
der verendet, aber nicht herabgefallen war auf die Erde.
Durch sein Auge sah ich Schiffe im Kreise fahren;
Die altmodische Art Segel zu beerdigen…

Diese Gedichte sind reich nicht an Landschaften, sondern an Welt. Sie geben uns in ihrer Absage an große Reden, in ihrer Schmucklosigkeit, ihrem verhaltenen Pathos doch Modelle des Menschseins. Ihre Kunst macht uns reicher und, auch dafür muß man sie rühmen, bewußter.

Joachim Sartorius, Süddeutsche Zeitung, 9.10.2002

Bomben auf Belgrad und Musik in den Wasserrohren

Mindestens siebenmal hat sich Goethe zum Fürsprecher serbischer Lieder und Gedichte gemacht, an denen er „die Mannigfaltigkeit der Motive und Wendungen“ bewunderte und ihn „jenes östlich-Nationelle“, das ihm in diesen als „hart, rau, widerborstig“ entgegentrat, keineswegs abstieß. Auch wenn er diesen Gedichten ablas, daß sich in Serbien „selbst die besten Familienverhältnisse… gar bald in Haß und Parteiung auflösen“ und „das Volk immer in kriegerischer Spannung bleibt“ das letzte der von ihm ausdrücklich hervorgehobenen Gedichte ist „Belgrad in Flammen“ überschrieben! –, verlangte er doch von sich und seinen Lesern, „daß wir es wagen, jene Serben auf ihrem rauen Grund und Boden… zu besuchen, unsere Einbildungskraft mit diesen Zuständen zu bereichern und uns zu einem freieren Urteil immer mehr zu befähigen“. Das hört sich, nachdem unlängst der „freien“ Welt nur Bomben zu Serbien einfielen, ebenso absurd an wie Goethes Prophezeiung, „die Schätze der serbischen Literatur werden schnell genug deutsches Gemeingut werden“.
Die schroffen Gegensätze „unserer jüdisch-christlichen, byzantinischen und ottomanischen Tradition“ (Danilo Kiš). die der Vielvölkerstaat Jugoslawien einzuebnen versuchte, ließen sich nie wirklich miteinander versöhnen. Die daraus resultierenden Konflikte und kriegerischen Auseinandersetzungen wurden vor allem den Serben zur Last gelegt, was bei den einen zu Aggressionen gegen alles Nichtserbische und bei den anderen, den Sensibleren, zu Ambivalenzen führte, zu Identitätserschütterungen, die nach stetiger Selbstvergewisserung verlangten.

Ich sehe unser Land gekreuzigt
Zwischen vier Feuersteinen
An denen der Wolf die Zähne wetzt

heißt es in einem Gedicht Vasko Popas, der seine serbische Heimat als „Wolfsland“ apostrophiert, aber den Wolf durchaus nicht nur als Aggressor, sondern ambivalent sieht:

Raubt er unser Land
Oder rettet er es?

Im letzten Gedicht seines Zyklus „Wolfssalz“ identifiziert sich Vasko Popa dann sogar mit dem Wolf, weil ihm dessen Feinde als weitaus blutrünstigere Bestien erscheinen:

Ihr bellt bellt bellt
Aus meiner Kehle dringe
Das bekannte blutrünstige Heulen
Ich nenne es Gedicht
Bellt nur.

Auch die Gedichte des 1928 in Novi Sad geborenen Miodrag Pavlović – neben dem sechs Jahre älteren Vasko Popa der bedeutendste serbische Lyriker der Nachkriegszeit – sind schwer beladen mit Geschichte und Mythen eines Volkes und Landes, von denen es im Gedicht „Klage um Smederevo“ heißt: „Wir wissen nicht wo unser Land beginnt, / überall ist nur Ende“. (Die 60 Kilometer östlich von Belgrad 1430 von Djuradj Branković errichtete Festung Smederova fiel 1559 unter osmanische Herrschaft und symbolisiert das Ende des serbischen Reiches im Mittelalter.) Pavlović beschwört, wenn er tief in den Brunnen der Vergangenheit taucht, immer auch die Gegenwart. Wie auf kaum einen anderen Autor paßt auf ihn das Bild vom rückwärts gewandten Propheten. Sein Gedicht „Spätes Gebet in Hilandar“ – Hilandar ist ein 1197 begründetes serbisch-orthodoxes Kloster auf dem Berg Athos – eröffnet er entsprechend programmatisch:

Ich weiß, jedes Volk hat seinen Anfang
und sein Ende,
es gibt nicht nur den einen Anfang,
und auch das Ende kommt nicht nur einmal,
aber meine Sünde ist: Ich zweifle an neuen Anfängen
nach dieser Pest,
und ich liebe das Leiden meines Volkes
mehr als Irdisches zu lieben erlaubt ist.

Vergib mir,
ich spreche wie von Hochmut getragen
als wollte ich prophezeien,
doch auch die Propheten sprachen von Vergangenem
und im Dunkel die Tür zur Zukunft zu berühren.

Auch wenn Pavlovićs Gedichte bis in die antike Vergangenheit zurückführen, zielen sie auf die unmittelbare Gegenwart und bedienen sich der „Sklavensprache“ (wie Brecht solche antikisierenden Verse nannte) nur zur Tarnung. Obwohl die politischen Verhältnisse im Tito-Jugoslawien weit weniger repressiv waren als in anderen sozialistischen Staaten, schien es Pavlović in den frühen sechziger Jahren doch geraten, seine Kritik am Sozialismus in die Form einer Parabel zu kleiden, wie er das in seinem Gedicht „Versammlung der Hunde auf Knossos“ tat, das trotz seiner Tarnfarbe sofort verstanden wurde und Pavlović berühmt machte. Darin klagen die Hunde, die „unter neuen Herren auf ein besseres Leben hofften“, daß ihre Lage sich inzwischen noch verschlimmert habe und ihnen nur ein elender Trost bliebe:

die Schlangen sind noch schlechter weggekommen:
die brieten sie am Spieß

Es war ein geschichtliches Datum, das in dem 13-jährigen Miodrag Pavlović jene Traumatisierung bewirkte, die als eine Art Leit- oder Leidmotiv sein ganzes Werk durchzieht, nämlich die Bombardierung Belgrads durch die Deutschen im April 1941, bei der über 50.000 Menschen ums Leben kamen. Als im März 1999 erneut Belgrad bombardiert wurde und das „serbische Verschwörerpack“ (wie Hitler es genannt hatte) auf kein Mitleid bei den „Friedensstiftern“ der westlichen Welt hoffen durfte, schrieb Miodrag Pavlović unter dem Titel Usurpatoren des Himmels seine Erinnerungen an die Schrecken der Kindheit nieder, denen er in der Buchausgabe 17 jener seiner Gedichte beigesellte, in denen sich die Erfahrung des Ausgeliefertseins an eine brutale Übermacht am stärksten niedergeschlagen hat.
Etliche von ihnen, die „Klage um Smederevo“, hat Peter Urban jetzt auch in eine über 100 Gedichte umfassende Auswahl aus dem lyrischen Werk von Miodrag Pavlović aufgenommen, die er unter dem Titel Einzug in Cremona vorlegt und in die auch ein Teil der frühen und noch ziemlich „ungegenständlichen“ Lyrik Pavlovićs eingegangen ist, die Urban bereits 1968 in einem edition suhrkamp-Bändchen vorgestellt hatte.
Leider hat der ebenso versierte wie engagierte Nachdichter ausgerechnet auf ein Schlüsselgedicht wie „Epitaph des slavischen Urdichters“ in seiner Auswahl verzichtet, obwohl hier Confessio und ästhetisches Programm so eng wie ganz selten sonst miteinander verschmolzen sind. Pavlović bekennt sich in ihm emphatisch zu jener fundamentalen Einsamkeit des Dichters, die auch durch dessen tiefe Identifikation mit seinem Volk – einmal sieht sich Pavlović „an der zottigen Schulter des Volks“ lehnen – nicht aufgehoben werden kann; der Dichter muß „Ketzer und Feind“ bleiben, der noch beim Jüngsten Gericht eine Sonderrolle spielt und nicht zu den Auferstandenen gehören will:

Ich bleibe, wo ich bin
in der Erde meiner Sprache,
ich will nicht gerichtet werden auf euern Konzilen,
auch nicht, daß ihr mich unter den offenen Himmel werft
auf den kalten Rost der Ewigkeit.

Peter Handke hat in seinem kurzen Nachwort zu diesem Buch Pavlović zu „den nicht bloß unverwöhnten, sondern unverwöhnbaren Dichtern“ gezählt und ihm eine Verwandtschaft zu Zbigniew Herbert attestiert, die in der Tat, was das Stoffliche und das ironisch gebrochene Pathos sowie den Hang zur Parabelhaftigkeit angeht, unübersehbar ist. Allerdings wirkt die Lyrik des Polen trotz ihrer Seinsfrömmigkeit trockener und lakonischer als jene des Serben, dem dafür eine größere Formenvielfalt zur Verfügung steht und dessen oft wild wuchernde Metaphorik die Gedichte „offener“ erscheinen läßt – offener im Sinne einer vorsätzlichen Unfertigkeit, die wiederum ihre Entsprechung in der Unfertigkeit der Geschichte findet, welche die schwache Hoffnung des Dichters nährt.
Es sind die Entmachteten, Gestürzten, Gescheiterten, Fliehenden, Verfolgten der Geschichte (und der Mythologie), die Pavlovićs Gedichte bevölkern. „Im Traum bin ich Bettler geworden“, heißt es im Gedicht „Amiens“, und von allen Worten das häufigste in den Gedichten Miodrag Pavlovićs ist: Bettler. Für diesen Dichter scheint seit der Erschaffung der Welt und der Vertreibung aus dem Paradies nicht allzu viel Zeit vergangen zu sein. Die Sintflut, Gomorrha, ein drei Jahrtausende vor Christus erbauter Tempelkomplex auf Malta, die indische Göttin des Glücks, Lakschmi, oder ein byzantinischer Kaiser erscheint in seinen Gedichten ebenso selbstverständlich als zeitlos erlebte Gegenwart wie etwa die Figuren auf Giogiones Bild La tempesta („Wahrlich, man kann behaupten / jeder von uns sei zugegen gewesen / bei der Erschaffung der Welt“). Entsprechend fragt sich der Dichter (in dem als Motto dieses Bandes gewählten Gedicht):

Welche Sprache soll ich lernen? Sanskrit, Griechisch oder Ivrit?

Zuletzt – oder zuerst? – ist die eigentliche Botschaft jeder Sprache und zumal der dichterischen Sprache der Klang:

Und vergessen wir nicht den Klang: Kinder singen
an der Klostermauer, in Angst
vor der eigenen Stimme, die so mächtig ist.

Und vergessen wir auch nicht, „dem Chor der Wasserrohre zuzuhören / der eine neue Musik singt“, wie es im Gedicht „Das Buch über das Sakrament“ heißt, in dem der Dichter „auf dem Klosett ein Buch über das Sakrament“ liest und das ganz Alltägliche plötzlich zum Zufluchtsort vor der Brutalität der Geschichte und zum Erscheinungsort des Erhabenen, ja der Erlösung wird.

Peter Hamm, Die Zeit, Dezember 2002

 

 

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