Miodrag Pavlović: Mißhelligkeiten, alte und neue

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Miodrag Pavlović: Mißhelligkeiten, alte und neue

Pavlović-Mißhelligkeiten, alte und neue

ICH HABE DAS LICHT GEFRAGT

Ich habe das Licht gefragt
betreffe es denn
die Wirklichkeit die es beleuchtet
es zuckte die Achseln
von ihm hinge es nicht ab
wann was für ein Mensch
erscheint
oder irgendein Ding
durch sein Dasein
geschwärzt wird von Ruß
damit wir uns recht verstehen
das Licht schickt mir eine Botschaft
es wird gezwungen sein
seine Kraft zu steigern
denn so
wie die Sache steht
sagt selbst das Licht
nichts Genaues

 

 

 

Miodrag Pavlović

verknüpft in seinen Gedichten das Apokalyptische mit dem Grundlegenden und Lapidaren. Das Selbstverständliche ist hier zugleich das Utopische. Pavlovićs Poesie gründet auf den spirituellen Quellen der serbischen mittelalterlichen Dichtkunst. Das Paradiesische ist zwar stets präsent, aber es wird überzeichnet von Zuständen der Hölle: Es gilt, einen Dichter von europäischem Rang neu zu entdecken. Drei Zyklen, hier in einem Band zusammengefaßt, beherbergen eine Vielfalt lyrischer Formen, Tonlagen und poetischen Sprechens. Ein Thema zieht sich durch das gesamte Werk: das Verhältnis des Menschen zu seiner Geschichte.

Leipziger Literaturverlag, Klappentext, 2011

 

„Doch vom Vergangenen sprechen auch die Propheten“

– Lobrede auf Miodrag Pavlović zum Petrarca-Preis 2012. –

Als 1945 auf der Potsdamer Konferenz die Macht im verwüsteten Europa neu verteilt wurde, erklärte US-Präsident Harry Truman, er werde die Konferenz verlassen, wenn weiter über Jugoslawien gesprochen würde, wie Churchill das wollte. Truman gab damit gleichsam den Ton vor, der über Jahrzehnte hinweg in Westdeutschland der bestimmende werden sollte: über Jugoslawien und seine leidvolle Geschichte wurde möglichst nicht gesprochen. Wozu hatte man sich eine Stunde Null erfunden! Davor sollte nichts gewesen sein. Litt jemand unter der ungeheuren Schuld gegenüber Jugoslawien, die Deutschland und Deutsche im Zweiten Weltkrieg auf sich geladen hatten? Wenn doch einmal etwas von Kriegsgräueln in Jugoslawien geflüstert wurde, lastete man diese den jugoslawischen Partisanen an, Partisan war hierzulande kein Ehrentitel, sondern ein Schimpfwort. Im Deutschland des Wirtschaftswunders schaute man verbissen nach vorn, jeder Blick zurück hätte die Fähigkeit zu trauern verlangt, die jedoch weitgehend ausgestorben schien. Allenfalls betrauerte man sich selbst.
Auch die tonangebenden Protagonisten des Literaturbetriebs, von denen nicht wenige noch bis in die Sechziger Jahre hinein niemals mit ihrer braunen Vergangenheit konfrontiert worden waren, halfen mit bei der Verdrängung der Vergangenheit, wozu eben auch zählte, dass sie das Leid des jugoslawischen Volkes so wenig kümmerte wie seine Kultur. So spielte im Literaturbetrieb, der weitgehend auf westliche und vor allem amerikanische Literatur fixiert war, noch nicht einmal das große Dreigestirn der modernen jugoslawischen Literatur – Ivo Andrić, Miroslav Krleža und Miloš Crnjanski – jene zentrale Rolle, die seiner weltliterarischen Bedeutung entsprochen hätte; zumal Miloš Crnjanski blieb eine Schattenfigur, nur wenigen Kennern bekannt.
„O, nur der traurige Mensch ist rein“, heißt es in einem Gedicht von Miloš Crnjanski. Dass man an der Trauer auch ersticken kann, zumal als Kind, ist ebenso wahr. Miodrag Pavlović wurde, um nicht an der Trauer zu ersticken, zum Dichter. Er kann den Tag seiner Dichterwerdung genau datieren: es war ein Apriltag im Jahr 1941, als er, der Dreizehnjährige, der gerade noch in die Lektüre von Krieg und Frieden vertieft gewesen war, vor den Bombenangriffen der deutschen Luftwaffe aus Belgrad floh und von den Abhängen eines nahe der Stadt gelegenen Berges aus sah, wie seine Stadt in Rauch und Flammen aufging. An diesem Apriltag machte er zum ersten Mal die vernichtende Erfahrung des totalen Ungeschütztseins gegenüber der Macht – der Übermacht – des Bösen. Drei Tage und drei Nächte dauerte das deutsche Bombardement, und bis heute streiten sich die Historiker darüber, wie viel Todesopfer es gekostet hat: 30.000 oder 50.000? Zurückgekehrt in seine zerstörte Heimatstadt, sah der junge Miodrag Pavlović nicht nur die Not und das Elend der Überlebenden, er sah auch die Ströme serbischer Flüchtlinge, die den Ustaša-Massakern in Kroatien entkommen waren, und er sah die letzten Versprengten der jugoslawischen Armee, die nicht bereit waren, die Kapitulation zu akzeptieren, und als Partisanen in die Berge zogen. Später vernahm er die Gräuel-Erzählungen aus seiner Geburtsstadt Novi Sad, wo ungarische Horthy-Faschisten an einem Januartag des Jahres 1942 ein Loch in die vereiste Donau geschlagen hatten, in das sie Hunderte der von ihnen zusammengetriebenen nackten Juden und Serben trieben. Unter ihnen befand sich der Vater des Dichters Danilo Kiš, der dem Massaker an diesem Tag nur entging, weil das Loch in der Eisdecke der Donau inzwischen von Leichen verstopft war; später wurde er in Auschwitz ermordet. Auch ein anderer serbisch-jüdischer Dichter aus Novi Sad, der gerade achtzehn Jahre alt gewordene Aleksandar Tišma, wurde Zeuge dieses Massakers an der Donau, das ihm alle Erinnerungen an seine Jugend für immer einschwärzte.
Am Ostersonntag 1944, als die Menschen in Belgrad bereits an das Kriegsende glaubten und ein neues besseres Leben erhofften, erlitt die Stadt noch einmal einen verheerenden Bombenangriff, diesmal flogen ihn anglo-amerikanische Bomber, die den Widerstand der deutschen Besatzer Belgrads brechen wollten. Auf dem Weg zu seiner Tante Ljubica, der er Ostergrüße bringen wollte, wurde Miodrag Pavlović von dem Bombardement überrascht und beschloss daraufhin nach Hause zurückzukehren. Als er nach dem Bombardement mit seiner Mutter zum Haus seiner Tante lief, schien dieses völlig unversehrt, doch waren alle seine Bewohner ums Leben gekommen, weil sie sich alle in den Keller geflüchtet hatten, in den jedoch eine Brandbombe eingedrungen war. Unter den verkohlten Leichen, die bereits vor dem Haus aufgebahrt lagen, erblickte der junge Miodrag Pavlović nicht nur die seiner Tante Ljubica, die ihres Vaters Lazar und ihrer Schwester Vukica, sondern auch die seines Schwagers und engen Vertrauten Radomir Prodanović, dessen Frau Milica und dessen dreijähriger Sohn Dusko ebenfalls umgekommen waren. Sie alle hatten im selben Haus gewohnt, und bei allen war der junge Miodrag Pavlović ein ständiger und willkommener Gast gewesen. In dem vierzehn Jahre älteren Radomir Prodanović, der selbst schon als bedeutender Dichter galt und der etwa auch Gedichte von T.S. Eliot übersetzt hatte, sah Miodrag Pavlović zudem eine Art Vorbild, einen gedankenvollen, tief verletzlichen Menschen, mit dem er über alles, was ihn im Innersten bewegte, sprechen konnte, und der ihn erst einmal auf den Weg brachte – auf seinen Weg als Dichter.
Die Erinnerung an die Schrecken der Bombardements, die nicht nur Belgrad sondern auch seine Jugend zertrümmerten und ihn für ein Leben lang traumatisierten, ist in alle Bücher von Miodrag Pavlović eingebrannt. In einem von ihnen wird sie zum ausschließlichen Thema, wie schon sein Titel verrät: Usurpatoren des Himmels. Ein Buch, das gleichsam wie mit Flammenschrift geschrieben ist, auch und gerade da, wo der Dichter seine Verzweiflung hinter Lakonie zu verbergen sucht. Vergegenwärtigt man sich das Erscheinungsdatum von Usurpatoren des Himmels – das Buch erschien in Belgrad im März des Jahres 2000 –, muss einen Entsetzen packen, wurde doch genau ein Jahr zuvor der Himmel über Belgrad und Novi Sad – der Himmel über Jugoslawien – erneut usurpiert, diesmal von den Bombern der Nato. Und, ewige Schande, wieder bombte Deutschland mit. – Über den Feuertod seiner Verwandten und Freunde schreibt Pavlović in Usurpatoren des Himmels:

Ich weiß nicht, ob ich je gesagt habe „Gott, sei ihren Seelen gnädig.“ Wer eines so plötzlichen Märtyrertodes stirbt, hat wahrscheinlich schon durch die Art des Sterbens alles verbüßt. Ihr Tod ist für mich im Bereich des Unfasslichen geblieben; wegen dieser Tode bin ich bis heute zur Hälfte Agnostiker.

Und über die Erfahrung des aus Belgrad geflohenen Kindes, das in der Ferne seine Heimatstadt brennen sieht, liest man hier:

Schon als Kind und als Knabe glaubte ich, jede neue Situation sei definitiv; ich war Metaphysiker von Natur. Ich dachte, es werde mich in Belgrad nicht mehr geben, und wandte mich von nun an einem unbekannten Land zu.

Dieses unbekannte Land, dem sich der junge Miodrag Pavlović zuwandte, ist auf keiner Landkarte der Welt zu finden, stellt es doch jene Gegenwelt dar, die nur im Land der Dichtung und Literatur, im Land der Imagination existiert. Allerdings bleibt auch diese dichterische Gegenwelt von den Schrecken der sog. realen Welt und dem Kannibalismus der Geschichte gezeichnet, sie bleibt, wie Pavlović selbst es ausdrückte, „Fortsetzung des Weltuntergangs, auch wenn sie sich ihm widersetzt“. Tatsächlich ist die Apokalypse allgegenwärtig in der Dichtung von Miodrag Pavlović, nicht nur in seinem lyrischen Werk, das inzwischen über dreißig Gedichtbände umfasst und zu dem auch das ausdrücklich Apokalypse überschriebene visionäre Poem von 1972 zählt, in dem Pavlović die jugoslawische Tragödie – die Zerschlagung Jugoslawiens – vorauswitterte, sondern auch in seinem Prosawerk. Dessen Gipfelpunkt stellt der Roman Die Bucht der Aphrodite dar, der eigentlich gar kein Roman ist, sondern eine alle Gattungsbegriffe sprengende unerhört vielschichtige dichterische Rhapsodie, letztlich eine Autobiographie, aber eine Autobiographie von enzyklopädischer Form, wie wohl noch nie eine geschrieben wurde, allenfalls könnte man Miloš Crnjanskis Tagebuch über Čarnjevic von 1918 in seiner Mischung aus Epischem, Lyrischem und Essayistischem als minimale Vorform dazu ansehen. Miloš Crnjanski zählt übrigens zu der riesigen Schar von Personen, denen Pavlović in diesem Buch ein Denkmal setzte. Es sind nicht nur lebende und tote Freunde und Verwandte, nicht nur Dichter und Zeitgenossen aus vielen Ländern und Kontinenten, sondern historische und mythische Figuren aus vielen Epochen und Kulturen, die hier für einen Augenblick aus dem unaufhörlich fließenden Bewusstseinsstrom des schreibenden Ich auftauchen, um dann wieder darin unterzugehen und mitgerissen werden zu ungeahnten fernen Ufern und Buchten. Es ist im Grunde unmöglich, passende Vergleiche für den sprachlichen und gedanklichen Reichtum dieses Buch zu finden, das manchmal wie ein Wirbelsturm wirkt, der alle Grenzen von Raum und Zeit durchbricht. Er lässt auch an jenen Benjaminschen Sturm denken, der vom Paradiese her weht und den Engel der Geschichte zwar unaufhaltsam in die Zukunft treibt, aber zugleich zwingt, dieser den Rücken zu kehren und starr zurückzublicken auf die Vergangenheit, die eine einzige Katastrophe ist und deren Trümmerhaufen zum Himmel wachsen.
Die Versuchung ist groß, die Geschichte dieses Buches mit ihren tausendfaltigen Verzweigungen nachzuerzählen, aber man käme dabei aus dem Erzählen nicht mehr heraus und würde dem Buch doch nie gerecht, bevor man es nicht Wort für Wort nachbuchstabiert hätte. Ein Aspekt des Buches soll, wenn es um die Würdigung des Dichters Miodrag Pavlović geht, aber doch hervorgehoben werden, es ist der poetologische. Miodrag Pavlović erscheint nämlich in Die Bucht der Aphrodite auch als eine Art Archäologe seines eigenen Werkes, der nach den Wurzeln und der Entwicklung von dessen Formen, Metaphern und Gedanken forscht und dabei, wie könnte es anders sein, immer wieder auf die Katastrophen der Kindheit stößt, auf jene apokalyptischen Reiter, die über Belgrad, Warschau, Dresden und Hiroshima hinwegfegten. Freilich entdeckt er in der Kindheit auch ein verborgenes Trostpotential, von dem das Kind noch kaum ahnte, von dem aber einmal der erwachsene und der alte Dichter zehren wird. Ob es die alten Kindersprüche sind oder die Stämme im Wald, von denen das Kind glaubte, sie alle seien seine Tanten und trügen einen weiblichen Vornamen, ob Schmetterlinge überm Meer in der „Zeit der großen Nutzlosigkeit“, wie Pavlović die Sommerferien apostrophiert – „nur meine Nutzlosigkeit konnte mich erfrischen oder mich trösten“, schreibt er –, auch noch den unscheinbarsten Dingen und Geschehnissen aus der Kindheit wächst allmählich mythische Bedeutung zu. Als der Dichter eines Tages dann im Archäologischen Museum von Larnaka verblüfft seine eigenen Kinderspielsachen ausgestellt sieht, erklärt ihm die Museums-Führerin, die er darauf aufmerksam macht:

Das, was mit Ihnen, mein Herr, geschehen ist, ist auch mit Ihren Spielsachen geschehen. Sie sind Schritt für Schritt aus der Geschichte verschwunden und zum Mythos zurückgekehrt, und Ihre Spielsachen sind Ihnen gefolgt.

Kein Wunder, dass in jener zypriotischen Bucht der Aphrodite, die dem Buch von Pavlović den Titel gab, schließlich sogar die Schaumgeborene leibhaftig vor dem Dichter aus dem Meer steigt.
Miodrag Pavlović hat inzwischen unter dem Titel Dämonische Strudel eine Fortsetzung seines Buches Die Bucht der Aphrodite geschrieben, von der deutsch bisher nur Bruchstücke bekannt wurden. Er legt sich und uns darin nicht nur dichterische Rechenschaft darüber ab, warum er, der seit langem in Deutschland lebte, zur Zeit der Nato-Bombardements demonstrativ nach Belgrad zurückkehrte, sondern schreibt auch seine Poetologie fort. Einmal ist da die Rede von einer attraktiven Dame, die es erstaunt, dass der Autor ihre Avancen zurückweist und eine Affäre ihm nicht als Stoff für sein Schreiben willkommen ist. Die Antwort des Autors:

Sie haben es nicht bemerkt, aber ich beschreibe nicht die körperliche Liebe, ich beschreibe nicht Gewalt und Mord, ich beschreibe nicht das Erlangen geistiger Vollkommenheit.

Sie:

Aber womit befassen Sie sich dann?

Er:

Ich befasse mich mit dem, was zwischen jener Dreiheit ist, und das ist, denke ich, viel wichtiger.

Dieses Dazwischen war seit jeher die eigentliche Domäne der Dichter und musste von ihnen stets gegen die Zugriffe der „Wirklichkeitsmenschen“ (wie Hermann Lenz sie nannte) verteidigt werden. Miodrag Pavlović, der nach der Befreiung von 1945 Medizin studierte und später auch als Arzt praktizierte, dann aber Rundfunk-Redakteur und Dramaturg am Nationaltheater wurde, brachte 1951 seine ersten Gedichte heraus, die ihn gleich als poeta doctus, als philosophischen Dichter auswiesen, der das Rollengedicht favorisiert und der Gegenwart in diversen antiken Masken zu Leibe rückt. Miodrag Pavlović gehörte nie einer lyrischen Schule oder Gruppe an und er blieb konstant ein Fragender, auch als die neuen kommunistischen Herren auf alles einfache Antworten wussten. Nie ließ er sich für den vermeintlichen Fortschritt in Dienst nehmen und zu irgendeiner Spielart von sozialistischem Realismus überreden, aber er wich auch nicht, wie einige andere jugoslawische Dichter seiner Generation, in einen unverbindlichen Surrealismus aus, der nur stolz ihren Individualismus ausstellen sollte. Pavlović war immer bewusst, dass sich in seiner eigenen Stimme viele Stimmen aus Gegenwart und Vergangenheit mischten und er nur in diesem Sinne ein Dichter des Volkes sein konnte, aber nicht im Sinne einer Blutmystik, die schon Miloš Crnjanski in seinem „Hymne“ betitelten Gedicht angeklagt hatte, in dem es heißt:

Unser Gott ist das Blut…
Es ist unser schrecklicher Stolz.

Mit seinem „Boguminenlied“ hat Pavlović den alten und neuen Anhängern einer solchen Blutmystik eine schneidende Absage erteilt:

Oh, ihr trunkenen Fürsten
warum lauert ihr hinter den Wällen,
glaubt ihr denn, meine Rede
ginge über mein Blut nicht hinaus?
Ich bin der Erde nahe,
und sie erinnert sich an Worte eher als an Blut;
vom Holunder umarmt, werde ich ihr alles sagen
was ich weiß von der Liebe.
Zu kurz ist euer Schwert
um aller Welt den Kopf abzuschlagen.

Der Dichter, wie Pavlović ihn auffasst, muss ein Flüchtling aus allen Lagern sein, er muss „Ketzer und Feind“ bleiben, der, wie er es formuliert, „noch beim Jüngsten Gericht eine Sonderrolle spielt“:

Ich bleibe, wo ich bin
in der Erde meiner Sprache,
ich will nicht gerichtet werden
auf euren Konzilen,
auch nicht, dass ihr mich unter den
offenen Himmel werft
auf den kalten Rost der Ewigkeit

Auffallend häufig erscheint der Dichter bei Pavlović in der Gestalt des Bettlers oder auch des Pilgers, der unter Bettlern hockt, wie etwa im Gedicht „Pilger aus Konstantinopel“:

Ich schlief auf Stroh bei den Pferden
um die Wette singend mit frommen Armeniern,
und da der Sonntag vorbei war, der Mond war noch jung,
eilte ich zurück mit leeren Händen
in unsere Eichenwälder, reich an Tieren.
Und hier erst, im Gebirge mit unserem Namen
trauerte ich ihm nach, dem Hafen
der Stadt mit den goldenen Giebeln.
Morgens sehe ich sie jetzt im Dunst
mit ihrem Glanze weite Teile der Erde umfassen;
und während ich hier sitze im Schafsfell älter werdend, weiß ich:
als ich damals einsam und verwaist
die Hauptstadt des Weltalls durchstreifte
war ich der Schönheit der Welt am nächsten.

In einem anderen Pavlović-Gedicht, „Der blinde König in der Verbannung“, erscheint der Dichter wiederum als blinder König, der sich fragt:

Wie herrschen
in einem unsichtbaren Reich?
Ich kann nur Diener werden
und Bettler vor verrammelten Türen,
der Vater, der mich blendete in dieser Welt
machte mich sehend in jener.

Ähnlich wie der ihm wesensverwandte polnische Dichter Zbigniew Herbert bedient sich Pavlović mit Vorliebe der Parabel und Allegorie und schöpft dabei aus dem reichen Fundus antiker wie christlicher Mythologie.
Der unverwüstlichste Mythos der Serben erinnert erstaunlicherweise an eine verheerende Niederlage, nämlich die verlorene Schlacht gegen die Türken auf dem Amselfeld (das im heutigen Kosovo liegt). Wo sich Miodrag Pavlović der leidvollen serbischen Geschichte und ihrer Mythen im Gedicht annimmt, geschieht dies zumeist in der Form der Klage, aber auch des Gebets. Immer beschwört Pavlović dabei, wenn er von Vergangenem spricht, die Gegenwart. „Wir leben noch, ohne Stadt und Gesetz, / die Stadt ist gefallen. // Wir wissen nicht, wo unser Land beginnt, überall ist nur Ende“, heißt es im Gedicht „Klage um Smederevo“, das an die nahe bei Belgrad gelegene Festung Smederova erinnert, die 1499 unter osmanische Herrschaft fiel und das Ende des serbischen Reichs im Mittelalter symbolisiert. Wie auf keinen anderen Autor passt auf Pavlović das Bild vom rückwärtsgewandten Propheten. In seinem Gedicht „Spätes Gebet in Hilander“ – Hilander ist das 1197 gegründete serbisch-orthodoxe Kloster auf dem Berg Athos – greift Pavlović selbst zum Bild vom Propheten:

Gott, ich bitte dich für mein Volk.
Ich weiß es: jedes Volk hat seinen Anfang
und sein Ende,
ich weiß: kein Anfang ist einmalig,
und auch das Ende kommt nicht nur einmal,
doch meine Sünde ist dass ich an neuen Anfängen zweifle
nach dieser Niederlage,
und dass ich das Leiden meines Volkes liebe
mehr als irdische Dinge zu lieben erlaubt ist.

Vergib mir,
ich spreche wie vom Hochmut besessen,
so als wollte ich prophezeien,
doch vom Vergangenen sprechen auch die Propheten
um im Dunkel die Tür in die Zukunft zu finden.

In den späten Gedichten von Miodrag Pavlović, die immer schlichter und trotz ironischer und sarkastischer Nebentöne auch immer inniger werden, häufen sich christliche Motive, es erscheinen darin die mittelalterlichen serbischen Klöster mit ihren Heiligen- und Engelsbildern ebenso wie italienische und französische Dome und Kathedralen. Sakrales und Profanes, das Erhabene und das Triviale verschmelzen dabei nahezu, so wenn im Gedicht Das Buch über das Sakrament der Dichter dieses Buch auf dem Klosett liest und dabei dem Chor der Wasserrohre lauscht, aus denen eine neue Musik klingt. Überhaupt der Klang! Er unterscheidet die dichterische Botschaft von jeder anderen, die zumeist doch nur Meinung ist. Pavlović hat das wunderbar ausgedrückt in den Gedichtzeilen:

Und vergessen wir nicht den Klang:
Kinder singen
an der Klostermauer, in Angst
vor der eigenen Stimme, die so mächtig ist.

Peter Handke hat von Miodrag Pavlović nicht nur als einem unverwöhnten, sondern einem „unverwöhnbaren Dichter“ gesprochen und ihn in eine Reihe mit Paul Celan, Ilse Aichinger, Zbigniew Herbert, René Char oder Antonio Machado gestellt. Voraussetzung dieser Unverwöhnbarkeit ist die Untröstlichkeit. Was für ein Wunder, dass diese Untröstlichkeit im Gedicht zum reinen Trost werden kann. Wir schulden dem untröstlichen und so trostreichen Dichter Miodrag Pavlović Dank. Und Dank auch seinem treuen Übersetzer Peter Urban, ohne den für jemanden wie mich, der des Serbischen nicht mächtig ist, der Dichter Miodrag Pavlović kaum mehr wäre als ein schönes Gerücht.

Lassen Sie mich schließen mit einem der späten Gedichte von Miodrag Pavlović, das mir besonders ans Herz gewachsen ist. Es trägt den Titel eines berühmten Klosters und Bischofsitzes der serbisch-orthodoxen Kirche:

Žiča:

Um Žiča zu sehen
und seine Größe
überquere ich den Ibar
und steige in die Berge
von wo mein Blick fällt
auf den Kuppelbau der Kirche
über den sich ergießt
dunkelrot der Mondschein
als sei die Farbe ein Wissen
und ich sehe den Bischof
Nikolaj vor seinem Konak
mit seinem kristallenen Kelch
der funkelt unter seinem Bart
ich belausche die Gespräche
unvergänglicher Tage
auf der Wiese liegend
neben dem Brunnen
wo Papa mich zurückließ
damit ich entscheide
ob ich Lehrer werde
oder Mönch
o ist mir wohl
ich sehe auch die Kirche wird wachsen
es falle nur keine Granate
aus jenem Krieg
heraufkommt eine Prozession
aus Bürgern und Bauern
ich lausche auch dem Chorgesang
herab vom Himmelsbalkon
herbei kommt eine Nonne
ihr Gang verheißt Stille
und fragt mich als jüngeren Bruder
warum ich nicht bei ihnen bliebe
um Heiligenviten zu schreiben
oder einfach nur zu sitzen
hier am Tor von Žiča

Peter Hamm, manuskripte, Heft 197, September 2012

 

 

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Miodrag Pavlović beim Vilenica International Literary Festival 2010, Ljubljana, 23.9.2010.

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