Nelly Sachs: Landschaft aus Schreien

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Nelly Sachs: Landschaft aus Schreien

Sachs-Landschaft aus Schreien

Das ist der Flüchtlinge Planetenstunde.
Das ist der Flüchtlinge reißende Flucht
in die Fallsucht, den Tod!

Das ist der Sternfall aus magischer Verhaftung
der Schwelle, des Herdes, des Brots.

Das ist der schwarze Apfel der Erkenntnis,
die Angst! Erloschene Liebessonne
die raucht! Das ist die Blume der Eile,
schweißbetropft! Das sind die Jäger
aus Nichts, nur aus Flucht.

Das sind Gejagde, die ihre tödlichen Verstecke
in die Gräber tragen.

Das ist der Sand, erschrocken
mit Girlanden des Abschieds.
Das ist der Erde Vorstoß ins Freie,
ihr stockender Atem
in der Demut der Luft.

 

 

 

Nachwort

Von den 9 Millionen 600 Tausend Verfolgten
die in den Gebieten lebten
die ihre Verfolger beherrschten
sind 5 Millionen 700 Tausend verschwunden
und es ist anzunehmen
daß die meisten von ihnen
vorsätzlich vernichtet wurden
wer nicht erschossen erschlagen
zu Tode gefoltert
und vergast wurde
kam um an Überarbeitung
Hunger Seuchen und Elend.

So lauten die nüchternen Zahlen, wie sie von dem Zeugen 7 in Peter Weiss’ Oratorium in 11 Gesängen „Die Ermittlung“ vorgetragen werden. Vor diesem Schrecklichen und Unfaßbaren, glaubt man, müsse die Sprache des Dichters verstummen. Das Wort des Philosophen Theodor W. Adorno, nach Auschwitz sei es nicht mehr möglich, ein Gedicht zu schreiben, von der Dichtung längst widerlegt, ist insofern richtig, als es nach Auschwitz kaum noch möglich schien, Gedichte zu schreiben, in denen die faschistischen Verbrechen nicht stets gegenwärtig sind. Schmerz und Leid des jüdischen Volkes in der faschistischen Zeit sind im Werk von Nelly Sachs Sprache und Dichtung geworden. Das Schicksal der Menschen ihrer Umgebung, das Schicksal ihrer Familie, das eigene ihr zugedachte Schicksal, dem sie knapp entronnen war – das alles ließ sie nicht mehr los, wurde Dichtungszwang. Die Visionen einer apokalyptischen Gegenwart verschmolzen mit den Bildern einer jahrtausendealten Geschichte und Mythologie, in der sie Trost suchte und Erlösung. Die romantische Schwermut, die dunklen Ahnungen in den Gedichten von Else Lasker-Schüler und Gertrud Kolmar füllten sich hier mit der Wirklichkeit der Verfolgungen und der Vernichtungslager. Das Werk von Nelly Sachs hat der deutschen Dichtung geholfen, der dunklen Vergangenheit ins Gesicht sehen zu lernen.
Am 10. Dezember 1891 in Berlin als Tochter eines Fabrikanten geboren, in einer Villa des Tiergartenviertels aufgewachsen, von Privatlehrern erzogen, verlebte Nelly Sachs ihre Kindheit und Jugend in der kultivierten Sphäre, der verinnerlichten, esoterischen Welt eines jüdischen Bürgerhauses. Früh begann sie zu musizieren, zu tanzen, Gedichte zu schreiben, ihre Lieblingslektüre waren Märchen und Sagen, die deutschen Romantiker, die Weisheitsbücher des Ostens. Ein Teil der frühen Gedichte ist aus dem Nachlaß Selma Lagerlöfs, mit der Nelly Sachs in Briefwechsel stand, bekannt geworden. Walter A. Berendsohn schreibt darüber:

Überblickt man diese frühen Dichtungen, so ist in ihnen zweifellos schon viel Wesentliches von der seelischen und künstlerischen Art der Dichterin enthalten, ihr inniges Verhältnis zur Natur, zu Pflanzen und Tieren, den Stimmungen der Landschaft und den Gestirnen im Weltall, ihre große Schwermut und eine eigenwillige Sprachgestaltung, die beständig äußere Eindrücke und seelische Erlebnisse aufs innigste verknüpft.

1921 erschien ihr erstes Buch Legenden und Erzählungen, ein Band lyrische Prosa über historische und mythologische Gestalten. Ihr Leben blieb unauffällig, zurückgezogen, kaum der Öffentlichkeit bekannt. Als 1933 in Deutschland der Faschismus an die Macht kam, gehörte Nelly Sachs zu jenen Menschen, denen das Lebensrecht entzogen wurde. 1940 gelang es ihr, mit Hilfe von Selma Lagerlöf und offiziellen schwedischen Stellen, mit ihrer Mutter aus Deutschland zu entkommen. Die gesamte übrige Familie wurde in den faschistischen Konzentrationslagern umgebracht.
Für Nelly Sachs begann jene „Flucht ohne Ende“, die Flucht vor den Bildern, den Visionen des Grauens. „Wir Geretteten, / immer noch essen an uns die Würmer der Angst.“ Das Strömende, Unaufhaltsame dieser Dichtung, das des freien rhythmischen Gefälles bedarf, das zuweilen kaum noch Satzzeichen, einen Schlußpunkt zwischen den einzelnen Stücken duldet, bringt einen ständigen Wechsel der Aspekte; nichts steht für sich, „der Worte Adernetz“ fügt die furchtbaren Erfahrungen, die Gestalten und Motive dieser Zeit in einen höheren, einen poetischen Zusammenhang. Der Blick der Dichterin ist nach Deutschland gerichtet, ihrer Heimat, die ein riesenhafter Kerker geworden ist für Millionen, sie erleidet all das, was die Menschen ihres Volkes erleiden müssen, ihre Freunde und Verwandten, was ihr selbst zugedacht war. Eine romantische Vorstellungswelt wird durchwuchert von den Gesichten der Vernichtung und des Todes. Im Vokabular dieser Lyrik gibt es zwar Liebe und Sehnsucht, Rosen und Nachtigallen, Abendrot und Amselmusik, Mond und Sterne, aber in welch einer Bezogenheit! Die dichterische Metaphorik erhält in ihrem Werk einen neuen Hintergrund, einen nicht vergleichbaren, bedeutungsschweren Inhalt. 1946 erschien im Aufbau-Verlag der Gedichtband In den Wohnungen des Todes, jenes für die dichterische Auseinandersetzung mit dem Faschismus so wichtige Buch, das in der Literatur unserer Zeit sichtbare Spuren hinterlassen hat. Außerdem kam der Band Von Welle und Granit heraus, ein Querschnitt durch die schwedische Lyrik des 20. Jahrhunderts, von Nelly Sachs übersetzt. Die Sammlung Sternverdunkelung erschien 1949 in Amsterdam. 1957 wurde Nelly Sachs auch in Westdeutschland publiziert. Seitdem ist eine Vielzahl von Gedichtsammlungen, Mysterienspielen, szenischen Dichtungen und Übersetzungen aus dem Schwedischen von ihr veröffentlicht worden. Im Oktober 1965 erhielt Nelly Sachs den Friedenspreis des westdeutschen Buchhandels.
„Seit ihrer ersten Gedichtsammlung“, sagt Hans Magnus Enzensberger, „schreibt sie im Grund an einem einzigen Buch.“ Der Ausgangspunkt ist im Anfangsgedicht bezeichnet:

O die Schornsteine
auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
durch die Luft…

Die Dichterin registriert oft nur: der bloßen Schilderung des Tatbestandes braucht kaum etwas hinzugefügt zu werden. „Riesengroß“ steht „das Gestirn des Todes“, die „schwarze Sonne der Angst“ über der Landschaft. Alle Elemente haben sich gegen den Menschen verschworen:

Die Lüfte, die man in uns erstickte,
die Feuer, darin man uns brannte,
die Erde, darin man unseren Abhub warf.
Das Wasser, das mit unserem Angstschweiß dahinperlte…

Die Gejagten sind rettungslos umstellt. Zahlen hat man in ihre Arme gebrannt, „damit niemand der Qual entginge“. Auch die Kinder sind gefangen. „Schreckliche Wärterinnen / sind an die Stelle der Mütter getreten.“ Einer der Orte wird genannt: Maidanek. Dahinter steht: Hiroshima. Die Spuren der Unmenschlichkeit sind genau zu verfolgen.
Die Dichtung von Nelly Sachs, sosehr sie sich zuweilen ins Visionäre, Zeitlose steigert, läßt niemals vergessen, von wo sie ausgegangen ist, wo die trostlose Suche nach Heimkehr und Erlösung begonnen hat. Der Tod ist allgegenwärtig in diesen Gedichten; Rauch, Staub und Sand sind seine wichtigsten Attribute. Im Motiv des Sandes wird die Gegenwart in Bezug gesetzt zur jahrtausendealten Geschichte des jüdischen Volkes. Hier sind alle Wüsten, alle Prüfungen und Verfolgungen beschlossen, die das Volk auf seinem Weg bis zur Apokalypse der faschistischen Zeit durchwandern mußte. Sand als Synonym für Einsamkeit und Unendlichkeit umschreibt den Zustand des Unterwegsseins, die Heimatsehnsucht, die die Verfolgten und vom Tode Gezeichneten in sich tragen. Die Metapher vom Sand im Schuh, vom Sand, den der Wanderer am Ende seines Weges aus den Schuhen schüttelt, verbindet vage Erinnerungen an Längstvergangenes mit der Ankunft im Tode.

Auch dir, du mein Geliebter,
haben zwei Hände, zum Darreichen geboren,
die Schuhe abgerissen,
bevor sie dich töteten.

Berge von Schuhen türmen sich vor unserem inneren Auge auf, Fluchtpunkt unzähliger Wanderungen, Anklage und Mahnung zugleich. In seiner „Reportage aus Auschwitz“ vom Dezember 1944 schrieb Konstantin Simonow:

… Diese einige Dutzend Meter lange und breite Baracke ist in ihrer ganzen Ausdehnung und in einer Höhe von über zwei Metern angefüllt mit der Fußbekleidung jener Menschen, die hier im Laufe von drei Jahren umgebracht wurden… Zehntausende Paar Kinderschuhe, Sandalen, Halbschuhe und Schühchen für Zehnjährige, Achtjährige, Sechsjährige und Einjährige. Man kann sich kaum etwas Grauenhafteres vorstellen als dieses Bild…

Das Verbrechen an den Kindern läßt die Dichterin nicht zur Ruhe kommen.

O der weinenden Kinder Nacht!
Der zum Tode gezeichneten Kinder Nacht!
Der Schlaf hat keinen Eingang mehr.

Die Faschisten haben den Schlaf der Kinder, haben die Unschuld, haben die Liebe gemordet.

Auf den Landstraßen der Erde
liegen die Kinder
mit den Wurzeln
aus der Mutterseele gerissen.

Hier wird der Schmerz inkommensurabel.

Immer
dort wo Kinder sterben
werden die leisesten Dinge heimatlos.

Der vertrauensselige und betrogene Blick der Kinder verfolgt uns überallhin; ihr geraubter Schlaf soll die Welt wachhalten, behüten vor neuem Unheil.
Einmal vergleicht Nelly Sachs die Kinder mit Schmetterlingen, die man „flügelschlagend in die Flamme geworfen“. Mit dem Dasein der Kinder ist die Existenz der Liebe gefährdet, der Fortbestand eines humanen, menschenfreundlichen Lebens. Doch „der kranke Schmetterling weiß bald wieder vom Meer –“. In dem Gleichnis des Schmetterlings verleiht die Dichterin ihrem Glauben an das Leben, an die Schönheit Ausdruck.

Wohin o wohin
du Weltall der Sehnsucht
das in der Raupe schon dunkel verzaubert
die Flügel spannt…
während die Seele zusammengefaltet wartet
auf ihre Neugeburt.

Das Symbol der Verwandlung durchzieht ihr gesamtes Werk. Der Schönheit blieb nur eine schmale Zone, schmetterlingsgleich war ihre Welt, ewig von „Häschern“ bedroht, voller Unruhe und hintaumelnder Flucht.

Schmetterling…
Welch schönes Jenseits
ist in deinen Staub gemalt.

Die Sehnsucht nach Verwandlung, nach Heimkehr, nach Frieden für alle Menschen läßt keine Rachegefühle aufkommen. Diese Dichtung kennt keinen Haß – das ist ihre Stärke und ihre Grenze; denn sie wirkt versöhnlich auch dort, wo keine Versöhnung geboten ist. Noch ist der Staub jener Untaten nicht verwischt, noch sind viele der Henker nicht gerichtet. Aber die geschundene, verratene Liebe des Menschen hat wieder Wohnrecht erhalten auf der Erde. „Laßt uns das Leben leise wieder lernen“, heißt es im „Chor der Geretteten“. Das lyrische Werk von Nelly Sachs, eines der bedeutenden dichterischen Zeugnisse über das Schicksal des jüdischen Volkes in der faschistischen Zeit, ist der Bewahrung des Humanen, der Sprache und der Dichtung gewidmet.

Völker der Erde,
zerstöret nicht das Weltall der Worte,
zerschneidet nicht mit den Messern des Hasses
den Laut, der mit dem Atem zugleich geboren wurde.

Fritz Hofmann, Nachwort

 

Beitrag zu diesem Buch:

Karl Schwedhelm: „Landschaft aus Schreien“
Eckart, Heft 7, 1958

 

Nelly Sachs: Dichterin der großen Trauer

Bevor ich es riskiere, diesem Kreise Nelly Sachs als „die Dichterin der großen Trauer“ vorzustellen, möchte ich eine Vorbemerkung machen:
Ein großer Denker und Schriftsteller hat gesagt:

Die sich des Vergangenen nicht erinnern, sind dazu verurteilt, es noch einmal zu erleben.

Genau diese Möglichkeit eines „Noch-einmal“-verfolgtwerdens von Nazis, Neo-Nazis oder Anti-Zionisten schwebt noch und immer wieder weltweit über den Häuptern der Juden nach Auschwitz. – Nelly S. schreibt:

Wir Geretteten,
Immer noch essen an uns
die Würmer der Angst.

Die Dichterin selber hat als alte Frau in ihrem letzten Lebensjahrzehnt an solch schwerem Verfolgungswahn gelitten, daß sie immer wieder Monate lang in einer Nervenklinik leben mußte, auch Schocktherapien erdulden, um freizukommen von den Wahnvorstellungen, daß in dem Mietshause in Stockholm, wo sie wohnte, Nazis lebten, die sie bespitzelten. – Genau solche Bespitzelungen und darauffolgende Gestapo-Verhöre hatte sie ja in Berlin jahrelang durchstehen müssen vor ihrer späten Auswanderung – erst 1940 – nach Schweden. – Als sie aber längst gerettet war, bekannt und vielgeehrt als Dichterin, – als sie schon jahrelang zusammen mit ihrer kranken alten Mutter in Stockholm gelebt hatte, wurde sie dennoch ein Opfer schrecklichen Verfolgungswahns, offenbar eine unabwendbare Spätfolge des erlebten Grauens in der Hitlerzeit in Berlin.
Auch aus diesem Grunde, wegen solcher Ängste vieler Überlebenden, ist die Trauerdichtung der Nelly S. aktuell und eine Herausforderung insbesondere an Nicht-Juden weltweit, ein Appell an unzählige deutsche Staatsbürger, die zuvor zwar „dabei-gewesen“ sind, da sie die Jahre 1933 bis 1945 miterlebt haben, weil sie miterlebt haben, weil sie damals zu Hitlers Zeiten schon auf der Welt waren, – die aber bekanntlich sich an so manches „nicht erinnern“ können oder es nicht wollen.
Uns alle – Juden wie Nichtjuden, Alte wie Junge, geht dieses geschichtsträchtige Wort an, das von Santayana stammt, und das ich nochmals zitiere:

Die sich des Vergangenen nicht erinnern, sind dazu verurteilt, es noch einmal zu erleben. (Georges de Santayana; geb. 1863 in Madrid, gest. 1952 in Rom)

Liebe Zuhörer, um Ihnen Dichtung, Charakter und Leben der Nelly Sachs etwas näher zu bringen, möchte ich Sie – wiewohl zögernd – sofort mit Versen aus diesem nicht leicht verständlichen poetischen Werke konfrontieren. Beim Hören dieser Gedichte müssen wir bedenken, daß Nelly S. (geb. am 10. Dezember 1891 in Berlin, gest. am 12. Mai 1970 in Stockholm) aus einer wohlhabenden und kultivierten Familie stammte – und daß sie durch das Hitler-Regime aus Deutschland vertrieben wurde, nur weil die damals völlig unpolitische, schöngeistige Frau Jüdin war. – Mitten im Kriege – im Mai 1940 – wurde sie – es geschah ein Wunder! – (ich gehe später noch in Einzelheiten) nach Schweden, nach Stockholm hin gerettet, zusammen mit ihrer geliebten kränklichen Mutter. Nelly S. stand damals im 50. Lebensjahre. – Als Nelly S. dann – buchstäblich durch diese krasse Erfahrung von Verfolgung und Errettung – im Exil – noch in ihrem 6. Lebensjahrzehnt eine künstlerische Neugeburt erlebte, als sie überströmte von Eingebungen und plötzlich eine umfangreiche Dichtung sui generis vorlegte, war diese große Elegie von einigen tausend Gedichten und einigen Dutzend Dramen ausschließlich eine Thematisierung von Verfolgung, Leid und Emigration. Kein anderes Thema scheint sie noch interessiert zu haben! – So ist sie Deutschlands große Dichterin des Holocaust geworden.

Da muß ich aber leider hinzufügen, daß es ihr mit ihren deutschen Lesern ähnlich ergangen ist wie genau zweihundert Jahre vor ihr Klopstock, dem Schöpfer der großen 20 Gesänge umfassenden Elegie Der Messias. Von jenem berühmten deutschen Dichter, – enttäuscht über seine geringe Leserschaft, sagte man damals:

Wer wird nicht einen Klopstock loben;
Doch wird ihn jeder lesen? Nein!
Wir wollen weniger erhoben
und häufiger gelesen sein.

Die Dichtung der Nelly S. ist – wie gesagt – ein riesiges Denkmal für die ermordeten europäischen Juden unseres Jahrhunderts. Es ist Dichtung nach Auschwitz und über Auschwitz, ein einziges packendes in memoriam. Jeder Gedichtzyklus, ja, fast jedes einzelne Gedicht von ihr ist ein Stück konkreten Nachrufs auf die millionenhafte Judenvernichtung.
Ich bringe zunächst einiges aus Nelly S.’s dichterischer Frühzeit, also aus den 1940er Jahren. Diese allerersten Veröffentlichungen fallen deutschen Lesern wohl am schwersten. Ihre erste Veröffentlichung 1946 in Berlin-Ost erschien im Aufbau-Verlag; es ist der Gedichtband In den Wohnungen des Todes, ganz konkret zu verstehen als die „Wohnungen“ der zum Tode Bestimmten, die Konzentrationslager.
Vorangestellt ist diesem Gedichtband eine klar verstehbare Widmung: „Meinen toten Brüdern und Schwestern“ und sodann der Titel des ersten Zyklus dieses Erstbandes:

Dein Leib im Rauch durch die Luft.

Hier nun das eröffnende Gedicht mit dem darüberstehenden Motto, einem Zitat aus der Bibel:

Und wenn diese meine Haut zerschlagen sein wird, so werde ich ohne mein Fleisch Gott schauen
Hiob (19, 26)

O DIE SCHORNSTEINE

Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
Durch die Luft –
Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing
Der schwarz wurde
Oder war es ein Sonnenstrahl?

O die Schornsteine!
Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub –
Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein
Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?

O die Wohnungen des Todes,
Einladend hergerichtet
Für den Wirt des Hauses, der sonst Gast war –
O ihr Finger,
Die Eingangsschwelle legend
Wie ein Messer zwischen Leben und Tod –

O ihr Schornsteine,
O ihr Finger,
Und Israels Leib im Rauch durch die Luft!

Das unmittelbar hierauf folgende, also ihr zweites veröffentlichtes Gedicht, hat – typisch für die geistige und geistliche Haltung von Nelly S. – bereits einen überraschend positiven Klang:

aaaaaaaaaaaaaaaaaEs gibt Steine wie Seelen.
aaaaaaaaaaaaaaaaa(Rabbi Nachman)

AN EUCH, DIE DAS NEUE HAUS BAUEN!

Wenn Du dir deine Wände neu aufrichtest –
Deinen Herd, Schlafstatt, Tisch und Stuhl –
Hänge nicht deine Tränen um sie, die dahingegangen,
Die nicht mehr mit dir wohnen werden
An den Stein
Nicht an das Holz –
Es weint sonst in deinen Schlaf hinein,
Den kurzen, den du noch tun mußt.

Seufze nicht, wenn du dein Laken bettest,
Es mischen sich sonst deine Träume
Mit dem Schweiß der Toten.

Ach, es sind die Wände und die Geräte
Wie die Windharfen empfänglich
Und wie ein Acker, darin dein Leid wächst,
Und spüren das Staubverwandte in dir.

Baue, wenn die Stundenuhr rieselt,
Aber weine nicht die Minuten fort
Mit dem Staub zusammen,
Der das Licht verdeckt.

Als letztes Gedichtmuster aus ihrer dichterischen Frühzeit, also aus den 1940er Jahren und somit unter dem unmittelbaren Grauens-Eindruck der zeitgleichen Verschleppungen, der massenhaften Deportierungen nach Auschwitz – hier etwas aus dem Zyklus der 13 Gedichte „Chöre nach der Mitternacht“:

CHOR DER GERETTETEN

Wir Geretteten,
Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten schnitt,
An deren Sehnen der Tod schon seinen Bogen strich –
Unsere Leiber klagen noch nach
Mit ihrer verstümmelten Musik.
Wir Geretteten,
Immer noch hängen die Schlingen für unsere Hälse gedreht
Vor uns in der blauen Luft –
Immer noch füllen sich die Stundenuhren mit unserem tropfenden Blut.

Wir Geretteten,
Immer noch essen an uns die Würmer der Angst.
Unser Gestirn ist vergraben im Staub.
Wir Geretteten
Bitten euch:
Zeigt uns langsam eure Sonne.
Führt uns von Stern zu Stern im Schritt.
Laßt uns das Leben leise wieder lernen.
Es könnte sonst eines Vogels Lied,

Das Füllen des Eimers am Brunnen
Unseren schlecht versiegelten Schmerz aufbrechen lassen
Und uns wegschäumen –
Wir bitten euch:

Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund –
Es könnte sein, es könnte sein
Daß wir zu Staub zerfallen –
Vor euren Augen zerfallen in Staub.
Was hält denn unsere Webe zusammen?

Wir odemlos gewordene,
Deren Seele zu ihm floh aus der Mitternacht
Lange bevor man unseren Leib rettete
In die Arche des Augenblicks.
Wir Geretteten,
Wir drücken eure Hand,
Wir erkennen euer Auge –
Aber zusammen hält uns nur noch der Abschied,
Der Abschied im Staub
Hält uns mit euch zusammen.

Hören wir noch einige Verse aus diesen eindringlichen „Chören“: dem Chor der Wandernden, dem Chor der Waisen und dem Chor der Schatten: (p. 52)

CHOR DER WANDERNDEN

Wir Wandernde,
Unsere Wege ziehen wir als Gepäck hinter uns her –
Mit einem Fetzen des Landes darin wir Rast hielten
Sind wir bekleidet –
Aus dem Kochtopf der Sprache, die wir unter Tränen erlernten,
Ernähren wir uns.

Wir Wandernde,
An jeder Wegkreuzung erwartet uns eine Tür
Dahinter das Reh, der waisenäugige Israel der Tiere,
In seine rauschenden Wälder verschwindet
Und die Lerche über den goldenen Äckern jauchzt.
Ein Meer von Einsamkeit steht mit uns still
Wo wir anklopfen.
O ihr Hüter mit flammenden Schwertern ausgerüstet,

O wir Wandernde vor den Türen der Erde,

Unser Tod wird wie eine Schwelle liegen
Vor euren verschlossenen Türen!

Anschließend ein paar Verse aus dem Chor der Waisen, Waisenkinder sind gemeint:

… Wir Waisen
Wir klagen der Welt…
… Wir Waisen liegen auf den Feldern der Einsamkeit…
… Aber unsere Augen sind Engelaugen geworden
Und sehen euch an,…
… Wir Waisen, wir klagen der Welt:
Welt warum hast du uns die weichen Mütter genommen
Und die Väter, die sagen: Mein Kind du gleichst mir!
Wir Waisen gleichen niemand mehr auf der Welt!
O Welt
Wir klagen dich an!

Zu Klage und auch wohl Anklage gehört jedoch bei Nelly S. der Ausblick ins Jenseits des hier Erlittenen, der Glaube an eine Ewigkeit, wo die Schuld der Menschen nicht mehr gemessen, sondern eingeebnet wird, d.h. – Gott überlassen:
So lautet es im Chor der Toten:

Wir Toten Israels sagen euch:
Wir reichen schon einen Stern weiter
In unseren verborgenen Gott hinein .

In der Jahre dauernden inneren Verarbeitung des Erlebten, in der „Verdichtung“ bringt Nelly S. es zu einer vollkommen einmaligen, kaum nachvollziehbaren, jenseitig anmutenden Zusammenschau von Opfern und Henkern; – so etwa im „Chor der Schatten“, wo sie eine kaum begreifbare Solidarität andeutet – zwischen Opfern und Henkern – sozusagen sub specie aeternitatis, – wenn die Dichterin in der „Wir“-Form spricht:

Wir Schatten, o wir Schatten!
Schatten von Henkern
Geheftet am Staube eurer Untaten –
Schatten von Opfern
Zeichnend das Drama eures Blutes an eine Wand.
O wir hilflosen Trauerfalter… –
 (p. 57)

So wie sie genau 13 (!) „Chöre nach der Mitternacht“ schrieb, hat sie – schon 1943 – auch 13 (!) „Grabschriften in die Luft geschrieben“ verfaßt, von denen jede einzelne mit den Initialen des Menschen versehen ist, für den die „Grabschrift“ bestimmt ist; – nicht die vollen Namen dieser Nelly S. persönlich bekannten Ermordeten werden preisgegeben, aber deren Berufe werden mitgeteilt, so der Hausierer (G. F.), die Markthändlerin (B. M.), der Spinozaforscher (H. H.), die Tänzerin (D. H.), der Marionettenspieler (M. Z.), die Abenteurerin (A. N.):

Wohl spieltest du mit nichts als Wasserbällen,
die lautlos an der Luft zerschellen…
Doch dein letztes Abenteuer –
Still; eine Seele ging aus dem Feuer.

Die allerletzte, die 13. Grabschrift – in die Luft geschrieben –, ist für die alles Vergessende (A. R.):

Aber im Alter ist alles ein großes Verschwimmen.
Die kleinen Dinge fliegen fort wie die Immen.
Alle Worte vergaßt du und auch den Gegenstand;
Und reichtest deinem Feind über Rosen und Nesseln die Hand.

Was Nelly Sachs’ Dichtung für Zeitgenossen und Nachwelt an Heilung bewirken kann, drückt niemand so treffend, so eindringlich aus wie Hilde Domin in ihrem offenen Brief an Nelly Sachs zu deren 75. Geburtstag am 10. Dezember 1966:

Liebe Nelly, ich schreibe Dir diesen Brief, publice. Ich will öffentlich aussprechen, was Du für mich getan hast, denn ich denke, Du hast es für viele getan und kannst es für viele tun. Für alle, die… an dem gleichen Trauma leiden… Bei Kriegsende sah ich zum ersten Mal Bilder aus dem Konzentrationslager… Am schlimmsten waren mir die Leichenhaufen: All diese nackten, hilflosen Körper, wie ein Lager von verrenkten Puppen übereinander gestapelt… Mein Entsetzen war nicht mitteilbar… Als ich Deine Gedichte las, im Winter 59/60, also fast 15 Jahre später, da hast Du meine Toten bestattet, all diese furchtbaren Toten, die mir ins Zimmer kamen, … und sie gingen ein in das Gedächtnis aller Gestorbenen. In Schmerz, aber ohne Bitterkeit lösten sie sich in Deinen Worten… Diese große Katharsis, diese Erlösung haben Deine Gedichte bewirkt. Das müssen wir alle Dir danken: wir, die Überlebenden. Du hast diesen Toten die Stimme gegeben. Mit Deinen Worten sind sie – klagend, aber doch gegangen, den Weg, den die Toten gehen.
Das konnte nur einer tun, der ein Opfer und ein Ausgestoßener war und zugleich ein Dichter. Einer, dem die deutsche Sprache zu eigen ist und der also ganz ein Deutscher ist. Und zugleich ganz zu den Opfern gehört…

Nelly S. selbst schreibt über die Entstehung ihrer Dichtung, sie habe alles niedergeschrieben „wie die Nacht es mir gereicht hat.“ – „Diese Elegien und Grabschriften sind mir selbst in einem großen Geheimnis gekommen. Ich habe eine kranke Mutter hier. Krank vor Schreck und Entsetzen um alles, was wir vorher erlebten, die geliebtesten Menschen sind mir von der Seele gerissen in Polen dahingegangen, und da waren es einige Nächte, wo ich ihr Sterben fühlte oder vielmehr zerrissen wurde vor Schmerz. Das sind die Elegien, das sind die Grabschriften.“ …
Bevor wir zum dichterischen Höhepunkt und zugleich Mittelpunkt des Werkes, nämlich zur Dichtung der 1950er Jahre kommen, hier einige biographische Mitteilungen über diese scheue Frau, die sich nur ungern autobiographisch geäußert hat.
Am 10. Dezember 1891 wurde Nelly Sachs in Berlin geboren als einziges Kind eines Fabrikantenehepaares. Die kleine Familie lebte in Stille und Zurückgezogenheit – wie eng aneinandergeschmiegt – in einer Eigentums-Villa im Tiergartenviertel. Der hochmusikalische Vater improvisierte abends gern auf dem Klavier; und Tochter Nelly (eigentlich Leonie) liebte es, zu dieser Musik phantasievoll zu tanzen. – Immer hat sie den Tanz als ihre angeborene Begabung und eigentliche Ausdrucksform empfunden, – ohne jemals darin ausgebildet worden zu sein.
Wohl zum letzten Male hat sie so spontan und leidenschaftlich getanzt, als sie – nach 25 Jahren Emigrationsferne – zu einem Kurzbesuch in Berlin war. Das war 1965; unmittelbar vor Berlin hatte sie in Frankfurt a.M. den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. – Als sie nun in Berlin plötzlich den heimatlichen Tiergarten wiedersah, ist die Mittsiebzigerin dortselbst im Grünen in einen leidenschaftlichen Tanz ausgebrochen!! Das hat mir Ingeborg Drewitz erzählt, in deren Begleitung Nelly Sachs Berlin neuerlebte. Es sei total überraschend, seelischergreifend und ästhetisch-schön gewesen, wie die zarte Gestalt in ihren weiten Kleidern sich im Tanze drehte!
Aus ihrer frühen Jungmädchenzeit sind zwei Erlebnisse für sie zukunftshaltig geworden:
Nachdem sie zu ihrem 15. Geburtstag (also im Jahre 1906) Selma Lagerlöf’s Gösta Berling Sage geschenkt bekommen hatte, entstand eine mehrjährige Korrespondenz zwischen der begeisterten jugendlichen Leserin, die Selma Lagerlöf ihr „leuchtendes Vorbild“ nannte, und der freundlich antwortenden berühmten schwedischen Dichterin, der das junge Mädchen in Deutschland noch in den 20er Jahren ihre ersten eigenen Gedichte schickte, – welche offenbar noch im recht konventionalen Stil verfaßt waren. Jedenfalls hat Nelly S. diese frühsten dichterischen Versuche noch vor ihrer Auswanderung selber vernichtet.
Aber eben diese Brieffreundschaft sollte eine entscheidende Rolle spielen, als Mutter und Tochter Sachs (der Vater war schon 1930 gestorben) seit 1933 in Berlin in arge Bedrängnis durch die hitlerische Rasse-Gesetzgebung geraten waren. Nach manchen Schikanen und Gestapo-Verhören gelang es – wohl wesentlich auf Selma Lagerlöfs Fürsprache hin –, die beiden Frauen im Mai 1940, also buchstäblich in letzter Minute mitten im Kriege, von Berlin nach Stockholm zu retten. Tatsächlich war die damals 82jährige Selma Lagerlöf bereits am 16. März gestorben; auf den Tag genau zwei Monate vor der Ankunft von Nelly S. in Schweden. Somit war diese Lebensrettung der beiden Verfolgten wohl eine letzte großmütige Tat der schwedischen Dichterin für ihre langjährige Verehrerin in Deutschland. Auch Prinz Eugen, der Bruder des schwedischen Königs, und vor allem eine intime Schulfreundin Gudrun Dähnert, geb. Harlan, in Dresden ansässig, wirkten tatkräftig mit bei dem ungewöhnlichen Rettungwerk.
Als Mutter und Tochter Sachs, die seit 1939 angstvoll auf das schwedische Visum gewartet hatten, dieses kostbare Schriftstück endlich erhielten, traf dieses Visum – unglaublicherweise – mit gleicher Post bei den beiden Frauen ein, mit der Nelly die Mitteilung erhielt, wann und wo sie sich für den Abtransport ins Konzentrationslager einzufinden habe: Nelly Sachs berichtet später:

In der einen Hand hatte ich mit dem schwedischen Visum das Leben, in der andern Hand mit dem Gestellungsbefehl ins ,jüdische Arbeitslager‘, das uns allen schon als KZ bekannt war, – den Tod.

Als die beiden Frauen am Tage vor der geplanten Ausreise nach Schweden sich bei der Geheimen Staatspolizei melden mußten, wo Nelly schon quälend-beängstigende Verhöre überstanden hatte (einmal blieb sie nach einem solchen Verhör während fünf Tagen kehlkopfgelähmt, konnte keinen Ton mehr herausbringen und dichtete später: … „Meine Stimme war zu den Fischen gegangen…“) Als die beiden sich also dieses letzte Mal bei der Gestapo meldeten, gab den zitternden Frauen ein Kommissar den Rat, nicht mit dem Zuge zu fahren; zumindest die Jüngere würde an der deutschen Grenze festgenommen werden. – Es gab offenbar auch solche Gestapoleute. (s.i. Buch der Nelly Sachs, Frankf. 1968, Seiten 36–37). So tauschten sie die bereits gekauften Eisenbahnfahrkarten in Flugkarten um und landeten am 16. Mai 1940 unbehindert in Stockholm.
Nun zurück zu den prägenden, auch zukunftsträchtigen Jugend-Eindrücken der künftigen Dichterin:
Außer diesem harmonischen und für Nellys späteres Schicksal entscheidenden Jugenderlebnis Selma Lagerlöf gab es ein tragisches Erlebnis, dessen tiefer Schatten über ihrem ganzen Leben lastete. Während eines Kuraufenthaltes mit den Eltern – es war im fernen Jahre 1908 – erglühte die erst 17jährige (s. Hilde Domin: Nelly Sachs, Gedichte, p. 115 bei Suhrk., 1977) in einem ersten und letzten Liebeserlebnis von umwerfender Heftigkeit. – Diese Liebesbeziehung endete aber unglücklich, denn Vater Sachs lehnte eine Eheschließung seiner Tochter mit einem wohl bedeutend älteren und – dann – geschiedenen Manne ab.
Doch offenbar wurde ein freundschaftlicher Umgang der beiden Liebenden fortgesetzt und von Familie Sachs geduldet. Jedenfalls wurde dieser (ganz unbekannt gebliebene) Mann noch 1940 eines Tages – zusammen mit Nelly! – von der Gestapo verhaftet. Nelly kam zwar wieder frei; aber der geliebte Mann kam bald darauf in einem KZ ums Leben. (s. Henning Falkenstein, Colloquium Verlag, Berlin, 1984, S. 9) – Zu jenem Zeitpunkt war Nelly S. knapp fünfzig Jahre alt, – jener Mann vermutlich etwa 60 Jahre alt. Es darf angenommen werden, daß die Liebenden sich – de facto – über drei Jahrzehnte immer wieder trafen und daß diese Freundschaft tiefste Erfüllung bedeutet hatte für Nelly Sachs. So wurde diese von dem Tod gerade dieses Mannes bis ins innerste Mark getroffen. Unmittelbar nach dem Mord an ihrem Geliebten entstanden zehn ergreifende Gedichte, die (wie schon erwähnt) erst-veröffentlicht wurden in Berlin-Ost im Jahre 1946. Deren Titel: „Gebete für den Toten Bräutigam“. Unaufhörlich befragt sich die Dichterin nach der Art und Weise seines Sterbens; lebenslang klagt sie um den „Toten Bräutigam“:

Dein Haus, mein Geliebter, ich spür
Ist ganz von Gott verschneit.
(p. 29 in Fahrt ins Staublose Suhrk., 1961)

Geliebter, die Sehnsucht deines Staubes
Zieht brausend durch mein Herz.
(S. 30)

Wenn ich nur wüßte,
Worauf dein letzter Blick ruhte,
War es ein Stein…
Oder war es Erde…
Oder war es dein letzter Weg,
der dir das Lebewohl von allen Wegen brachte,
Die du gegangen warst
(S. 31)

Nacht, mein Augentrost du, ich habe meinen Geliebten verloren!
Sonne, du trägst sein Blut in deinem Morgen- und Abendgesicht…

Nelly Sachs hat bekannt:

Das Schreiben war mein stummer Schrei. Ich schrieb, um zu überleben.

Ihre vielen Manuskripte hob Nelly S. tatsächlich im Küchenschrank auf in der kleinen Wohnküche des fünfstöckigen Mietshauses. Da lagen je sieben Wohnungen auf einem Stockwerk, die zumeist von ebenfalls verarmten NS-Flüchtlingen bewohnt waren. Bis an ihr Lebensende, also von 1940 bis 1970 wohnte sie in diesem Arbeiterviertel in Stockholm, den Blick aufs Wasser und auf Fabrikanlagen gerichtet, Bergsundsstrand Nr. 23. – Neben der Küche lag der einzige Raum, nämlich für die alte, kranke Mutter zusammen mit der Tochter, die sie – bis zu deren Ende 1950 – pflegte und versorgte.
(1930 Tod des Vaters, 1950 Tod der Mutter, 1970 stirbt Nelly Sachs).
Hier in diesem ärmlichen Quartier, wirklich auf engstem Raum, sind Tausende von Gedichten geschrieben worden, dazu viele Prosastücke und Dramenwerke, – außer vielen Tausenden von Briefen.
Alle diese poetischen Schöpfungen wurden nachts erdacht, wenn Tochter Nelly kein Licht anmachte, um den Schlaf der leidenden Mutter nicht zu stören. Beim Schein einer Taschenlampe wurde manches notiert; und tags darauf wurden die nächtlichen Visionen niedergeschrieben. – … „Und so ist alles, was ich schreiben muß, wie Atmen. Ich müßte ersticken, täte ich es nicht“, bekennt sie in einem Brief.
Ich komme nun zur Dichtung aus den späten 1950er Jahren, wohl dem künstlerischen Höhepunkt. Ich möchte insbesondere auf den 1959 veröffentlichen Zyklus der mehr als 50 Gedichte hinweisen, – den geistigen und geistlichen Mittelpunkt ihres Gesamtwerkes, der unverkennbar die entscheidende tiefschürfende Wendung offenbart, die diese Dichterin in ihrem siebten Lebensjahrzehnt genommen hat.
Der Titel dieses Zyklus zeigt, daß Nelly S. sich dessen bewußt ist, daß sie selbst und mit ihr ihre Dichtung sich verwandelt hat. Flucht und Verwandlung nennt sie dieses Gedichtwerk.
Ich zitiere hier stellvertretend für alle Gedichte dieses Zyklus, das ihr selber so wichtig war, daß sie es zweimal öffentlich hat erklingen lassen, – einmal bei der schon erwähnten Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in Frankfurt in der Paulskirche 1965; – sodann hat sie es nochmals bei der Verleihung des Nobel-Preises im Jahre 1966 gesprochen. Das Gedicht heißt „In der Flucht“.

IN DER FLUCHT

welch großer Empfang
unterwegs –

Eingehüllt
in der Winde Tuch

Füße im Gebet des Sandes
der niemals Amen sagen kann
denn er muß
von der Flosse in den Flügel
und weiter –

Der kranke Schmetterling
weiß bald wieder vom Meer –
Dieser Stein
mit der Inschrift der Fliege
hat sich mir in die Hand gegeben –

An Stelle von Heimat
halte ich die Verwandlungen der Welt –

Die beiden Pfeiler, auf denen dieses Gedicht nicht ruht, aber schwingt, sind Flucht und Verwandlung als elementare, unentbehrliche Erfahrungen auf dem Wege zur wahren Menschwerdung. – Gemeint ist der Mensch, der nicht im Wohlbefinden, nicht in der Zufriedenheit verharren will, der nicht der unproblematisch Sesshafte bleiben kann; – gemeint ist der Mensch, der es wagt, sich einem „Unterwegs“ auszusetzen, einem unliebsamen „Lernprozeß“, – was Verzicht auf Sicherheit bedeutet.
Mitten im schwebend-riskierten Loslassen, – im Fahrenlassen der gewohnten Absicherungen unseres verwalteten Lebens, ja, mitten in den Gefahren der – unvermeidlichen! – Fluchtsituation wird diesem Menschen – ganz unvorhersehbar – „Großen Empfang“ „In der Flucht unterwegs“. Also nicht erst am Ziel wird der Schutzlose, der Opfermensch in Schutz genommen, schon jetzt wird er „eingehüllt in der Winde Tuch“. Kein Lagern, kein Rücksiedeln kann es geben, sondern „Weiter“ „muß er“, wird nun aber – wunderbarerweise – zum Weggenossen derer, die ebenfalls in Bewegung sind, deren Existenzform Beweglichkeit ist. Mit solchen Kreaturen ist er nun geschwisterlich vereint: mit Wind und Sand und Fisch und Vogel, mit Schmetterling und Meer. Alle diese sind Grundworte bei Nelly S.
Heimat wird zwar verwehrt. Etwa ein Recht auf Angesiedeltsein, auf Rücksiedlung bleibt verwehrt. – Doch welche Überkompensation wird gewährt, wird dem bewegten, dem veränderungs-gesonnenen Menschen zuteil:

An Stelle von Heimat halte ich die Verwandlungen der Welt.

Allverschwisterung ist die neugewonnene Erfahrung, welche die Haltung des Vertriebenen, des Flüchtlings bestimmt. So wird der Ungeist der Verfolger überwunden in einer neuen Zuwendung des Opfermenschen zur Schöpfung, zum Kosmos.
Hiermit treffen wir auf die geistig zentrale persönliche Leistung der Nelly Sachs.
Zwar immer noch und immer wieder ausgehend von der Marter, vom jüdischen Leid – bleibt sie nicht beim Holocaust stehen, sondern thematisiert immer deutlicher, eindringlicher und bildhafter das sinndurchwirkte Leid-Schicksal der ganzen Menschheit, die, durch Leiderfahrung und Leidüberwindung geläutert, bereitet wird zu einer verwandelten Existenzweise.
Nelly Sachs entwirft nicht eine Welt, in der es keine Verfolgung gäbe, in der keine Opfer gebracht würden. Aber basierend auf jüdischem Schicksal, des repräsentatitv für menschheitliches Schicksal verstanden wird, zeigt Nelly Sachs an, daß eine neue Sinngebung „in“ der Flucht, im Opfergang denen zuteil werden kann, die sich auf eine – etwa im Zohar veranschaulichte –, entheistisch – mystische Verwandlung einlassen. So mündet ihr konstanter Nachruf auf die Opfer von Auschwitz im Aufruf an alle, an die leidende Menschheit.
Als 1959 dieser Gedichtband Flucht und Verwandlung erschien, jubelte die Dichterin – als ob ihr das ganz neu sei:

Es sind Verwandlungsgedichte!

Nicht so sehr auf die Dokumentation der Flucht kam es ihr an, als auf die neue Existenzweise der Verwandlung.
Aber die viel geehrte und wiederholt preisgekrönte Nelly Sachs hat selber klar beobachtet, wie – dennoch – die nachkriegsdeutsche Leserschaft sich ihrem Werke nur zögernd öffnet, – wie diese Bücher hier bei uns nur wenig gekauft werden, – und es ist (so beobachtet auch Hilde Domin) fast 20 Jahre nach dem Tode der Dichterin nicht anders geworden, sondern es gibt bislang nur einzelne Leser, die „mit solchen Gedichten“ „leben“ können, „das ist, sie lesen und lieben“.
Noch im Erscheinungsjahr von Flucht und Verwandlung, nämlich im August 1959 schreibt Nelly Sachs in einem Brief an den ihr befreundeten schwedischen Dichterkollegen Johannes Edfelt

man muß den Mut haben, alles einzusehen. Flucht und Verwandlung ist wie alle meine Dinge eigentlich nur wieder Kritikererfolg, aber gekauft wird es, trotz des so glühenden Bemühens des Andersch- und Celan-Kreises, sehr wenig. … Meinem Namen haftet eben das Schicksal meines Volkes an, und obgleich die letzten beiden Gedichtsammlungen längst die Menschheit meinen – so hat man die (in den) Wohnungen (des Todes) nicht vergessen. Ich habe das gerade in letzter Zeit tief einsehen müssen. Nicht alles, was früher wohlwollend eingestellt war und was ich dachte, würde für immer sein, hat sich auf seiner Ebene gehalten. Die Jugend hat neue eigene Probleme in unserer verdüsterten Welt und muß sie auf ihre Weise lösen… (S. 228 in Briefe der Nelly Sachs, Suhrk., 1984).

Ich komme nun zum Schluß, zu dem Fazit, das ich anbiete: Ist nicht das Jahr 1988 mit seinen zahlreichen Gedenkveranstaltungen 50 Jahre nach dem Synagogenbrand von 1938, mit den damals Deutschland-weiten-Hitler-Pogromen, ist nicht gerade dieses Jahr ein gegebener Zeitpunkt, auf das Werk der Nelly Sachs neu zuzugehen?
Es ist keine Frage: aus den zahlreichen Gedichten hat sich noch kein „Kanon“ einiger weniger, aber bleibender Gedichte herausgefiltert; doch eines steht heute schon fest: Die Dichtung der Nelly Sachs hat die düstere Prognose Theodor Adornos widerlegt, das nach Auschwitz keine Lyrik, kein Gedicht mehr möglich sei. Niemand anders als der um eine Generation jüngere und geistig so völlig andersartig strukturierte Hans Magnus Enzensberger hat sich nachhaltig zu Nelly S. bekannt: … „ihrer Sprache wohnt etwas Rettendes inne.“ – Und Sie erinnern sich an Hilde Domins Briefwort direkt an Nelly S.:

Deine Gedichte haben Erlösung bewirkt.

Diese dichterische Bildersprache hat die Sprachlosigkeit nach Auschwitz überwunden. – Ich meine also, wir in Deutschland dürfen uns im Gedenkjahr 1988 dieser Dichtung öffnen, ja, uns ihr anvertrauen. Lassen Sie mich darum schließen mit einigen Versen aus einem der ergreifendsten und schönsten Gedichte dieser Dichterin der großen Trauer, die Verse geschrieben hat, die nicht nur rückblicken, sondern die in die Zukunft weisen, und uns tief befragen:

So lese ich zum Abschluß ein im Jahre 1949 veröffentlichtes Gedicht aus dem Zyklus „Sternverdunkelung“ – mit der Widmung „Dem Andenken meines Vaters“. Da lautet es:

Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht…
mit ihren Worten Wunden reissend
in die Felder der Gewohnheit,
ein weit Entlegenes hereinholend…

Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht
und ein Ohr wie eine Heimat suchten –

Ohr der Menschheit,
du nesselverwachsenes,
würdest du hören?

Wenn die Stimme der Propheten
auf dem Flötengebein der ermordeten Kinder
blasen würde,
die vom Märtyrerschrei verbrannten Lüfte
ausatmete –
wenn sie eine Brücke aus verendeten Greisenseufzern
baute –
Ohr der Menschheit,
du mit dem kleinen Lauschen beschäftigtes,
würdest du hören?

Wenn die Propheten
mit den Sturmschwingen der Ewigkeit hineinführen
wenn sie aufbrächen deinen Gehörgang mit den Worten:

Wer von euch will Krieg führen gegen ein Geheimnis
wer will den Sterntod erfinden?

Wenn die Propheten aufständen
in der Nacht der Menschheit
wie Liebende, die das Herz des Geliebten suchen,
Nacht der Menschheit würdest du ein Herz zu vergeben haben?

Lili Simon, Vortrag, Neue Deutsche Hefte, Heft 200, 4. Quartal 1988

 

WILDWECHSEL

Schweigt still von den Jägern!
Ich habe an ihren Feuern gesessen,
ich verstand ihre Sprache.
Sie kennen die Welt von Anfang her
und zweifeln nicht an den Wäldern.
Zu ihren Antworten nickt man,
auch der Rauch ihres Feuers hat recht,
und geübt sind sie,
den Schrei nicht zu hören,
der die Ordnungen aufhebt.

Nein, wir wollen fremd sein
und erstaunen über den Tod,
die ungetrösteten Atemzüge sammeln,
quer durch die Fährten gehn
und an die Läufe der Flinten rühren.

für Nelly Sachs

Günter Eich

 

 

Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966

Peter Hamm: Besuch bei Nelly Sachs, einer „Schwester Kafkas“

Arne Grafe: „Der Tod war mein Lehrmeister“ Begegnung mit Nelly Sachs – Ein Gespräch mit Gisela Dischner

„Ich habe mich den Gedichten geöffnet, ihren Stimmen und auch ihrem Schweigen“ – Gespräch mit Christine Rospert

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Nelly Sachs

 

 

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Eberhard Haufe: Weltdichtung aus jüdischem Geist
Thüringer Tageblatt, 10.12.1966

Zum 30. Todestag der Autorin:

Hubert Gaisbauer: Der Himmel übt an dir Zerbrechen
Die Furche, 11.5.2000

Zum 125. Geburtstag der Autorin:

Christiana Puschak: Dichterin der leisen Töne
junge Welt, 9.12.2016

Eva Pfister: Lyrikerin und Symbolfigur der deutsch-jüdischen Versöhnung
Deutschlandfunk, 10.12.2016

 

Zum 50. Todestag der Autorin:

Wolf Scheller: Dichterin Nelly Sachs: Mit der Mutter auf der Flucht
Der Standart, 11.5.2020

Marie Schmidt: Vor uns in der blauen Luft
Süddeutsche Zeitung, 11.5.2020

Dina Mastai: „Wir sind die Ränder einer Wunde“
Jüdische Allgemeine, 17.5.2020

Zum 130. Geburtstag der Autorin:

Monika Buschey: Der Geburtstag der Dichterin Nelly Sachs
SR, 10.12.2021

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Friedenspreis +
Archiv + Internet Archive + Kalliope + KLGIMDb + UeLEX
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Nelly Sachs: TAT

 

Nelly Sachs – Ausstellung „Flucht und Veränderung“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00