Nico Bleutge: nachts leuchten die schiffe

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Nico Bleutge: nachts leuchten die schiffe

Bleutge-nachts leuchten die schiffe

dieser modder, modergeruch, beim auf-
stemmen der kästen. das klatschen, kladdern
in den gelenken. alles aus schiebladen
die sechzig jahre nicht geöffnet worden sind
spatkugeln, fleddrige walzen, noch andrer wildigkeit
gedacht, gepolstert vom tag, die flusen, ocker-
gruben. nur hohl und zischend sich die luft
die stumpen noch, gesäuert. daß man es leichter
schaben kann, schiefrig, fast blätterichte
nuß. ertz-blume, herze, schuppenweise zeugs
an den verstand gebracht. in folio, halb
zerscheuert. wie es der geist einbläst, das gefunkel
scharrig wechseln kann, und brei kochen, aus dem nebel
etwas wie goldtinte machen. centner-schwere kristalle
die stundenlang pickern und flattern. nach art der motten
mücken-schwärmer, kletterig, daß man die gegenstände
doppelt sieht. verschoben. gegen wände, aus schnee und
metall. als solle nicht ein stäubchen bleiben. in kladden
ganz an die ohren geschlagen, langsam gesotten
was nicht zu wirbeln glaubt, im hinterkopf, im nacken

 

 

 

Echos und Lesefetzen,

eigene und fremde Stimmen, die sich zu einem Dritten formen. Solche Sprachfunde sind für Nico Bleutge wie Kraftfelder, die seine Aufmerksamkeit bündeln. Den Kern des neuen Bandes bildet ein Zyklus aus zehn längeren Gedichten, die sprachlich und motivisch eng verzahnt sind. Der Bosporus als Sprungbrett: Öltanker und Containerschiffe, die etwas davon erzählen, wie der weltweite Handel die überkommenen Vorstellungen von Zeit, Transport und Geschwindigkeit verändert hat. Erinnerungen aus der Kindheit tauchen auf. Splitter aus Alfred Döblins Berge Meere und Giganten. Ein Reservoir für die Sprach- und Klangwelt der Gedichte: „mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung / ein anderes licht, verwandtschaft von flucht und begreifen / ein zwischending aus gas und flüssigkeit / das die welt umpflügte.“ Mit großer rhythmischer Kraft zeigt uns Nico Bleutge die Zeitschichten und Mehrdeutigkeiten, die in der Sprache versteckt sind – aber auch die Verknüpfungen, Gemeinsamkeiten, die das Gedicht immer wieder aufspüren kann.

C.H. Beck, Ankündigung

 

Im Wort- und Bildgetümmel

„Versenk dich in die Bewegung des Wassers“, beginnt der neue Gedichtband des bildbegabten Nino Bleutge, nachts leuchten die schiffe. Und dieser Appell, dieses Versenk-dich ist hier wie bei Nanne Meyer durchaus als Programm des Sehens wie des Schreibens gemeint. Denn Nico Bleutge geht in diesen, sieben sehr unterschiedliche Zyklen umfassenden, Band der Welt ebenso wie der Sprache in die Tiefe, jenseits, hinter, unterhalb der bekannten, sichtbaren Schichten. Ausgangspunkt ist hier ein Aufenthalt in der Kulturakademie Tarabya: der Blick auf den Bosporus, auf Öltanker und Containerschiffe, die etwas davon erzählen, wie in diesem globalen und digitalen Zeitalter Handel, Transport und Geschwindigkeit ihr Wesen verändert haben. Und die Menschen verändern. Hier und da schauen noch einzelne Bilder aus der (analogen, großelterlichen) Kindheit hervor, etwa die „kleine Waren“ transportierenden Rheinschiffe, auf denen Handtücher und Unterhemden im Wind baumelten. Schon hört man das Tuckern und riecht den Rhein.
In seinem ersten Gedichtband  klare konturen  waren die Bilder noch nach Gedichten fixiert: Jedes in sich abgeschlossen Teil eines „Archiv des Augenblicks“ (Paul Jandl).

klare konturen. das licht
lag hinter den booten, der hafen
hielt die dämmerung fest und die hügel
traten am anderen ufer auf-
gefaltet vors auge

In  nachts leuchten die schiffe  nun hat sich – in diesen fortschreitend sich durchdigitalisierenden Zeiten, in denen die Welt sich immer rapider vernetzt und wir immer mehr gleichzeitig nebeneinander bewegen – die sich verändernde Wahrnehmung auch bei Nico Bleutge in Wort und Bild radikalisiert. Wo bleibt  der Einzelne  in dieser Flut?
In dem neuen Band ist jedes seiner Gedichte ein dicht komponiertes Gewebe aus poetischen Splittern. Wiederholungen jeglicher Art (Alliteration, Metapher, Rhythmus, Binnenreim undundund) sorgen dafür, dass wir unmerklich von einem Splitter zum nächsten gleiten, zwischen Gegenwart und erinnerter Vergangenheit schlingern – und uns darin den Sedimenten aussetzen. Alles ist hier in Bewegung, die Bilder haben nicht nur über die Jahre das Laufen gelernt, sondern jedes Gedicht besteht aus zahlreichen Bild-Containern, die als epiphanische Momente erscheinen. Scharfe Konturen schwinden, die Aggregatzustände lösen sich ineinander auf, man shiftet, Kippbildern gleich, und gleichzeitig werden alle Sinne wach. „meer schien land und land schien meer zu sein“, liest man. Von einem „zwischending aus gas und flüssigkeit“ ist die Rede. Oder:

der wald wächst weiter in dem kind.

Rare Zustände.
Zur besonderen Schönheit dieser Gedichte gehört, dass ihre Anfänge aus einem Abgrund auftauchen: „versenk dich in die bewegung des wassers…“ / „öffne die tür mit ihrem mürben klingen, sieh dir den innendunst an…“ / „jetzt ist die nacht ein geräusch…“ / „irgendwann geben die flocken nach…“ Was so scheinbar unmotiviert entsteht, verschwindet auch meist ohne Punkt und Komma, doch umso sang- und klangvoller. Man höre selbst:

sand streuen, mit einem mürben klingen
die kanalrouten waren den wellen voraus
leichte fahrzeuge bahnten ihnen den weg durch das packeis
wollten die schönheit des neuen kontinents abwarten
die erinnerungen drehen, dehnen sich langsam
als wären sie luftfäden, lebende moostierchen
die wanderbewegungen verloren gegangener
handelsgüter, die das licht des tages aufsaugen
und die frachtarbeiter an deck, ihre grellroten westen
die noch kurz in der dämmerung wachsen 

Eine Passage aus dem ersten Gedicht des Bandes, bei dem man in Gedanken zu dem warmen „goldstromdrift an der südspitze grönlands“ schweift. Ein rhythmisch geführtes Wandern – nicht nur zwischen den Welten, sondern auch zwischen den Klängen, hier unter anderem zwischen dem  w  und dem  f. Man gleitet den Schiffen voraus – vom Sand, übers Packeis, zwischen Moostierchen und grellroten Westen zum gestreuten Licht der Dämmerung, wo – eine der vielen kleinen präzisen Beobachtungen – die Schatten den Menschen immer länger vor sich her werfen. Denn alles ist geschieden und doch verbunden miteinander.
Eingestreut in die Texte sind Worte, Bilder und Rhythmen anderer Zeiten und anderer Schriftsteller und Dichter, Thomas Kling, Alfred Döblin, Georg Trakl wie Marcel Beyer. Denn Sprache ist aus Landschaften und aus Stimmen gemacht, die wir in uns ablagern und anverwandeln. Auch die dänische Lyrikerin Inger Christensen redet mit, die nie den Nobelpreis bekam, was wir dem Komitee nie werden verzeihen können.
„Ich kreise um Zusammenhänge und Unterschiede zwischen den Geschöpfen dieser Erde“, sagte sie einmal und das gilt, wenngleich in ganz anderer Weise, auch für Bleutge. Dort, wo man sich in Bleutges kreisende Sprache versenkt, kommt die Zeit für einen Augenblick zum Stillstand und untergründiges, Abgelagertes, wird sichtbar: eine Seewalze, ein Flußspat oder eine Erdwachse vielleicht – Worte und Dinge aus unserem Sprachschatz, die wir längst ebensowenig kennen wie die Hungerlunger oder die Streunaht. Bleutge hat ganze „erkundungsgeschwader“ aufgeboten, die nicht nur die Welt, die Meere sondern vor allem auch die Sprache im Visier haben, jenes Trisehus (Schatzhaus) der Sprache, das weiter bewegt unsere Verbindung zur Welt immer neu knüpft. Bleutges Gedichtband endet nicht von ungefähr mit Anklängen an das Wörterwerk der Catharina von Greiffenberg, eine Zeitgenössin des Barocks, als die Dichter von dem Wunsch beseelt, das Deutsche auf die Höhe der anderen Kultursprachen zu bringen, die Sprache neu erfanden und formten. Das letzte Bild im Buch ist wie ein künstlerisches Programm, das Dichtung und Zeichnung teilen: Das Bild vom salzhaltigen Quellwasser („die soole“), das durch Steine und Äste fließend sich anreichert und dabei

wie die soole sich konzentrierte
im dauernden tröpfeln
das überflüszige verliert

Dichten wie Zeichnen – beides konzentriert sich und macht sichtbar, was unser Auge oft nicht sieht.

Marie Luise Knott, perlentaucher.de, 18.5.2017

Äußere und innere Landschaften

Seine Gedichte öffnen dem Leser die Sinne“, hat der spätere Deutsche Buchpreisträger Lutz Seiler bereits 2012 über den Dichter Nico Bleutge gesagt. Und weiter:

Sie lassen ihn teilnehmen am Schauen und Lauschen.

In seiner Lyrik begibt sich Bleutge auf Landschaftserkundungen, und zwar sowohl von äußeren Landschaften in der Natur als auch von inneren Landschaften der Seele. Seit seinem Erstling klare konturen 2006 hat Bleutge zwei weitere Gedichtbände und ein Opernlibretto veröffentlicht. Gerade ist sein vierter Gedichtband mit dem Titel nachts leuchten die schiffe erschienen.
Gedankenversunken dasitzen und aufs Wasser schauen, an einer Mole, in einem Hafen, oder von Weitem aus einem Fenster heraus. Vor ein paar Jahren, bei einem längeren Aufenthalt in Istanbul, tat Nico Bleutge genau das, und allmählich formte sich in seinem Kopf eine Idee für einen Gedichtzyklus:

versenk dich in die bewegung des wassers
mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung
ein anderes licht

Den zweiten Vers „mischte sich jenes licht mit dem licht“ – versteht der Leser dabei erst, wenn er innehält, den vorigen Vers noch einmal neu liest, mit neuer Pause, und den Sinn über den Zeilensprung entdeckt:

versenk dich…
in die bewegung des wassers mischte sich jenes licht mit dem licht
erzeugte ihre verbindung ein anderes licht…

Plötzlich wird klar: Wie die Lichtstrahlen, die im schwankenden Wasser aufblitzen, auf den Wellen schaukeln, ebenso schwanken und schaukeln die Verse dieses Gedichts selbst; deuten mit verschwimmenden Worten an, wie Wellen und Licht sich mischen, bewegt von fern vorbeigleitenden Schiffen.
Auf einmal, einige Seiten weiter, in einem anderen Gedicht aus dem Zyklus, der dem ganzen Band nachts leuchten die schiffe den Titel gegeben hat, gleiten die Träume und Gedanken bis in die Kindheit zurück.

(…) wie ein flug von mücken über dem gebüsch
die erinnerungen, aus einem sommer irgendwann

Das Gefühl, das der junge Mann am Ufer des Bosporus hat, scheint ihm seltsam vertraut; so ähnlich hatte es sich doch auch damals angefühlt, als er klein war:

… auf einem recht hässlichen Mietshausbalkon an der Mainzer Uferstraße, mit dem vom Großvater geklauten Fernglas runter auf den Rhein zu schauen… Und gerade so in der Zeit der Dämmerung zu sehen, wie die verschiedenen Positionslichter angehen, rot und grün. Die Tanker, die damals noch viel zahlreicher den Rhein runterfuhren, stundenlang zu beobachten.

Solche Erinnerungssplitter in Sprache zu fassen, in seinen Versen wie helle Funken aufblitzen zu lassen, ist Nico Bleutges große Kunst.

während ich auf den fluß blicke und die frachter höre, ihr
klopfen. schau wie die wärme sich dehnt, schau wie die frachter
auf ihren decks die strahlung mitnehmen
während ich ein paar blätter aufsammle, sie mit der hand
umschließe und ihren duft abwarte
(…)

„Je länger ich schreibe, desto bewusster wird mir immer, dass sehr prägend für die Art, wie ich zum Beispiel auf Sprache schaue, dieser tiefgründige – nennen wir’s mal – ,Erfahrungsspeicher der Kindheit‘ ist…“, erklärt Bleutge, den er stets aufs Neue erkunden muss, um darin in glücklichen Momenten etwas zu finden, das er dann in sensibel verdichteter Sprache ausdrücken kann.
Doch Nico Bleutge belässt es nicht bei der Innenschau, dem Sich-Versenken in die eigene Kindheit. In seine Verse fließen zudem fremde Stimmen ein: Alfred Döblins Roman Berge Meere und Giganten klingt in einigen Zeilen an. So unterschiedliche Autoren wie Reinhard Jirgl und W.G. Sebald, Inger Christensen und Wolfgang Hilbig oder Volker Braun, Marcel Beyer und viele mehr liefern Material. Bleutge schafft daraus Kompositionen aus fremden und eigenen Worten, nach Art des von ihm gleichfalls verwendeten argentinischen Dichters Juan Gelman.
Mal glimmt dieses Sprachmaterial in einzelnen Versen nur auf, mal beeinflusst es den Ton eines Gedichts und wird deutlich heraushörbar. „Stimme tauschen“ heißt – sicher nicht umsonst – ein anderer Zyklus von Nico Bleutges Gedichten.
So ist nachts leuchten die schiffe ein unheimlich dichter, sprachlich virtuoser Lyrikband, der viele Rätsel aufgibt, viel Schönheit in sich birgt und dazu einlädt, Worte zu entdecken wie Grundlawinen, Vorsommernacht, Kalkschatten.

Guido Pauling, NDR, 20.3.2017

Poetische Erkundung der Welt

In seinem vierten Gedichtband  nachts leuchten die schiffe  beschäftigt sich Nico Bleutge mit unserer realen Welt in sieben Zyklen.  Wie ein Jongleur wirft der Lyriker gefundene Wörter in die Luft, fängt sie auf, formt und fügt sie neu. So entsteht ein phantastisches, wahrhaftiges Gedicht, das eingereiht in einen Zyklus, Teil eines klangvollen, rhythmischen, facetten- und farbenreichen Sprachgemäldes wird.
Diese Sprachbilder bezeugen die feine Beobachtungsgabe des mehrfach preisgekrönten Lyrikers, und seine Sprachfunde erregen unsere Aufmerksamkeit.
Am Gestade des Bosporus hat Bleutge während eines Aufenthaltsstipendiums auf die passierenden Schiffe geschaut, hat meditiert und sich inspirieren lassen für seinen titelgebenden Zyklus „nachts leuchten die schiffe“:

und die schiffe werden schneller, laufen deutlicher schwankend
auf der meeresoberfläche wie auf schienen, als wollten sie
die zeit streuen, mit erhöhter umschlagsfrequenz
in die gebäude dringen, die frachthallen sprengen
(S. 9)

In den sieben Zyklen „nachts leuchten schiffe“, „weißes knirschen“, „stimme tauschen“, „flugsand“, „mit lungenschlag und schwarzen flecken“, „grasen mit grisu“ und „gradierwerk“ erzählt Nico Bleutge von stillen und lauten Gewässern, von im Wasser lebenden Pflanzen, von Muscheln und Steinen, aber auch von Menschen, Tieren, Gewächsen und Dingen an Land. Er lässt uns teilhaben an seinen Sinneseindrücken, Wahrnehmungen und Erinnerungen, die bis in die Kindheit zurückreichen.

die erinnerungen drehen, dehnen sich langsam
als wären sie luftfäden
(S. 7)

Ja, die Erinnerungen drehen und dehnen sich langsam bei Nico Bleutge. Das klingt bereits auf der ersten Seite dieses Lyrikbandes an. Der Dichter erwartet Geduld von uns und Zeit. Nur dann können wir

die verwandlung durchspüren
(S. 13):

wenn du lange genug wartest
wachsen die schalen auf dem tisch weiter
und die blätter in der hand werden zu gras
in dem du selber sitzt. Greif ins holz, ein paar fäden
(S. 11)

Viel Licht ist in diesen Gedichten Bleutges zu entdecken. Immer wieder taucht es auf:

als würde das licht sich
verstärken
wege wie luft in den raum zeichnen
(S. 8)

Viel Schatten ist auch dabei:

wahnsinnig einsam
granatfeuer glüht, darin elender frost wohnt
total zerschossen, ohne gefühle
(S. 21)

Natürlich sind auch Schatten zu finden in den Gedichten! Denn die Wörter sind nicht einfach aus der Luft gegriffen: Sie sprechen von den realen Dingen dieser Welt und von deren Verwandlung innerhalb der Zeitläufte und der Zwischen(t)räume.

nie müde werden, bedürftig
selbst als wolf, heißt es, baumrinde fressen
(S. 23)

heißt es zu Anfang eines Gedichts, einer Seite. Und am Ende:

drei fragen stellen. die erste lautet: wie

Nico Bleutge stellt Fragen und stellt fest. Er spricht in leisen Tönen, denen der Leser gut zuhören soll und muss, um sie zu verstehen. Dies auch deshalb, weil der Autor in einer Sprache spricht, die nicht immer leicht zugänglich ist. Doch wenn der Leser sich Zeit nimmt, dann wird er Zugang zu all den Zeitschichten und Mehrdeutigkeiten finden, mit denen der Dichter uns teilhaben lässt an seiner feinfühligen, feinsinnigen Wahrnehmung der Welt. Dieser Zugang wird – wenn erst einmal hergestellt – umso intensiver sein und den Wunsch nach sich ziehen, immer tiefer in diese kraftvollen poetischen Sprach- und Spiegelbilder einzutauchen. Einzutauchen in diese Bilder, die Altes aufgreifen (auch Worte fremder Dichter) und Neues (wie die Verwandlung des einstigen Sehnsuchtsortes Meer) einfügen.
Wer sich auf die poetischen Spiele des Dichters einlässt, wird reich belohnt. Zu Recht gehört nachts leuchten die Schiffe zu jenen zehn deutschsprachigen Lyrikbänden, den ein erlesener Kreis von Kritikern und Lyrikern zu den besonders empfehlenswerten Lyrikbänden 2018 gewählt hat. Diese alljährlich im März erscheinenden Lyrik-Empfehlungen werden herausgegeben von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Stiftung Lyrik Kabinett und dem Haus für Poesie in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bibliotheksverband. Eine hochkarätige Jury also, auf die man sich getrost verlassen darf. So auch im Falle Nico Bleutge, dessen große, rhythmische Kraft den Leser gefangen nimmt.
Es sind unter anderem die Übergänge zwischen Tagzeit und Nachtzeit, zwischen hell und dunkel, die Bewusstseinsgrenzen zwischen Traum, Schlaf und Wachzustand, die uns in diesen Texten ebenso berühren wie der ewige Kampf zwischen Mensch und Natur. Große Namen der literarischen Tradition wie Alfred Döblin, Annette von Droste-Hülshoff, Heiner Müller oder Inger Christensen haben Eingang in Nico Bleutges Texte gefunden und können herausgelesen werden. Doch das muss der Leser gar nicht: er zieht dennoch großen Gewinn aus der Lektüre. Manche Wörter muss man zwar googeln, um den Kontext zu verstehen. Doch auch das ist ein Gewinn, lohnt sich also. Was man nicht muss: bei jeder Zeile nach dem Sinn fragen. Man kann sich getrost vertrauensvoll dem Fluss dieser Verse hingeben.
Nico Bleutge ist zu Recht ein vielfach ausgezeichneter Lyriker. Wobei er die Preise sicherlich nicht erhalten hat, weil er es den Lesern leicht macht, seine Gedichte zu lesen, zu lieben, zu verstehen. Eher aus folgenden Gründen: Bleutge verstehe „sich auf eine poetische Erkundung vornehmlich von Licht und Wasser, auf die Verwandlung poetischer Romantik ins Gebrauchsformat von Industriezonen, Stückverkehr und Transportmonstern. Das Wetterleuchten auf globalen Wegen mischt sich mit Seelenechos aus der Kindheit, das Zitatgemurmel fremder Stimmen mit eindrücklichen eigenen Bildern. Nico Bleutge arbeitet an einer poetischen Übung im Lauschen und Memorieren, an einer modernen Erfahrungsseelenkunde, die sich auch der Technik und dem Gestaltwandel der sprachlichen Bilder öffnet.“ So formulierte es die Jury des mit 20.000 Euro dotierten Kranichsteiner Literaturpreises. Diesen Preis erhielt Nico Bleutge 2017 für sein lyrisches Werk vom Deutschen Literaturfonds für sein bisher vier Bände umfassendes lyrisches Werk unter besonderem Augenmerk auf die neueste Sammlung nachts leuchten die schiffe. Zu Recht: Diese Gedichte sind ein Gewinn.

Marion Hinz, kultur-port.de, 16.4.2018

Drachenherzen schlagen höher

– Gedichte sind vor allem erst einmal Klang, und den beherrscht Nico Bleutge wie kaum ein anderer Lyriker. Sein jüngster Band nachts leuchten die schiffe beschreibt eine Erde, auf der nicht immer leicht zu gehen ist. –

In der Mitte dieses Buches angekommen, nimmt man auf einmal zur Kenntnis, dass man gerade auffallend viele Gedichte gelesen hat, in denen Wörter mit einer Stammsilbe auf i den Ton bestimmen. Man blättert noch einmal zurück, und ja, es ist so, und es ist, „als ginge ein Blitz durch die Stirn“. Es ist vermutlich ein Befund ohne Bedeutung, aber es ist ein Verweis auf die sprachliche Materialität dieser Lyrik. Auf eine sehr subtile Weise nutzt sie auch immer mal wieder die assoziativ verbindende Qualität des Reims, ob er sich mitten im laufenden Text meldet oder halb verborgen, wenn die „landschaften“ die „strandschatten“ herbeirufen oder ein langes Stück so beginnt: „nie müde werden“, und dann schließt mit „drei fragen stellen. die erste lautet: wie“.
Dies ist der vierte Gedichtband von Nico Bleutge, schmal wie seine Vorgänger, durchgehend in Kleinschrift gehalten, und auch dieses Mal sind die Gedichte in Zyklen gebündelt. Wie zuvor findet sich auch hier vor dem Inhaltsverzeichnis eine Liste mit Verweisen auf Kollegen vergangener Jahrhunderte, die etwas in diesen Gedichten angestiftet haben, ihren Ton mitbestimmen oder mit kursiv gesetzten Zitaten auftreten. Lyrik entsteht ja oft durch die Lektüre anderer Lyrik, auch wenn sie sich dann auf ganz andere Wege begibt, und Bleutge, der ja immer wieder als aufmerksamer und gerechter Kritiker arbeitet, kennt sich aus. Er verkompliziert damit nichts, er legt nur Karten auf den Tisch.
Anlass zu diesen Gedichten sind oft Reisen, sei es aus eigener Neugier, als geladener Stipendiat oder als Schüler auf Klassenfahrt. Nico Bleutge ist gebürtiger Münchner und hat doch oder deswegen eine starke Neigung zum Meer. Und wo er hinkommt, da schaut er sich, ernst, wie er ist, gewissenhaft um. Sein beim Schauen in die Natur geschulter Blick nimmt die Elemente wahr, aber auch zunehmend die Verletzungen der Geschichte vor Ort. Egal oder eben nicht egal, ob er in Istanbul unterwegs ist oder anderswo in der Türkei, in Polen, in Sachsen, in Russland, in Afrika oder in der Schweiz, diese Gedichte sind immer „inmitten von Zeit“, wie es einmal heißt. Und die Wahrnehmung der Geschichte, der man sich nicht entziehen kann, ist ja immer beunruhigend, bedrängend oder bestürzend, was dann auch heißen kann:

herbstbläue
blankes schauen. Ihr liegt nun hinter mir

Aufrecht und aufrichtig entwirft Bleutge eine Welt, die eher nach Eisen, Salz und kühlem Wasser schmeckt (also auch nach Rost) als nach reifer Birne oder gar schäumendem Bier. Und doch wird es gegen Ende des Bandes auf einmal vielleicht nicht heiterer, aber lustiger, wenn sich der Autor in der Verkleidung als kleine italienische Comicfigur Grisu wie ein Hausdrache aufführt und am Herd ein Paar zusammengerührt wird. Es klingt, als wolle der Autor sich selbst anfeuern:

ein rechtes drachenherz
muss höher schlagen.

Und kurz bevor es bald darauf, heimlich reimend, heißt: „ich möchte / feuerreiter sein“, ruft er sich zu: „ich dummkopf falle // wieder auf die schönen worte rein“ – Dummkopf hin, Dummkopf her, bei Gedichten sind wir alle auch Dummkopf, was Besseres kann uns da gar nicht passieren.
Nico Bleutges Gedichten sollte man so entgegenkommen wie sie uns: geduldig, neugierig auf Reales, nicht selbstverliebt. Dann öffnet sich der Blick auf eine Welt, die zunächst einmal Erde ist, auf der das Gehen nicht immer leichtfällt. Auch wenn man immer wieder googeln muss, um sicher zu sein, warum ein bestimmter Ortsname in einem Gedicht aufscheint, und auch wenn sich nicht jeder Vers auf den ersten Blick erschließt, es lohnt sich sehr, sich darauf einzulassen. Ehe sie eine Botschaft artikulieren, sind diese Gedichte nach schönster Tradition immer wieder Musik. Sie holen uns beim (am besten lauten) Lesen zu sich. Gedichte verstehen heißt auch hier erst einmal, sie in sich zum Klingen zu bringen. Verstehen beginnt mit Klang und führt dann zur Einsicht. Nico Bleutge versteht das auf einnehmende und überzeugende Weise wie wenige.

Jochen Jung, Die Zeit, 31.5.2017

Zeit streuen, Frachthallen sprengen

– In seinem neuen Gedichtband nachts leuchten die schiffe folgt Nico Bleutge dem Takt der physischen Welt. –

„Versenk dich“ und „öffne die tür“, diese zwei Imperative ziemlich am Anfang des ersten von Nico Bleutges sieben Gedichtzyklen geben vielleicht einen Hinweis darauf, wie hier in der Folge gesprochen wird. Es sind keine Befehls-, sondern eher Ermahnungs- oder Ermunterungsformen, an die eigene und alle Adressen. „Versenk dich in die Bewegung des Wassers“, und dann sieh zu, wie sich innere und äußere Anmutungen mischen und ein Text Fahrt aufnimmt, der vieles mitnimmt und von vielem affiziert  wird.
Das Mitnehmen von Fremdmaterial hat bei Bleutge, hier wie den drei vorangegangenen und viel gelobten Gedichtbänden, Methode. Die Gedichte schlössen, so heißt es in einer Anmerkung am Ende, „ganz unterschiedliche Materialspeicher auf“. Es geht um „Hintergrundstimmen“, um „Überschreibungen“ und „Pastiches“, mal von Alfred Döblin, mal von Droste-Hülshoff, Heiner Müller oder Inger Christensen. Große Namen der literarischen Tradition haben auf eine vertrackte Weise Eingang in Nico Bleutges Texte gefunden und können aus ihnen wieder herausgelesen  werden.
Man muss das nicht wissen, um an diesen Gedichten ein sinnliches und intellektuelles Vergnügen zu erleben. Man kann sich der Bewegung dieser Verse überlassen und ist gut beraten, nicht nach jeder Zeile nach dem Sinn zu fragen – zumal wenn eine Zeile gerne mit der nächsten verschwimmt:

versenk dich in die bewegung des wassers
mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung
ein anderes licht

In die Bewegung des Wassers mischte sich also jenes Licht mit dem Licht? Und erzeugte jenes Licht ihre Verbindung, oder erzeugte ihre Verbindung ein anderes Licht? Stellen wir uns einfach vor, das Verschwimmende sei der Bewegung des Wassers  geschuldet.
Am Gestade des Bosporus hat Bleutge ausdauernd auf die passierenden Schiffe geschaut und ihnen ein kleines Epos des globalen Schiffsverkehrs abgewonnen.

und die schiffe werden schneller, laufen deutlicher schwankend
auf der meeresoberfläche wie auf schienen, als wollten sie
die zeit streuen, mit erhöhter umschlagsfrequenz
in die gebäude dringen, die frachthallen  sprengen

Im Glücksfall folgen diese Gedichte dem Takt der physischen Welt, weder bloß sprachliche Tatsachen noch bloß Darstellung von etwas, das auch ohne sie existiert, sondern Früchte einer Versenkung, die für den Schreibmoment Welt und Sprache miteinander in Einklang bringt. Das kann natürlich auch scheitern, nämlich dann, wenn die Sprache nicht nah genug an den Tatsachen bleibt und ihr das materielle Gegenüber aus dem Blick  gerät.
Damit ist nichts gegen objektive Dunkelheiten gesagt, wie etwa in den Versen „als ob die stimme / abwärts ginge, richtung / schletten, richtung schluff“. „Schletten“ bedeutet salziges Wasser, haben wir nachgeschlagen, „Schluff“ sind „unverfestigte klastische Sedimente“. Wir sehen hier immerhin die Sprache allmählich im Erdreich versinken, während wir bei einer anderen Zeile nichts mehr sehen:

nur ohr sein
für die masern im holz, an den stauungen wachsen
anbranden, im drehen, gelöst zu flachem staub
verwandelt in nichts als  streuung.

Schon anderswo hat Bleutge mit der Vokabel „streuen“ operiert, kein Zufall wohl, ihn beschäftigt alles, was mit Verteilung, Verbreitung, Dispersion, Verstreuung, Zerstreuung zu tun hat. Hier wollen wir aber gerne einmal buchstäblich verstehen. Also:

Verwandelt in nichts als Streuung

Wer oder was kann in Streuung verwandelt sein, und zwar sogar in „nichts  als“?
Vielleicht hängt die Idee der Verwandlung zu stark von der Gegebenheit einer bestimmten, wandelbaren Gestalt ab, als dass wir die Streuung als Zielgröße einer Verwandlung nachvollziehen könnten. Entweder stimmt also etwas mit der Verwandlung nicht, oder aber mit der Streuung, und in jedem Fall erscheint uns das feierliche „nichts als“ an dieser Stelle etwas überflüssig  hingesetzt.
Es spricht allerdings für diese Gedichte, dass sie einen, anders als viele andere Exempel der Gegenwartslyrik, nur selten zu dieser Art Protest einladen. Nicht ins Sprach-Laboratorium geht hier die Fahrt, sondern in die weite Außenwelt der wirklichen Dinge, um dort mit ihr die innigsten und verwickeltsten Korrespondenzen  aufzunehmen.

Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung, 18.7.2017

Die Verse speichern das Licht

– Am Bosporus berauscht sich der Lyriker Nico Bleutge am Leuchten der Schiffe und schreibt Gedichte von funkelnder Klarheit. –

Zu seinem Lieblingsgedicht hat der Lyriker Nico Bleutge einmal einen Text des Barockpoeten Daniel Casper von Lohenstein erklärt. Es trägt den Titel „Die Augen“, ist Mitte des 17.  Jahrhunderts entstanden und handelt davon, was Dichtung und bildende Kunst verbindet. Von Lohenstein vergleicht hier die Augen der Poesie wie auch der Kunst mit „Brenne-Spiegeln“, die „übers Meer entfernte Seelen anzünden“.
Dieser poetische Verzauberungsprozess des Entzündens von Lichtquellen und von nahen und fernen Seelen vollzieht sich auch in den Gedichten Bleutges. Was er in seinem neuen, mittlerweile vierten Gedichtband nachts leuchten die schiffe versammelt, sind dicht geflochtene Gewebe aus Wahrnehmungsekstasen, die sich einer lyrischen Elementarkunde verdanken, an deren Anfang ganz buchstäblich ein „Lichtanzünden“ steht.
In einem Gedicht auf Fotografien der Künstlerin Karin Szekéssy werden hier etwa in einer suggestiven Aufzählung die diversen Lichtveränderungen auf den einzelnen Exponaten aufgerufen. An einer Stelle wird auch die englische Vokabel „glister“ evoziert, was im Deutschen funkeln, glitzern oder gleissen bedeutet.
Dieses Funkeln und Glitzern der poetischen Textur ist zum Bildprogramm des Dichters Nico Bleutge geworden. Die sieben Kapitel seines neuen Buches werden mit einem Zyklus auf das Element Wasser eröffnet, dem sich der Autor auch schon in seinen vorangegangenen Gedichtbüchern mit grosser Leidenschaft gewidmet hat.
Im Gestus der imperativischen Selbstanrede, den er häufiger in seinem Band einsetzt, markiert Bleutge zunächst seine ästhetische Glaubensformel:

versenk dich in die bewegung des wassers
mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung
ein anderes licht, verwandtschaft von flucht und begreifen
ein zwischending aus gas und flüssigkeit,
das die welt umpflügte.

Der lyrische Wahrnehmungsphänomenologe Bleutge hat sein beobachtendes Subjekt hier am Bosporus installiert, wo der Autor einige Monate als Stipendiat der Kulturakademie Tarabya bei Istanbul verbracht hat. Diese Bewegung der vorbeiziehenden Schiffe, ihr Dahingleiten auf der hellen Wasserfläche ist aber nur der Ausgangspunkt für eine staunenswerte dichterische Expedition durch Naturstoffe, Lichterscheinungen, Aggregatzustände von Pflanzen, Mineralien und Steinen, bis sich das nur als Kollektor von Sinneseindrücken anwesende Ich in diese Phänomene selbst aufzulösen scheint:

sei gischt
mit impulsen, sei staub, in nichts, ein büschel
wärme, versuche dorn zu sein und federn
oder das pulver, das er dir reicht.

Als Spezialist für die feinfühlige Wahrnehmung der Dinge lädt Bleutge seine filigranen Texturen mit Synästhesien auf, ein romantisches Verfahren, das nicht nur verschiedene Sinneswahrnehmungen koppelt, sondern auch die Grenzen zwischen dem beobachtenden Ich und den Gegenständen auflöst.
Aber auch politische Ereignisse blitzen auf, wenn im Gedicht „rodung“ ein brutaler Polizeieinsatz in Istanbul mit Trakl-Zitaten kommentiert wird. Von Kapitel zu Kapitel arbeitet sich der Autor wie ein lyrischer Archäologe immer weiter vor in die Tiefenschichten der evozierten Naturdinge, in geologische, botanische und maritime Systeme, daneben auch immer stärker in die Morphologie der Wörter, die als Klänge und Schwingungen ihre Sinnlichkeit entfalten.
In zwei Kapiteln sind es Fremdstimmen und Zitate von Marcel Beyer, Georg Trakl, Annette von Droste-Hülshoff, W.G. Sebald oder Inger Christensen, aus denen Bleutge Material für die eigene Poesie der feinstofflichen Substanzen gewinnt.
Danach tastet er sich zur Königsdisziplin der Gattung vor, dem Sonettenkranz, den er formal eher freizügig handhabt, indem er auf die gewohnte Reimstruktur verzichtet. Diese Gedichte, die „nur in Zungen reden“ wollen, entfernen sich immer weiter von einer wiedererkennbaren Lebenswelt, lesen sich eher wie ein autonomer Organismus aus vokabulären Energiefeldern.
Man folgt fasziniert diesen polyfonen Stimmen-Montagen, auch ihren Quergängen ins Hermetische, die schliesslich in die Innenwelt der Sprache führen. So wird zum Beispiel das Wachstum von Pflanzen mit der Berührung alter Folianten und Schreibblätter gleichgesetzt.
Am Ende fasst der Autor den beglückenden Rausch des Schreibens und des Entstehens von Gedichten in ein geistliches Chorlied – in ein Lied vom Glück der Poesie:

ich teile diese stunde, ich
teile diesen tag, in silben
und in runden, die ich nur

zählen kann. die spitzen,
sagst du, spitzen, die wirbeln
nicht vorbei. gib mir den schlag,

gib pfunde. da waren’s nur noch
zwei. gedanken, keine silben,
mach hitze mit hinein.

Michael Braun, Neue Zürcher Zeitung, 21.4.2017

Große Lyrik mit Herzfehler

(…)

Außergewöhnlich auf ganz andere Weise als Popps überschäumendes und bildreiches Werk ist der vierte Band des 1972 geborenen Nico Bleutge. nachts leuchten die schiffe, so sein Titel, hat auch dem ersten von insgesamt sieben Zyklen dieses Bandes den Titel gegeben. Eingeflossen in diese Gedichte sind unter anderem die Eindrücke, die Bleutge während eines Stipendienaufenthaltes im historischen Istanbuler Viertel Tarabya sammelte. Der Blick des Autors auf die vorbeiziehenden Schiffe auf dem Bosporus, die Erinnerung an Rheinschiffe, die Bleutge als Kind in Mainz den Rhein hinunterfahren sah, aber auch Versatzstücke aus Alfred Döblins dystopischem Roman Berge Meere und Giganten und Juan Gelmans Kom/positionen – „Hintergrundstimmen“, wie der Autor selbst diese Lektürespuren in einer Nachbemerkung nennt – werden zum Material dieser Gedichte, in denen das Subjekt weitgehend zurückgenommen ist. Es wirkt hier eher wie ein Flussbett, durch das Bilder und Erinnerungen treiben. Die Verben sind häufig nicht flektiert, was in Verbindung mit diesem diskreten Subjekt ein eigenartiges Gleiten des Tons erwirkt, der aus klanglichen Ähnlichkeitsbeziehungen und wiederkehrenden Motiven seine Dringlichkeit bezieht:

versenk dich in die bewegung des wassers
mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung
ein anderes licht, verwandtschaft von flucht und begreifen

ein zwischending aus gas und flüssigkeit
das die welt umpflügte. die wellen verstehen

so wie ein tanker durch die helle wasserfläche gleitet

Beate Tröger, Der Freitag, 19.4.2017

Unausgesprochen bleibt das Gedicht nur bei Heidegger

– Nico Bleutge bringt mit nachts leuchten die schiffe seine Lyrik auf einen neuen Gipfel. –

Der Imperativ der Innovation hat die Kunst fest im Griff. Er fordert, dass der einzelne Künstler sich mit jeder Arbeit neu erfindet. Der Tanz um das Goldene Kalb der Innovation macht vergessen, dass sich große künstlerische Qualität gerade auch durch Kontinuität und Wiedererkennbarkeit auszeichnet.
Für die Lyrik hat die am eindrücklichsten Martin Heidegger theoretisch entfaltet. In „Die Sprache im Gedicht“ behauptet Heidegger pointiert:

Jeder große Dichter dichtet nur aus einem einzigen Gedicht.

Als Maßstab für die Größe eines Dichters gilt ihm, ob der sich dem Einzigen anvertrauen kann, dass er sein „dichtendes Sagen“ rein darin hält. Ein großer Dichter leidet demnach unter Einflussangst, die sein Sagen verwässern würde. Der Clou von Heideggers Konzept ist:

Das Gedicht eines Dichters bleibt unausgesprochen.

Weder die einzelne Dichtung noch alle Gedichte insgesamt sagen alles. Trotzdem bildet das eine unausgesprochene Gedicht den Quell für immer neue Wogen der Sprache, die ihrerseits, die Quelle verschleiernd, zurückfließen. Aus dem Hin- und Herfließen der Sprachwogen erklärt Heidegger ganz nebenbei noch das Rhythmische poetischer Sprache. Es geht hier nicht darum, Heideggers Ontologie der Dichtung neu zu beschwören. Sondern den künstlerischen Innovationsdruck mit alternativen Konzepten in Balance zu bringen.
Aus diesem Gleichgewicht lässt sich die poetische Qualität von Nico Bleutges viertem Gedichtband in den Blick nehmen. Bleutge gehört seit seinem Lyrikdebüt Klare Konturen von 2006 zu jener Gruppe von Autoren, deren poetisches Vermögen in höchsten Tönen gelobt wird. Als er nach fallstreifen (2008) vor vier Jahren seinen dritten Gedichtband, verdecktes gelände, veröffentlichte, kamen allerdings erste Stimmen auf, ein Künstler seines Ranges müsste sich doch langsam mal neu erfinden. Mit dem Erscheinen des vierten Bandes, nachts leuchten die schiffe, lässt sich sagen, dass Nico Bleutge beharrlich, klug, wortgewandt und elegant an seinem einzigen Gedicht weiterdichtet.
Alle charakteristischen Züge seiner Poesie sind erhalten geblieben. Wie ein vertrautes Gesicht in der Menge, so würde man auch ein Bleutge-Gedicht sofort wiedererkennen. Bei seinen Texten steckt die Poesie im Detail. Seine Verse bestechen durch ihre Beschreibungsgenauigkeit, die sich zu immer feineren Detailaufnahmen verästeln, ohne je die Komposition zu irritieren. Seine Gedichte folgen stets einem Primat des Sehens. Eine Fülle optischer Eindrücke überlagert die anderen Wahrnehmungsformen, ohne sie gänzlich auszuschalten. Gegenstände dieser kleinen Perzeptionen sind alle Phänomene, die sich in immer winzigere Wahrnehmungspartikel zerlegen lassen. Der traditionsreichste Ort für solche Sehstücke ist der Blick auf die hohe See. Schon sein Debüt eröffnete er mit den Versen:

über dem strich der mole. einzelne punkte, das wasser
glimmt gelb auf, wenn sie sonne durch die wolken
flüstert.

Der erste Vers seines neuen Bandes lautet:

versenk dich in die bewegung des wasser

Man kann sich die Grundfigur dieser Beobachtungsstudien so vorstellen, als wären sie aus der Perspektive von Caspar David Friedrichs Figuren geschrieben. Aber bei Bleutge, das ist das radikal Gegenwärtige seiner Konzeption, hat sich diese Perspektivfigur vollständig aufgelöst. Die Erlebnisstruktur trägt die Gedichte weiterhin, aber es findet keine Psychologisierung, keine Verrechnung des Gesehenen auf Gedanken oder Gefühle hin statt. Vielmehr wirkt es, als würden die Eindrücke auf einen mit Gedichten vollbesetzten Resonanzraum treffen, in dem jede Schwingung eine Antwort eines vorhandenen Gedichts, einer Zeile, eines Rhythmus auslöst. Die letzten Gedichte des neuen Bandes, die unter dem Titel „gradierwerk“ firmieren, führen Bleutges glorreiche Trias aus Beobachtung, Sinnesverfeinerung und Resonanz noch einmal eindrücklich vor Augen. Wie sich die Sole beim Durchfluss durch die Zweige und Äste anreichert, so reichert sich auch die Sprache an:

schwarzdorn, geschichtete bündel, reisig
über das wasser rinnt, im rieseln, rieselnde
tropfen, ein dauerndes plitschern, fast
knisterndes drippeln, über die zwei-
die zweige hinweg.

Knisterfein fließt Bleutges Sprachbewegung durch das Material, das in diesem Fall von Regina von Greiffenberg und Thomas Kling stammt. Zugleich aber dringt – so gasförmig kann flüssig werden – die Salzluft in den Beobachter ein, der in diesem Fall auch der Leser ist:

salzluft, von kristallen durchwehte
atmung, winzige tropfen, calcium, mangan,
wie von windhauch bewegte lunge
heiseres flüstern.

Von der Atmung gewendet in das Sprechen, so gewinnt Celans Atemwende bei Bleutge neue Gestalt. Alles ist an seinem Ort in diesem kristallklaren Gedichtband. Das Meisterstück und größte Wagnis dieser Arbeiten aber ist das einleitende Langgedicht: „falte legt sich über falte“. Bleutge überlagert darin so konsequent wie noch nie zuvor die Beobachtung mit Erinnerungen. Zwei Zeitformen sowie ein momentanes Erlebnis und eine zeitlose Ursprungsphantasie ragen ineinander, und der Text versucht eindringlich, die sonst so sichere Distanz zwischen Beobachter und Beobachtetem aufzulösen. Damit eröffnen sich faszinierende Facetten des einen, unausgesprochen bleibenden Bleutge-Gedichts. Sie waren so bislang noch nicht zu beobachten und zeugen von einer bewundernswerten Gabe: der Innovation in der Kontinuität.

Christian Metz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13,4.2017

Schreiben in konzentrierter Euphorie

– Nico Bleutge wurde 1972 in München geboren, in Tübingen hat er Neuere Deutsche Literatur, Allgemeine Rhetorik und Philosophie studiert. Heute lebt er in Berlin. 2006 erschien sein erster Gedichtband klare konturen, der sehr viel Lob von der Kritik bekam. fallstreifen erschien zwei Jahre später, 2013 verdecktes gelände. Bleutge hat viele Literaturpreise gewonnen, unter anderem den Anna-Seghers-Preis, den Eichendorff-Preis, aber auch den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik, denn Nico Bleutge ist nicht nur Dichter, sondern auch Literaturkritiker für mehrere Zeitungen. Nun ist sein neuer Gedichtband nachts leuchten die schiffe erschienen. NDR Kultur hat mit ihm zum Welttag der Poesie gesprochen. –

Natascha Freundel: Herr Bleutge, Ihre Gedichte begeben sich in sprachliche Landschaften hinein und laden dazu ein, sich darin zu verlieren. Wie entsteht Ihre Lyrik?

Nico Bleutge: Das ist ganz unterschiedlich. Das hat sehr viel damit zu tun, wie ich gewissermaßen durch die Welt gehe. Und dann sind es oft Sprachzeichen, kleine Beobachtungen, die sich absprengen können. Sehr viele Impulse gewinne ich aber auch aus eigener Lektüre. Nicht nur von Gedichtbänden, sondern gerade auch von Prosatexten. Dann kann es ein kleines rhythmisches Muster sein, ein Satz, der sich absprengt, in dem wirklich Sprache und Wahrnehmung ganz eng miteinander verknüpft sind. Und diese Sachen speichern sich im Hinterkopf ab. Manche vergesse ich, manche melden sich wieder. Das ist gewissermaßen die Inkubationszeit vor dem eigentlichen Schreiben. Und bei denen, die sich immer wieder melden, merke ich dann ab einem gewissen Punkt: Dem muss ich jetzt mit der Sprache weiter nachhorchen, nachtasten, und das kann der Anfangspunkt für ein neues Gedicht sein.  

Freundel: „nachts leuchten die schiffe“ ist das erste von sieben Langgedichten in Ihrem neuen Buch. Es nimmt insgesamt zehn Seiten ein. Wie lange arbeiten Sie an so einem Gedicht und wann haben Sie das Gefühl: So ist es gut, jetzt ist es fertig?

Bleutge: In diesem konkreten Fall war es so, dass ich das Glück hatte, auf einem längeren Aufenthalt in Istanbul zu sein. Und das ist tatsächlich aus der sehr konkreten Beobachtung, fast schon Meditation entstanden, die Containerschiffe und Ölpötte zu betrachten, die da tagein, tagaus den Bosporus rauf- und runterfahren. Und ich habe dann angefangen, sehr viel nachzudenken: Was ist eigentlich ein Container? Wie hat der Container die Wirtschaftsordnung verändert? Und was ist die Kippseite des Ganzen? Zum Beispiel Menschen, die ihre Länder verlassen müssen, weil Konzerne dort Rohstoffe abbauen. Das hat sich noch verknüpft mit Kindheitserinnerungen und natürlich mit Erfahrungen aus Lektüre, etwa von Alfred Döblins Prosagiganten Berge Meere und Giganten. Das Werk ist eine gewaltige Dystopie über eine Natur, die irgendwann zurückschlägt.
Ich habe mir dann für jedes Stück einen neuen Stoff herausgesucht. Irgendwann war auch klar, dass ich an einem sehr streng gebauten Zyklus arbeite: Jedes der zehn Gedichte hat genau 25 Zeilen in unterschiedlichen Variationen. Und dann schrieb ich anhand der jeweiligen Stoffe die Stücke über einen sehr langen Zeitraum hinweg, so dass die Dinge auch gut einsickern und abhängen konnten. Und nach zwei Jahren war dieses doch sehr anstrengende Unternehmen – anstrengend, weil der Zyklus eben sehr stark mit Variationen und Wiederholungen arbeitet – dann endlich fertig.

Freundel: Sind Wörter für Sie gewissermaßen auch Container für verschiedenste Assoziationen und weitere Räume, die sich öffnen?

Bleutge: Ja, das ist das Wunderbare an Wörtern: Dass sie sich eben nicht nur, wie es oft im Alltag oder in den Medien passiert, auf Eindeutigkeit verkürzen lassen. Das Schöne ist ja, dass Sprache viel mehr schillert und jedes Wort ganz unterschiedliche Bedeutungsnuancen hat, einen Hof aus Klang und rhythmischen Nuancen. Jedes Wort ist auch mit eigenen Assoziationen, die bis in die frühste Kindheit zurückreichen können, verbunden. Und diese Vielschichtigkeit der Sprache in einem Gedicht spielen zu lassen, indem man die verschiedenen Momente, Bedeutungsebenen, Klänge und Rhythmen miteinander in Verbindung bringt, sie näher aneinander rückt und wieder voneinander trennt: Das ist der große Reiz am Schreiben von Gedichten.    

Freundel: Sie verzichten in Ihren Gedichten weitestgehend auf ein lyrisches Ich. Warum ist das so?

Bleutge: „Verzichten“ klingt für mich nach einer bewussten Entscheidung. Das war tatsächlich so, dass dies bei mir aus der Schreiberfahrung her kam. Also in den glücklichsten Momenten des Schreibens   das sind natürlich die wenigsten – ist es so, dass man in einer Art meditativem Zustand oder einem Zustand der Selbstversenkung ankommt. Ich habe das mal versucht mit dem Begriff „konzentrierte Euphorie“ zu beschreiben. Man ist mit all seinen Sinnen sehr geöffnet für die Dinge, kann aber immer wieder mit seinem Denken sehr klar darauf zurückgreifen. Und in diesem sehr schwebenden, sehr freien Zustand gibt es für mich einfach nicht die Vorstellung eines Ichs, welche immer etwas sehr Positionierendes, vielleicht auch mit Herrschaft Verbundenes hat. Und das ist in die Gedichte reingerutscht, diese Offenheit für Phänomene der Sprache, die dieses Zentrum eben nicht braucht.
Ich habe in dem neuen Band das Ich an einigen Stellen sehr bewusst eingesetzt. Das ist natürlich kein autobiographisches Ich, sondern eine Art Sprechposition, durch die ganz unterschiedliche Stimmen kommen können. Aber es war spannend, das mal ganz bewusst in die Arbeit einzubeziehen.

Freundel: Wenn Sie „ich“ schreiben, dann heißt es zum Beispiel „ich will der heizer sein und stille feuer legen, die ich nicht sehen kann“. Oder: „ich will flammen, will der speisemeister sein“ – das erinnert so an Hexensprüche, als sei das Dichten für Sie gewissermaßen eine Zauberei. 

Bleutge: Also in dem konkreten Fall ist es so, dass dies eine Auftragsarbeit war, die unter anderem zu dem Komponisten Friedrich Silcher und zu Eduard Mörike und dessen berühmten Gedicht „Der Feuerreiter“ hinführte, das auf eine Art ja sehr viel mit Hexerei zu tun hat. Aber natürlich ist der Dichter immer auch ein Sprachalchemist, der verschiedene sprachliche Möglichkeiten reagieren lässt, in Verbindung bringt und daraus seine poetischen Funken schlägt. Und das ist natürlich das Tolle, dass man da als derjenige, der das macht, oft überhaupt nicht weiß, was hinterher rauskommt und sich selber überraschen lassen kann von den Reaktionen, die entstehen.

NDR.de, 21.3.2017

„Das Gedicht unterläuft alle Trennungen“

– nachts leuchten die schiffe heißt das neue Buch des Lyrikers Nico Bleutge. Bei der Stuttgarter Lyriknacht an diesem Freitag wird er daraus lesen. –

Holger Heimann: Herr Bleutge, immer wieder hört man, es gäbe einen Lyrikboom in Deutschland. Wie sehen Sie das?

Nico Bleutge: Seitdem ich in diesem Literaturbetrieb bin, gibt es jedes Jahr mindestens einen Artikel, der den Lyrikboom beschwört. Da liegt die Vermutung nahe, dass nicht ganz so viel Substanz dahinter steckt. Was es definitiv gibt, ist eine Szene von Schreibenden, die sich entwickelt hat – mit vielen unterschiedlichen Schreibweisen und einem großen Bewusstsein davon, was es heißt, Lyriker zu sein. Ein Lyriker schreibt ja nicht nur Gedichte, sondern macht sich auch über die Vermittlung von Lyrik Gedanken. Die Kehrseite ist, dass sich die Rezeption in der Öffentlichkeit und auch in den Medien mit Sicherheit nicht verbessert hat. Vor allem aber: Das Wissen darum, was ein Gedicht ist und kann, ist denkbar gering – vor allem an Schulen und Universitäten.

Heimann: Haben Sie da selbst Erfahrungen gemacht?

Bleutge: Ja, ich kenne das von Lesungen an Schulen. Dabei sind gerade jüngere Schüler eigentlich sehr offen, wenn man ihnen entgegenkommt, Hürden abbaut und ihnen erklärt: Ihr könnt erst einmal alles zu dem Gedicht sagen, was ihr wollt. Das macht ihnen sogar großen Spaß. Aber viele Lehrer haben sehr große Probleme mit Lyrik, sodass gerade das Gedicht, das ja der Inbegriff von Offenheit und Vieldeutigkeit ist, für genau das Gegenteil missbraucht wird, nämlich dafür, ihm eine bestimmte, fast kanonisierte Interpretation aufzudrücken. Die ganze Beschäftigung mit Lyrik in der Schule läuft oft auf die dämliche Frage hinaus: Was will uns der Autor eindeutig damit sagen?

Heimann: Die wichtigste literarische Auszeichnung in Deutschland, der Georg-Büchner-Preis, geht in diesem Jahr an einen Dichter, an Jan Wagner. Profitiert davon die Lyrik insgesamt?

Bleutge: Solche großen Preise werfen das Licht vor allem auf eine Person. Eine Förderung in der Breite wird dadurch eher unterlaufen. Diese Entscheidungen werden zwar immer so verkauft, als würde damit das Gedicht insgesamt gefördert werden. Aber das ist schwierig. Denn es geht doch um bestimmte ästhetische Ansätze, die da ausgezeichnet werden, und diese Ansätze bilden mitnichten die große Vielfalt ab, die es in der deutschsprachigen Lyriklandschaft gibt. Wenn man das Gedicht aus seiner Nische holen will, dann führt der Weg gewiss nicht über die Auszeichnung eines einzelnen Dichters.

Heimann: Was macht ein gelungenes Gedicht für Sie aus?

Bleutge: Für mich ist ein gelungenes Gedicht etwas, das meine Vorstellungen und Kategorien aushebelt oder sprengt. Ein solches Gedicht kann dazu führen, dass Vorstellungen davon, wie Sprache, wie Weltwahrnehmung funktioniert, noch einmal ganz neu ausgerichtet werden. Das kann im günstigsten Fall auch dadurch geschehen, dass ich ein Gedicht lese und erst einmal keine Ahnung habe, worum es da eigentlich geht, und wie der sprichwörtliche Ochs vorm Berg stehe. Aber man spürt beim Lesen: Da passiert etwas, zum Beispiel mit Sprache oder mit der Art, wie Dinge miteinander verknüpft oder verschoben werden. Im besten Fall wird so eine neue Offenheit erzeugt, die es im Ganzen ermöglicht, dass man einen anderen Blick auf die Welt entwickeln kann.

Heimann: Das Gedicht also als Anstoß zum genaueren Wahrnehmen, auch zum Begreifen?

Bleutge: Durchaus. Das Gedicht bietet weitaus mehr als einen kurzen, schönen Moment. Natürlich ist es auch für Schönheit zuständig, aber es bietet darüberhinaus die Möglichkeit, Erkenntnis zu gewinnen. Einfach, weil das Gedicht die komplexe und brüchige Gegenwart wunderbar reflektieren kann durch seine Mehrdeutigkeit und durch die Art, wie Abkürzungen genommen und Dinge ineinander geschnitten werden. Gedichte können Brüche ganz anders abbilden und reflektieren als Prosa, in der ein Autor erst einmal Erzählzusammenhänge herstellen muss.

Heimann: Manche Zeilen in Ihren Gedichten erscheinen zunächst unverständlich. Ist es notwendig, alles zu verstehen?

Bleutge: Das Verstehen im klassischen Sinne spielt, jedenfalls so wie ich Gedichte lese, keine große Rolle. In unserem Alltag vermittelt ein Satz gemeinhin Informationen. Würde auch eine Gedichtzeile darauf reduziert, etwas begriffen zu haben, dann wäre das ein sehr verkürztes Verständnis dessen, was Sprache in ihrer Gesamtheit ist. Sprache macht verschiedene Bedeutungsräume auf, sie arbeitet mit musikalischen Elementen. Es gibt rhythmische, klangliche Muster, die Atmosphären herstellen können, die sich zuweilen unter der Wahrnehmungsschwelle entfalten. Lyrik unterläuft gerade die ganzen Trennungen, die man gewohnt ist im Alltag, zum Beispiel in Sinnlichkeit und Verstand, ich und die Dinge. Im Gedicht spürt man immer, dass eine Gesamtheit da ist.

Heimann: Sie waren 2013/2014 längere Zeit in Istanbul. Die Gedichte in Ihrem neuen Band nachts leuchten die schiffe reflektieren auch die gesellschaftlichen Zustände dort. Geschieht das eher beiläufig oder sehr gezielt?

Bleutge: Das war ein eminenter Teil meiner Wahrnehmung dort. Man wusste, wo die Polizeibusse stehen, die nur darauf warten auszurücken, wenn es Proteste gibt. Sehr viel von dem, was jetzt in der Türkei passiert, war früher schon absehbar. Man konnte diese ganze Maschinerie erleben: Wasserwerfer, Tränengas, die Brutalität, mit der gegen Demonstranten vorgegangen wurde.

Heimann: Ihre Gedichte prägt eine große Wahrnehmungslust und Beschreibungsgenauigkeit. Pathos ist ihnen hingegen ganz fremd. Ist das eine bewusste Zurückhaltung?

Bleutge: Ja, Pathos spielt in meinen Gedichten eher keine Rolle. Das bedeutet aber nicht, dass Gefühle ausgespart würden. Emotionalität ist über den Rhythmus sehr präsent. Das spricht mich so sensorisch an, dass ich mir eine intensivere Art von Emotionalität gar nicht vorstellen kann. Wenn ich rhythmische Muster lese, dann kann es zuweilen so weit gehen, dass ich sie körperlich spüre. Es gibt solche Momente, wo man nicht mehr genau unterscheiden kann, ist das ein Gedanke, den ich habe, oder ein Gefühl. Jedes Gefühl hat einen gedanklichen Anteil, und jeder Gedanke ist so euphorisch aufgeladen, dass sich das ohnehin nicht trennen lässt.

Stuttgarter Zeitung, 7.9.2017

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Verena Stauffer: Bleutge am Bosporus
lyrikkritik.de, 15.2.2019

Hendrik Jackson und Christian Metz: „versenk dich in die bewegung des wassers“
lyrikkritik.de

Timo Brandt: Der seidene Faden, gesponnen, gesponnen
signaturen-magazin.de

Jonis Hartmann: Flussbilder
fixpoetry.com, 28.3.2017

Laila Mahfouz: Rezension zu Nico Bleutges Gedichtband nachts leuchten die schiffe
kultumea.de, 29.7.2017

Ingrid Isermann: Nico Bleutge: Rhythmus, Salzluft und Lichtkristalle
literaturundkunst.net, Nr. 86, 05/2017

Kristina Maidt-Zinke: Nico Bleutge: nachts leuchten die schiffe
lyrikempfehlungen.de, 2018

Maria Renhardt: Zwischen Bosporus und grünem Meer
Die Furche, 17.8.2017

Studio LCB am 9.5.2017 mit Nico Bleutge

Lesung: Nico Bleutge
Im Gespräch: Marie Luise Knott und Marcel Beyer
Moderation: Tobias Lehmkuhl

Begrüßung und Vorstellung der Gäste; Gespräch über die Arbeit von Kritikern und Dichtern, den Arbeitsrhythmus Bleutges und darüber, welchen Einfluß Umgebungsgeräusche auf sein Schreiben haben; zudem wird darüber diskutiert, wie man sinnliche Eindrücke in Literatur überträgt.

 

Bleutge und Beyer sprechen über das Verfassen von Libretti.

 

Gespräch darüber, wie Nico Bleutge zur Lyrik gekommen ist und wie sich sein lyrisches Werk entwickelt hat.

 

Gespräch über den neuen Band nachts leuchten die schiffe und die Umstände und Vorbilder, die zu diesem Buch geführt haben.

 

Nico Bleutge liest den ersten Zyklus „nachts leuchten die schiffe“ aus seinem gleichnamigen Gedichtband.

 

Gespräch über die Lektüreeindrücke der Gäste, insbesondere über die unterschiedlichen Personae in den Gedichten,

 

Bleutge spricht über die Arbeit an den Gedichtzyklen, insbesondere am Zyklus „grasen mit grisu“; Gespräch über die Charakteristika eines Zyklus.

 

Nico Bleutge liest den Zyklus „flugsand“ aus seinem Gedichtband nachts leuchten die schiffe.

 

Gespräch über den Zyklus „flugsand“ und seine Form nach Art des Sonettenkranzes; die Gäste berichten von ihren Leseeindrücken.

 

Gespräch über die Lunge als „Zentralorgan“ des Gedichtbands und andere Motive; Bleutge liest den letzten Teil des „grasen mit grisu“-Zyklus; Schluss der Veranstaltung.

 

 

 

Mit Nico Bleutge One Day – Ein Tag Spurensuche in der Lyrik-Bibliothek

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG + ArchivPIA
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Galerie Foto Gezett +
Dirk Skibas Autorenporträts + Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Nico Bleutge liest zum Tag der Poesie und Wein in Ptuj, August 2013.

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