Nikos Engonopoulos: Poet’s Corner 18

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Nikos Engonopoulos: Poet’s Corner 18

Engonopoulos-Poet’s Corner 18

DER HEIMLICHE DICHTER
hommage à ravel

der Schatten des Sees
dehnte im Zimmer sich aus
und unter jedem Stuhl
und sogar unterm Tisch
und hinter den Büchern
und in den dunklen Blicken
der gipsernen Modelle
zu vernehmen wie ein Flüstern
das Lied des
geheimen Orchesters
des toten Dichters

und da trat ein die Frau, die ich so lang
erwartet
nackt
gekleidet in Weiß
unterm Mondlicht
mit gelöstem Haar
mit langen grünen Gräsern in den Augen
die kaum merklich schwankten
gleich den Schwüren
die niemals geleistet
in fernen namenlosen Städten
und in leeren
zerfallnen
Fabriken

und auch ich gedachte mich zu verlieren
wie der tote Dichter
in ihren langen
Haaren
mit ein paar Blumen
die ihre Kelchblätter öffnen
am Abend
und
sie schließen
am Morgen
dazu etwas Trockenfisch
der aufgehängt wurde
an einer Schnur
ganz oben
unter des Kohlekellers Decke

und so fortgehn
weit weg
von Tumult
und Krach
auf dem Schießplatz
fortgehn weit fort
im Glas der zersplitterten
Fensterscheiben
und leben
ewig
oben unter der Decke
mir aber
immer
vor Augen haltend
die geheimnisvollen Lieder
des erstorbnen Orchesters
des
Dichters

 

 

 

Stimmen vom und zum Autor

Ich war nie ein systematischer Schriftsteller, ein systematischer Autor, ein littérateur. Die große Liebe meines Lebens gilt ausschließlich der Malerei. Jede Stunde, die ich nicht der Malerei widme, scheint mir eine verlorene Stunde. Aber ein Bild verlangt natürlich nicht die ständige Hingabe des Denkens und Herzens. Es gibt Augenblicke, in denen die Hand sozusagen wie von allein zeichnet. Aber das Gehirn arbeitet immer. Und davon profitiere ich und überlege mir verschiedene Dinge, oder, für gewöhnlich, denk ich mir Lieder aus. Wenn ich nach der Arbeit diese Lieder aufschreibe, ist es gut, wenn nicht, vergeß ich sie wieder […] Nach einiger Überlegung, und nach meiner Erklärung, daß ich nie ein „systematischer“ Schriftsteller gewesen sei, fühle ich mich bemüßigt zu erklären, daß ich auch nie ein „professioneller“ Maler war…
Nikos Engonopoulos, 1977

Das Wichtigste während der Anfänge der surrealistischen Bewegung in Griechenland war, daß Nikos Engonopoulos, dessen Gedichte urplötzlich und mit ungewöhnlicher Kraft einschlugen, den Flügel der „Kompromißlosen“ stärkte. Er war ein geborener Orthodoxer. Vom Surrealismus durchdrungen wie von Elektrizität der Lichtmast. Der keine Berührung duldete, es sei denn, man war ihm zuliebe bereit, einen starken Schlag auszuhalten. Unnahbar, mißtrauisch, streitsüchtig, hatte er es lange Zeit abgelehnt, mit uns zusammenzuarbeiten. Aber seine Stimme, und sei es nur von weitem, erreichte uns doch sofort…

Rotgesichtig, mit leuchtenden Augen und außerordentlich suggestiver Stimme, trug er ständig ein schmales goldnes Kettchen um den Hals und den dicken goldenen Ring am Zeigefinger seiner rechten Hand, den man unmöglich übersehen konnte. Entweder er sprach mit weit ausholenden Handbewegungen, oder er schwieg mit gespreiztem Finger, ähnlich den Figuren, die er malte und die, in den meisten Details, byzantinischen Vorbildern glichen. Kein anderer kannte so gut die französische Dichtung wie er. Es genügte die kleinste Anspielung auf einen Text – und sei es der abwegigste, der verlorenste im Reich der französischen Literatur des Mittelalters –, daß er ihn in perfektester Aussprache und in höchster Vollendung zu Ende rezitierte.
Odysseas Elytis

 

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Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Nikos Engonopoulos liest sein Gedicht „Über die Höhe“.

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