Nora Gomringer: Mein Gedicht fragt nicht lange

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Nora Gomringer: Mein Gedicht fragt nicht lange

Gomringer-Mein Gedicht fragt nicht lange

SAG DOCH MAL WAS ZUR NACHT

Sag doch mal was zur Nacht, dieser Nacht mit den
aaaaaSternen
und Steinen am Boden unter der Decke auf dem
aaaaaHügel,
auf den der Mond sich gelegt hat, mit dem Gesicht in
aaaaaden
Händen, du sagst ja gar nichts zu der schönen Nacht,
dieser Nacht, mit Näglein besteckt, mit Rosen
aaaaabedacht, du
sagst eh viel zu selten irgendwas, könntest doch jetzt mal
was sagen, sagen, zur Nacht was sagen, zu dieser Nacht
vor allen anderen, vor allem anderen, könntest doch mal,
könntest, könntest mal was sagen zu den Sternen, den
Steinen, den Mondstrahlen auf dem Hügel, zum Meer,
zum Sturm, DAS IST DOCH NUR WIND, na siehst du,
kannst doch was sagen, was sagen zum Sturm, der kein
Sturm, SONDERN NUR WIND, ist, zum SturmWIND,
der mich ganz zerzaust, sagst gar nichts zu mir und meinem
Zerzaust-Sein, sagst gar nichts, so zerzaust bin ich vor dir,
so zausig, sagst immer nie was zum Zerzaust-Sein, zum
vom Sturm Zerzaust-Sein, VOM WIND, ja hast ja recht,
VOM WIND, zerzaust sein, so stürmisch, VOM WIND,
Zerzaust-Sein, sagst auch gar nichts Rechtes über die
Nacht und die Sterne über den Köpfen und zu den Füßen
auf den Steinen, SCHÖN, siehst du, findest du auch,
siehst du, findest du auch, das wusste ich, dass ich findest
du auch würde sagen können, weil’s ja SCHÖN ist, wusst
ich gleich, dass du das finden würdest, so SCHÖN, diese
Nacht, die du SCHÖN nennst, du bist ein Dichter, ein
Dichter bist du ein Dichter, findest du nicht, einen Dichter
finde ich dich, einen herrlichen DICHTER, ja, einen
DICHTER, sag doch was zur Nacht, was zum Sturm, zum
Zerzaust-Sein im Sturm, zum SCHÖN-Sein im WIND,
diesem Sturm, dieser Nacht im Sturm auf dem Hügel, auf
dem das Mondlicht, na du weißt schon, du weißt schon,
ICH WEISS SCHON, siehst du, ich wusste, dass du es
wusstest und ich wusste, dass du es weißt, denn wir sind
uns ja einig auf diesem Hügel in der Nacht, der Nacht auf
dem Hügel, die so SCHÖN ist.

 

 

 

Poesie für alle Sinne

Sie ist furchtlos, kennt aber viele Schmerzen. Nora Gomringer gehört zu einer Generation, die mit ihren Vorgängern in einem entspannten Verhältnis lebt. Die klassische Moderne führte einen erbitterten Kampf gegen die Tradition, die sich zu einem Kanon des angeblich Richtigen und Musterhaften verfestigt hatte. Diesen galt es aufzubrechen, zu sabotieren, zu verhöhnen. Ihm musste das ganz Andere entgegengehalten werden. Deshalb umschrieb sich die klassische Moderne mit militärischen Begriffen. „Avantgarde“ ist ein Wort aus der Kriegsführung. Als die Nachkriegsmoderne, zu deren markanten Vertretern Nora Gomringers Vater gehörte, nach dem kulturellen Sumpf der Hitlerzeit den Anschluss an die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts wieder knüpfte, tat auch sie es kombattant – im Streit gegen den restaurativen Literaturbegriff der Adenauerzeit. Diese ästhetische Militanz, die gelegentlich selbst doktrinär werden konnte, ist Nora Gomringer fremd. Sie mag ihre Vorgänger, kennt weder vater- noch muttermörderische Reflexe. Ihre Modernität ist heiter, beweglich, ohne Verbissenheit. Zeichenhaft steht dafür ihr Verhältnis zu Friederike Mayröcker, auf die sie ein langes ergreifendes Gedicht geschrieben hat: „M alleine“.
Klänge und Formen, die ihrem Spiel entgegenkommen, greift sie auf. Sie verwandelt· sich an, was sie brauchen kann aus dem großen Arsenal der Moderne, und es wird zu einem selbstverständlichen Teil ihrer Kunst, gewinnt das unverwechselbare Timbre ihrer eigenen Stimme.
Talentlose Dichter schreiben von Herz und Rosen. Mittlere Talente vermeiden es sorgfältig, von Herz und Rosen zu schreiben. Starke Talente haben keine Bedenken, trotz allem von Herz und Rosen zu schreiben. Wie Nora Gomringer das Herz in ihr poetisches Reden holt! Warum gelingt ihr das so leichthin? Es verdankt sich ihrer bilderschaffenden Kraft. Diese könnte man über dem Reichtum der Klänge und Rhythmen leicht übersehen. Ihre visuelle Sinnlichkeit ist aber der akustischen ebenbürtig. Das lässt sich studieren an den drei Gedichten „Das Herz“, „Brandstifter“ und „Erklärung“. Wie sie hier das unmögliche Motiv allein durch die berückende Anschaulichkeit der Metaphern zurückholt in den lyrischen Diskurs der Gegenwart, ist verblüffend. Dabei hilft ihr ein erzählerischer Zug, der sie die gefundene Metapher – das Herz als Artischocke, das Herz als der Wollknäuel Ariadnes, das von schweren Verbrennungen blasige Herz – weiterführen und ausbauen lässt zu je einer kleinen, witzig-traurigen Geschichte. Allegorie nannte man das einst. Bei Nora Gomringer hat die Allegorie alle Betulichkeit abgelegt und erscheint wieder als naturhafte Möglichkeit der Poesie.
Dazu trägt bei, dass es um die Liebe geht. Sie veraltet bekanntlich so wenig wie die Sonne oder das Meer, wie Durst und Hunger. Zu den vielen Schmerzen, die diese Autorin kennt, scheint die Liebe nicht wenig beigetragen zu haben. Wann immer sie ihr die Zunge löst, tauchen auch die starken Bilder auf. Sie treten in Verbindung zu Mythen und Märchen, zum ältesten Traummaterial, das in uns allen abgelagert ist. Dass Nora Gomringer den Kontakt zu den Urgeschichten der kulturellen Überlieferung nicht scheut, steigert den Reichtum ihrer Gedichte. Bildung allein macht gewiss keinen Dichter, aber Bildungsfeindlichkeit noch weniger. Bildungsfeindlichkeit macht überall nur Spießer.
Und dann die Stimme. Natürlich hätte man mit der Stimme beginnen müssen. Die Gedichte sind zum Sprechen geschrieben, sind wohl auch beim Schreiben schon gesprochen worden. Diese Autorin will nicht nur gelesen, sondern auch gehört werden. Dennoch ist ihre akustische Sinnlichkeit in den Texten selbst bereits voll gegenwärtig. Deren rhythmische Vielfalt, die gemessenen Litaneien, das Rhapsodische, das Stakkato, der lange Atem der gestreckten Verse, die raschen Tanzschritte dazwischen – alles ist ein Abenteuer des inneren Ohrs für den lautlosen Leser. Die Rezitation, insbesondere wenn Nora Gomringer damit leibhaftig auftritt, rückt die Gedichte in neue Perspektiven und setzt überraschende Akzente. Unabdingbar ist sie aber nicht.

Peter von Matt, Vorwort, Juli 2011

 

Nora Gomringers Gedichte

fragen nicht lange, stehen einfach da, bringen Kuchen mit, ohne eingeladen zu sein. Ihre Stimme trägt sie weit und eine beigelegte CD bei Gelegenheit noch weiter. Die in diesem Band versammelten Sprechtexte und Gedichte von 2000 bis 2008 sind Zeugnisse des Anfangens, des Schreib-Tastens und Loslegens. Enthalten sind die Gedichtbände Gedichte, Silbentrennung, Sag doch mal was zur Nacht und Klimaforschung.

Verlag Voland & Quist, Klappentext, 2011

 

Gefährlich und gefährdet: Das Wort

– Nora-Eugenie Gomringer im Gespräch mit Kathrin Wimmer über Heimat, Erinnerung und das Liebesverhältnis zur Sprache. –

Es ist das kälteste Osterfest seit 38 Jahren. Draußen verdichtet sich der Schneefall und überzuckert Bamberg langsam mit einer weißen Decke. Währenddessen setzt sich Nora-Eugenie Gomringer mir gegenüber in einen ledernen Sessel, vor ihr eine Tasse mit würzigem Zimttee. Auf ihrem Nasenrücken zeugt noch ein leichter Sonnenbrand von den Auftritten der vergangenen Tage, die in Zypern stattfanden.
Sie nimmt sich Zeit für unser Gespräch, viel Zeit – obwohl es der Autorin gerade daran mangeln dürfte. Bevor wir mit dem Interview beginnen, klärt sie noch einige Verabredungen für den Nachmittag; aber ausgebucht ist sie längst. Doch obwohl unsere Zeit gedrängt scheinen könnte zwischen ihren vielen Terminen, fällt dieser Umstand im Gespräch nicht auf. Ihre ganze Aufmerksamkeit und Konzentration ist dem Jetzt gewidmet, was in ein paar Stunden sein wird, spielt keine Rolle. Hier gibt es nur sie, meine Fragen und ein Mikrofon. Mit anfänglich geschlossenen Augen antwortet die junge Lyrikerin interessiert und sorgsam meinen Nachfragen. Es scheint, als ob sie die Welt hinter ihren Lidern ausblenden würde. Vergewissern muss sie sich nicht mehr, denn die Details des Raumes hat sie längst in sich aufgenommen und ihre Umgebung wie kein anderer gescannt. Sie wird an diesem Vormittag die einzige sein, die nicht wegen eines plötzlich bellenden Hundes aufschreckt, der sich unter einer Couch versteckt hielt. Sie hat ihn längst bemerkt.
Es ist ein sehr persönliches Gespräch. Sie lacht viel und genießt es, mich zum Lachen zu bringen. Der Wortwitz, den man aus ihren Texten kennt, durchzieht auch ihre spontanen Äußerungen. Ihre authentischen Antworten unterstreicht sie mit einer betörenden Stimmgewalt: Mal flüsternd, dann wieder raumfüllend oder parodierend, lässt sie mich an ihren Emotionen teilhaben. Dabei hängt sie ihren eigenen Aussagen nach, gar nicht selbstverliebt, sondern sehr sorgfältig. Sie hinterfragt sich selbst im Gespräch immer und immer wieder.
Nach mehr als zwei Stunden – das Tonband ist längst ausgeschaltet – treten wir gemeinsam aus dem kleinen Café ins Sonnenlicht. Der Schnee ist geschmolzen.

Kathrin Wimmer: Paris, New York, Zypern, Norwegen – was für viele nach Urlaub klingt, gehört für Sie zum Beruf: Die genannten Ziele sind beliebig aus Ihrem Terminplan für das Jahr 2008 herausgegriffen. Macht das Reisen nur Spaß?

Nora-Eugenie Gomringer: Ich bin viel unterwegs und bin natürlich auch froh darüber, weil es anderen Autoren nicht unbedingt möglich ist, so viel zu reisen. Das Reisen ist aber zugleich auch eine Unterbrechung. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass mir das große Probleme bereitet, weil ich mich nach einem festen Ort sehne. Wenn ich aber an meine Jahre der schriftstellerischen Produktivität zurückdenke, fällt auf, dass ich eigentlich noch nie so richtig einen bestimmten Ort hatte, an dem ich geschrieben hätte – insofern weiß ich, dass mein Schreiben und mein Output wohl da entstehen, wo ich gerade bin.
Zurzeit habe ich auch wegen des Reisens keinen festen Schreibtisch und weiche auf die Schreibtische anderer Menschen aus. Deshalb bin ich immer nur Gast mit meinem Schreiben. Das schlägt sich auch auf meine Schreibe nieder. Beim Schreiben bin ich Gast in den Gedankenwelten anderer. Zugleich bin ich momentan auch oberflächlich Gast: Durch das Schreiben auf anderer Leute Denkoberfläche. Das regt manchmal an und oft regt es auf.

Wimmer: Sie sind also relativ unabhängig vom Ort – wo sind Sie besonders produktiv?

Gomringer: Wenn ich zuhause bei meinen Eltern bin und mal eine Pause vom Reisen machen kann. Ich stehle mich nachts von ihrem Fernsehabend davon (lacht) und kann mich an meine Arbeiten setzen. Da passiert dann einiges und darüber bin ich wirklich froh. Denn es ist sehr unbefriedigend, beispielsweise vier Monate ohne einen neuen Text herumzulaufen. Es macht mich unheimlich kribbelig, wenn da nix passiert. Wenn man merkt, man nimmt vieles auf, aber man kann es nicht umsetzen, weil die äußeren Umstände es kaum zulassen. Das ist extrem quälend.

Wimmer: Sie haben gerade von „zuhause“ gesprochen. Gibt es für Sie als Weltenbummlerin die Kategorie „Heimat“ überhaupt? Was bedeutet dieser Begriff für Sie?

Gomringer: Heimat ist ein Begriff, der mir sehr wichtig ist. Ich verkläre ihn wahrscheinlich ganz romantisch; aber ich kann sehr genau lokalisieren, wo meine Heimat ist. Sie ist auf bestimmten Straßenzügen in New York und auf bestimmten Feldern in Oberfranken – bei Wurlitz, bei Rehau, in der Nähe von Hof. Ich fühle mich dort sehr nah. Aber ich merke auch, dass ich – zum Glück! – nur eine relativ kurze Zeit brauche, um mich an einem anderen Ort einzufühlen. Ich freue mich ja auch darauf, an anderen Orten sein zu können.
Heimat ist also wichtig für mich, aber nicht unbedingt für mein Schreiben. Dennoch ist es oft ein Thema bei mir. Das hat vielmehr etwas mit einer Wahlheimat zu tun und einem Gefühl der „Beheimatung“ oder „Verheimatung“. Es geht um eine „Wunschverheimatung“ in Personen und Personenkonstellationen an bestimmten Orten, an denen man gerade ist. Und es geht auch um das Bedauern, dass man manchmal nicht mehr heimischer werden kann. Es gibt bestimmte Orte, wo man merkt, dass das Potential, das dieser Ort in mir wecken kann, ausgereizt ist. Dann muss man weiterreisen und sich ein anderes Ziel suchen. Es ist ein ganz bewusster Ansatz bei mir, sich zu verheimaten. Also irgendwo hinzugehen mit dem Wunsch, sich dort auch geistig anzusiedeln. Das kenne ich gut.

Wimmer: Sie haben lange in Bamberg gelebt, haben hier das Abitur gemacht und auch Ihr Studium abgeschlossen. Welche Beziehung haben Sie zu dieser Stadt?

Gomringer: Ich merke, dass ich hier sehr verwurzelt bin. Ich bin wirklich dankbar, weil mir hier viel Gutes widerfahren ist. Deshalb komme ich hier gerne her, merke aber auch, dass meine Beziehung zu Bamberg wie eine Beziehung zu einem Erwachsenen, einem Partner, ist. Meine ganzen anderen Bezugspunkte in New York und in Franken auf dem Land haben mit meiner Kindheit zu tun. Ich merke, dass jetzt die Auseinandersetzung mit jedem Ort etwas Ernsthafteres hat. Ich kann es wirklich nur mit einer „schwierigen Beziehung“ vergleichen. Zudem ist Bamberg auch so ein Ort, an dem sich der Geist schnell verhaftet und das darf nicht passieren. Dieses „Sich-verhaften-Lassen“ kann sehr positiv gemeint sein, aber es darf kein Arrest werden. Sobald es sich wie ein Arrest anfühlt, muss man wieder weggehen. Dann ist man froh, dass Bamberg verkehrstechnisch gut angebunden ist. (lacht)

Wimmer: Woher kommen die Stoffe und Themen für Ihre Texte?

Gomringer: Bei mir gibt es eine ständige Stoffsammlung. Ich habe immer etwas zum Schreiben dabei und beschmiere die Wände und mich. Es hat wirklich mit einer gewissen Manie zu tun. Wenn ich einen Gedanken gefunden habe, etwas gehört habe oder von etwas angeregt wurde, dann muss ich es notieren. Zu einem späteren Zeitpunkt nehme ich es wieder hervor, arbeite daran und verarbeite es – vielleicht – zu einem Text oder wenigstens zu einer weiterführenden Idee.

Wimmer: Sie durchstreifen Ihre Umwelt sehr aufmerksam. Auf welchen Sinn könnten Sie dabei am ehesten verzichten?

Gomringer: (Überlegt) Das ist schwierig und schrecklich… So etwas darf man nicht fragen, ganz furchtbar. Am wenigsten verzichten? Aufs Sehen. Obwohl ich so im Sprechen und Hören angesiedelt bin und alles, was die Stimme kann und soll, bevorzuge und bewundere, wäre es mir am leidesten um das Sehen. Ich habe viele Leute vom Sprachduktus her im Ohr und das ist ein reicher Schatz für mich. Deshalb denke ich, wenn ich auf das Herz höre, dass ich auf den Hörsinn verzichten könnte.
Ich rede seltsamerweise ganz wenig über Musik. Aber die ist sehr wichtig für mich. Wobei ich nicht so viele Unterschiede zwischen Musik und Geräusch mache. Ich liebe gut komponierte Musik, mag aber auch ein komisches Geräusch. Natürlich mag ich keinen Lärm – den mag kein Mensch. Überhaupt mag ich menschliche Äußerungen sehr gerne. Die Sprache ist dann die „Hohe Kunst“ der menschlichen Äußerung. Aber auf einen Sinn verzichten – schrecklich. Eine schlimme Entscheidung.

Wimmer: Friedrich Schiller soll in seiner Schreibstube einen vor sich hinfaulenden Apfel liegen gehabt haben, um seine Phantasie zu beflügeln – gibt es etwas, auf das Sie beim Schreiben nicht verzichten möchten?

Gomringer: Ob irgendetwas bei mir in der Schublade fault? (lacht) – Manchmal die Texte, die stinken dann vor sich hin. Es gibt viele Sachen, die man verwerfen muss, weil sie mittlerweile einfach oll sind und sich auf eine Zeit beziehen, die vorbei ist.
Zur Frage: Ich brauche einen Ort, an dem ich willkommen bin. An dem man sein kann und an dem man – das klingt total banal, aber ist es zugleich auch wieder nicht – einen PC und einen Drucker nutzen kann. Da muss das Gefühl sein, ich störe hier niemanden und ich kann einfach für ein paar Stunden loslegen. Das brauche ich.

Wimmer: Was ist das Besondere am PC? Wieso bevorzugen Sie ihn als „Schreibgerät“?

Gomringer: Ich schätze die Vielfalt der Modalitäten. Du kannst unheimlich viel verändern, z.B. den Schriftsatz. Die Schrifttype ändert für mich sehr viel an der Einstellung zum Wort. So ein Wort in Arial sieht ganz anders aus als in Times New Roman. Times New Roman ist ein geradezu heillos romantisches Schriftbild, mit dem ich mich manchmal nicht so gut anfreunden kann.
Speziell für die Sprechtexte gilt: Bei meinem Schreiben ist zugleich das Sprechen der Texte sehr wichtig. Überhaupt ist mir der Klang sehr wichtig. Aber ich kann nur gut beim Schreiben sprechen, wenn ich den Text auch relativ schnell runterschreiben kann. Das muss also quasi ein Sprechschreibvorgang sein – relativ zeitnah. Man hat mit dem PC den Luxus, „wortzeitgleich“ zu arbeiten, aber das ist natürlich auch ein Betrug. Meine Hand könnte da nicht derart mithalten. Außerdem habe ich mir meine Handschrift geradezu aberzogen: sie sieht jeden Tag anders aus. Auf der Bank wird es dann schwierig. (lacht)

Wimmer: Wegen des vielen Reisens haben Sie zurzeit keinen festen Schreibtisch. Aber wie wird er aussehen, wenn es so weit ist?

Gomringer: Ich freue mich schon darauf und stelle mir gerne vor, wie es ist, wieder einen eigenen Schreibtisch zu haben. Leider – ich weiß es aus der Erfahrung meiner letzten Schreibtische – sind es lediglich Spanbrettplatten auf Holzböcken. Ich brauche viel Platz und große Flächen. Und ich muss relativ schnell alles abbauen können. Außerdem muss dieser Tisch dann auch als Esstisch oder Ähnliches genutzt werden können. Das Schreiben darf nämlich nie das Leben ersetzen! Man darf sich durch das Schreiben nicht zu einer Weltferne erziehen lassen!

Wimmer: Und sonst? Wie richten Sie sich Ihren Schreibort ein?

Gomringer: Ein paar Fotos habe ich um mich. Ich schaue immer auf ein paar Gesichter und auf zwei sehr schöne konkrete Bilder. Eins ist von Thomas Kausel und eins von meinem Vater, ein Textbild. Da schaue ich zwar nicht direkt darauf, aber es hängt über dem Schreibtisch.

Wimmer: Über Ihrem Schreibtisch hängt aber vermutlich nicht ausgerechnet „schweigen“, oder?

Gomringer: Doch! (lacht) Über meinem alten Schreibtisch in meiner alten Wohnung hing das Bild schweigen ganz oben, darunter das Bild von Kausel und dann kamen ein paar Familienbilder, von meinen beiden Patenkindern und Schwarz-Weiß-Bilder von alten Familienzeiten, die ich persönlich nicht kenne, aber über Erzählungen kennen gelernt habe.
schweigen muss dort hängen! Das ist auch eines der ersten Bilder überhaupt, das ich geschenkt bekommen habe. Ich sammle in meinem begrenzten Rahmen Kunst, vor allem Konstruktive Kunst und gebe dafür gerne Geld aus. Ich brauche die anderen Künste sehr, um mich anregen zu lassen.
Überhaupt hängt Schrift bei mir auch an der Wand. Die Texte von meinem Vater, die ja auch Schau-Texte sind, habe ich sehr gerne um mich. Vor allem, weil die Schrifttype einfach sehr schön und angenehm ist. Sie ist nicht so individuell. Ich mag daran, dass es eine prozessierte Schrift ist. Es ist keine Handschrift, sondern eben eine Schrift für Jedermann, für jeden Blick. Dadurch wird etwas Graphisches daraus und das gefällt mir gut.

Wimmer: Von der Schrift zum Schreiben – was bedeutet „Schreiben“ für Sie?

Gomringer: Kunst hat immer etwas mit der Maskierung eines gefühlten Defizits zu tun. Und mit einer ganz bewussten Leidenschaft. Also bei mir ist es ein Liebesverhältnis zur Sprache. Kunst beginnt mit einer ganz verschämten Annäherung und Schmeichelei. Ich glaube, beim Schreiben geht man durch all diese Stationen des Augenzwinkerns, des Knie-Berührens und letztendlich kommt die Frage, bei wem man die Nacht verbringt. Das ist dann der Text. (lacht) Der Text ist also ein Produkt aus dem Liebemachen mit Sprache. (lacht herzlich) Die Frage ist aber auch, ob man ein guter Liebhaber ist. Das ist wirklich heikel und hat viel mit der Tagesform zu tun. (lacht)
Das Schreiben ist eine Belästigung des Selbst. Es ist eine Befreiung. Es ist eine große Anstrengung. Das Schlimmste am Schreiben ist aber, dass es für mich völlig unplanbar ist. Klar merke ich, welche Tendenzen es bei mir gibt. Aber ich kann insgesamt nur Aussagen über Auftragstexte machen oder über Dinge, die ich momentan bearbeite.
Anders fände ich es schöner. Ich merke, ich bin ein Lyriker, der gerne mit der Gewissenhaftigkeit und der Klarheit eines Prosaautors arbeiten würde. Der Prosaautor ist ein ewig sich mühender und fleißiger Mensch und der Lyriker ist die Grille. Das denke ich schon manchmal. Ich weiß zumindest, dass ich eine Grille bin. Ich würde gerne mit der Stetigkeit eines Thomas Mann arbeiten können oder auch einer Nina Jäckle, die sich wirklich hinsetzt und am Tag mehrere Stunden arbeiten kann. Das geht bei mir nicht. Aber irgendwie schaltet sich das wahrscheinlich gegenseitig aus. Es gibt schon sehr konzeptionelle Lyriker, aber das bin ich nicht. – Wenn ich mich selbst so höre, denke ich immer, ich klinge voller Bedauern darüber, was ich nicht bin und was ich gerne wäre. So stimmt das auch nicht! Aber wenn man so nahe an der eigenen Arbeit steht, sieht sie ganz verzerrt aus. Man hätte manchmal gerne mehr Abstand von dem, was man macht, und würde sich die eigene Arbeit gerne aus einer freundlicheren Sicht angucken. Denn selbst blickt man ja darauf, als ob man wieder etwas gänzlich Missgebildetes hingelegt hätte.

Wimmer: Sie sprechen an anderer Stelle von einem „Selbstkritikzentrum“ im Hirn. Sind Sie sich gegenüber besonders hart?

Gomringer: Ganz sicher. Es gibt nur wenige Menschen, denen ich meine Sachen zeige. Da zittere ich dann richtig vor ihrem Urteil. Vor kurzem hatte ich einen Auftritt in Zypern an der Universität. Ich sollte eine Lesung und einen Vortrag halten. Hier fiel mir auf, dass ich schon lange nicht mehr so wissenschaftlich gearbeitet und etwas derart „Gebündeltes“ vorgelegt habe: Das musste halt in 20 Minuten krachen. Ich hatte wirklich Kummer, während ich daran geschrieben habe. Und als ich es dann zum Lesen weggab und es für sehr gut befunden wurde – da war ich wirklich erleichtert. Der Grad meiner Erleichterung hat mir klargemacht, wie extrem meine Anspannung und wie „aktiviert“ mein Selbstkritikzentrum war.
Es gibt schon Momente, wo ich zufrieden über meinen Text blicke. Aber zugleich muss er sich ja in so vielen Lagen geradezu beweisen! Er muss auch bei den Leuten funktionieren und nicht nur für mich im Schreibzimmer. Der Effekt, den man den Leuten mit einem Text schenken wollte, der muss rüberkommen. Gerade bei Lyrik und vor allem, wenn es dann noch ins Performative geht, ist man sehr in der Rolle des Theaterintendanten. Man selbst ist der Intendant für sein eigenes Theater und man sagt sich: „Ach, auf den Spielplan setze ich etwas zum Lachen, etwas Ernstes und etwas zum Nachdenken.“ – Wenn diese Effekte dann aber nicht so ankommen, wie sie sollen, und die Leute weder zum Nachdenken noch zum Lachen animiert werden, dann muss man ganz klar eine Programmänderung vornehmen: Ein paar Schauspieler rauswerfen und ganz neu anfangen!

Wimmer: Das klingt sehr strategisch – schreiben Sie für das Publikum oder für sich selbst?

Gomringer: Nach den vorherigen Sätzen bin ich natürlich total geliefert. Ich schreibe immer mit dem Gedanken an das Publikum. Ich stelle mir auch gerne vor, wer das liest und was die Leute daraus machen. Ob es irgendetwas bewegt, ob es eine Konsequenz in den Menschen hat. Ob es hält.
Zu leugnen, dass man für das Publikum schreibt, wäre einfach gelogen.
Da wird so viel Arbeit, Liebe und furchtbar viel Lebenszeit in so ein Buch hineingegeben, dass man es sich gar nicht leisten kann zu sagen:

Ach, das mache ich nur für mich.

Das ist Quatsch.

Wimmer: Nach welchem Plan funktioniert Ihre Lyrik denn nun?

Gomringer: Ich bin ja selbst oft „Publikum“. Ganz viel von den Sprechtexten ist aus meiner eigenen Publikumserfahrung entstanden. Jeder Mensch macht die Erfahrung, Publikum zu sein – im Theater, im Kino, bei Lesungen. Dann denkt man sich schon manchmal:

Was sind die Formeln, die etwas funktionieren machen?

Und von denen sind wir alle nie unmanipuliert! Da kann man noch so oft denken, es läge an der Ausbildung, dass man bei diesem und jenem so kritisch ist – nein, das ist es nicht. Es liegt an unserer Art der Sozialisierung. Wir wachsen in einem Kulturkontext auf und wissen daher ziemlich genau, was die Leute als spannend empfinden. Insofern ergeben sich dadurch Regeln, die im Theater immer befolgt werden. Seit Aristoteles ist klar, dass ein Stück funktioniert, wenn du Phobos, Eleos und Katharsis einbaust.
Irgendwie zeigt sich das auch bei meinen Sprechtexten. Ich komponiere sie stark nach der Idee eines klitzekleinen Dramas. Es gibt die Vorstellung einer Exposition, einer abrupten Steigerung, eines Höhepunkts, einer kleinen Retardierung und dann geht es auch schon wieder hinunter und wird zur Komödie oder Tragödie. Es hat alles eine Komposition zugrunde liegen.

Wimmer: Trotz allen Arrangements: Wie viel Freiheit geben Sie Ihrem Text? Verselbstständigt er sich während des Schreibvorgangs und schlägt neue, unerwartete Richtungen ein?

Gomringer: Bei den Sprechtexten lasse ich den Texten durchaus ihren Freilauf. Das entsteht zwangsläufig mit der Mündlichkeit. Die Mündlichkeit unterliegt halt ganz anderen Regeln wie die Schriftlichkeit. Sie muss sprechbar bleiben, was Schnelligkeit, Stimmung, Melodie, Stimmhöhe, Modulationsfähigkeit, Tragfähigkeit usw. betrifft. Insofern: Manche Dinge lesen sich gut, lassen sich aber nicht unbedingt gut lesen. Ein Text, der für die oral presentation funktionieren soll, muss sich ganz anders gestalten. Er muss sich auch gestalten lassen können: Es muss ein Text sein, der sich über die Jahre hinweg sprechen lässt. Dafür muss man eine Menge von Text produzieren, weil sich sehr viel abschleifen wird. Du hast ein Wortgebirge – aber je mehr du es vermündlichst, je öfter du es im Sprechakt vorträgst, desto mehr Abschleifungen erhält der Text. Zuletzt sieht er gar nicht mehr aus wie der Text, den man mal geschrieben hat. Diese Unterschiede finde ich sehr interessant. Daran merke ich auch, dass sich für den Vortragenden nur eine Poesie mit ganz klaren Regeln eignet.

Wimmer: Welche Regeln sind es, die Sie für die mündliche Poesie meinen?

Gomringer: Es muss beispielsweise memorable patterns geben, also etwas, das du dir merken kannst. Dann müssen Antithesen drin sein – insgesamt also Dinge, die sich auch der Sprecher gut merken kann. Wenn ich etwas positiv formuliere, muss man es auch wieder zurücknehmen: To be or not to be! Die Sprechbarkeit unterwirft demnach den Text noch einmal und bereitet ihn richtiggehend zu. Wenn es gut geht, macht sie unter ihrem Sattel ein wahres Filet aus ihm.

Wimmer: Wie ist es aber bei den Texten, die Sie nicht speziell für den mündlichen Vortrag schreiben? Wie viel „Eigenleben“ gestatten Sie solchen Texten?

Gomringer: Bei den Texten, die wirklich mit der Intention entstehen, auf dem Blatt zu wirken, lasse ich nicht so viel Spielraum zu. Diese Texte funktionieren nach einer Art Bauplan, der sich von dem dramaturgischen Aufbau eines Sprechtextes unterscheidet.
Sie sind sehr an den Gedanken angelehnt, aus dem sie hervorkommen. Es ist geradezu ein gedankenimmanenter Aufbau. Diese Texte entstehen meist, weil ein oder zwei Verse schon zuvor ganz klar sind. Die werden dann meistens auch im Schreibvorgang nicht mehr verändert, auch über Jahre hinweg. Aber was sich dann dazwischen abspielt und wie sich der Text weiter von da an aufbaut, das gehört dem Gedanken, der in diesen ein bis zwei Versen drinsteckt. Deshalb sind diese Texte insgesamt nicht so in der Gefahr zu entgleiten.

Wimmer: Man merkt, dass Sie Ihr Schreiben sehr reflektieren. Bis 2006 haben Sie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte studiert. Schreibt man als studierte Germanistin anders?

Gomringer: Das ist ganz sicher beeinflusst. Aber ich kann die Seite des Literaturwissenschaftlers auch ganz gut ausblenden! Ich kann mir durchaus alles mit einem sehr kindlichen Gemüt und einer geradezu naiven Freude durchlesen.
Aber insgesamt ist man natürlich durch die Ausbildung vorgeprägt. Das sorgt dann für eine gewisse Auswahl beim Lesen. Ich bin ja kein Kindlein mehr, das sich vor die Bücherwand stellt und sagt:

Das Buch ist schön orange.

Das schön orangefarbene Buch könnte ja auch Mein Kampf sein und damit wäre es schon nicht mehr schön.
Die Vorauswahl trifft man durch das Studium anders, teilweise wird sie auch für einen getroffen. Es schalten sich von Haus aus bestimmte Themen und Gebiete aus, leider. Es ist eine lebenslange Aufgabe, gerade für akademischere Menschen, sich bewusst dagegen zu stemmen und Dinge zu lesen, die beyond des Horizonts liegen. Nur dadurch ergeben sich andere Anregungen. Es geht mir nicht unbedingt darum, sich selbst herauszufordern. Es geht darum, sich bewusst mit ungewohnten Sachen auseinander zu setzen, die dann wiederum für eine Irritation sorgen. Eine Irritation mit positiver Konsequenz! Wenn mich etwas zum Staunen bringt oder aufrüttelt, mich überrascht und verblüfft, dann verhindert das, zu sehr zu verhärten. Man muss durchlässig sein.

Wimmer: Sie haben in diesem Gespräch bereits auf den Unterschied zwischen Lyrik und „Sprechtexten“ hingewiesen. Was verstehen Sie darunter und warum fällt speziell die Lyrik aus Ihrem letzten Band in diese Kategorie?

Gomringer: Diesen Begriff „Sprechtexte“ habe ich zum ersten Mal verwendet und für die Texte geprägt, die in Sag doch mal was zur Nacht versammelt sind. Das sind Texte, die ganz gezielt mit der Intention geschrieben und aufgeschrieben wurden, vorgetragen zu werden. Sie lassen sich mit einer besonderen Leichtigkeit sprechen. Oder auch mit einer bestimmten Zielsetzung: Manche Sprechtexte sind ja auch kompliziert vorzutragen, sind aber doch viel eher fürs Sprechen als fürs Lesen geeignet.
Dass man aber auch Texte aus der Silbentrennung gut sprechen kann, liegt an meiner Leidenschaft, die sehr im Prosodischen angesiedelt ist. Ich bin einfach ein Mensch, der fasziniert ist von alter Mündlichkeit. Alte Märchen, alte Abzählreime, alte Repetitionen: Mit diesen Dingen ist man durch Sozialisation, durch Erziehung und Kindergarten sehr vertraut. Man merkt dann, dass man sehr strenge und starke mündliche patterns hat und dass die natürlich auch in die Schriftlichkeit Einzug erhalten. Das halte ich für unvermeidlich und auch sehr bereichernd.

Wimmer: Sie haben den Begriff „Sprechtext“ entwickelt. Was ist die Überlegung dahinter?

Gomringer: (In betont ernstem Tonfall) In dem zusammengesetzten, schönen Kompositum „Sprechtext“ sind beide Elemente enthalten. (lacht) Zum einen also „Text“: Nach unserem Verständnis ist dieser Begriff stark an der Schriftlichkeit orientiert. „Sprechen“ ist quasi das Rezept für diesen Text. Der Text erschließt sich durch das, was man mit ihm macht: Man soll ihn sprechen. Er öffnet sich unter Umständen viel eher, wenn man ihn spricht oder hört oder wenn er gesprochen wird, als wenn man ihn einfach liest.
Deshalb eignet sich der Begriff „Sprechtext“ besonders gut. Insgesamt krankt ja diese „Spoken Word“ Szene – die in Deutschland ja gar keinen Begriff für sich hat – an der Not eines Vokabulars. Es gibt keine ordentliche Terminologie. Mein Kollege Bastian Böttcher hat einen sehr schönen Ausdruck gebraucht: Wir sollten mal anregen, uns „Verbalisten“ zu nennen. Wir sind diejenigen, die alles verbalisieren. Das fand ich sehr gut. Im Englischen werden solche Texte „Spoken Word Pieces“ genannt. Sie sind im Prinzip also wie ein Musikstück, aber für das Instrument des Kehlkopfes geschrieben.
Außerdem gefällt mir das Konzeptionelle an diesem Begriff „Sprechtext“. Man beschreibt damit eine ganze Textgattung. Es gibt Lesetexte zum Lesen und Sprechtexte zum Sprechen. Es ist wirklich ein Text, der mit der Intention geschrieben wurde, dass zumindest ich ihn spreche und sprechen kann.

Wimmer: Kann ihn auch jeder andere sprechen?

Gomringer: Wenn ich gefragt werde, ob ich es gut finde, dass diese Texte andere sprechen, dann kann ich ganz klar sagen: Ja. Es soll sich jeder daran versuchen.
Aber es stimmt, ich schreibe sie mir vorwiegend selbst in den Mund und auf meine Sprechfertigkeit zu. Aber ich bin immer wieder überrascht, mit welchen Interpretationen andere kommen. Es ist interessant zu sehen, was auf dem Weg von mir als Autor mit dem nunmehr fremden Wesen „Text“ passiert, das entsteht, wenn ein anderer ihn liest. Denn ich muss wirklich sagen, dass damit der Text und ich noch einmal getrennte Wesen werden. Das geschieht vor allem, wenn der Text dann plötzlich dasteht. Sobald ein Text sich in einem Buch, also in einer Art „Container“ befindet – ein Buch ist ja nichts anderes, als ein Container –, dann gehört er einem ja gar nicht mehr. Man kehrt beim Lesen immer nur zu einem anfänglichen Gefühl zurück, das man mit dem Text hatte, als er einem noch selbst und ganz allein gehört hat. Als noch kein Mensch auf der Welt wusste, dass es ihn und mich und mich und ihn zusammen gab. (lacht)

Wimmer: Einige Ihrer Texte wurden bereits in viele Sprachen übersetzt, zum Teil auch in eher ungewöhnliche wie Bretonisch, Norwegisch oder Farsi. Wie stehen Sie zu Übersetzungen?

Gomringer: Übersetzungen generell sind ein Dilemma und eine schwere Aufgabe – und ein Segen. Es ist alles. Da ich ja oft der Sprachen nicht mächtig bin, in die meine Texte übersetzt werden, kann ich gar nicht sagen, ob den Texten nicht vielleicht auch durch eine bestimmte Nuance viel Gutes hinzukommt.
Als ich einmal mit einer norwegischen Dichterin zusammensitzen konnte und ganz gezielt über eine Übersetzung von einem meiner Texte sprechen durfte und damit auch auf die Übersetzung Einfluss nehmen konnte, war ich total überrascht über die Weite eines bestimmten Begriffsfeldes. Es war ein Begriff, der sich für mich als absolut abgeklärt dargestellt hat – und ich denke, für jeden anderen deutschen Leser auch.
Es ging um das Wort „Liebe“. In Norwegen gibt es zwei Begriffe dafür. Sozusagen eine Hohe Liebe, eine Art Minne, die nichts mit der Körperlichkeit zu tun hat, wie Eros und Agape. Aber irgendwie noch einmal anders, pragmatischer und in kleinen Nuancen verschieden. Es war eine große Herausforderung, in Diskussionen herauszufinden, was wir nun verändern und was ich mir denn dabei gedacht hätte: Welche Art von Liebe ich gemeint habe.
Das war spannend. Hier habe ich gemerkt, dass mein Text – völlig unverdienterweise – durch die Übersetzung noch eine ganz andere Ebene erreichen kann. Nur durch die schöne Arbeit dieser Übersetzerin, die schlau genug ist, sich diese Frage zu stellen. Sie muss sie sich auch stellen, wenn sie mit viel Bedacht übersetzen will.
Manchmal habe ich auch schon brachiale Fehler in den Übersetzungen gesehen. Da merkt man erst, wie wehrlos so ein Text ist. Dabei hat jeder Text auch ein sehr menschliches Wesen. Alles was wir machen, sieht aus wie wir und hat eine sehr große Ähnlichkeit mit uns als Wesen.

Wimmer: Wie ist es für Sie, die eigenen Texte in fremden Sprachen zu sehen?

Gomringer: Selbst übersetzt zu werden ist natürlich eine ganz seltsame Erfahrung. Auf einmal ruft die Hürriyet an, übersetzt einen Text von dir und dann steht er in einer türkischen Zeitung. Das Ganze hat auf mich noch einmal eine andere Wirkung:

Mein Gott, du siehst ja ganz anders aus! Im arabischen Kleide!

Ich glaube, so ein ähnliches Gefühl ist es, wenn die Eltern ihre Kinder loslassen müssen und sie in die Welt gehen. Man hat fast ein entfremdetes Gefühl. Es ist geradezu emotional.
Eine Übersetzung ist ganz klar ein frevlerischer Akt. Aber auch eine Erlösung. Dadurch ist die Sprache frei, kann international sein und das Wort wandert. Man hat wieder eine Chance, sich mit Menschen anderer Kulturen und Sprachen zu verbinden. Das ist natürlich ein Geschenk.

Wimmer: Ist Ihnen eine bestimmte Sprache besonders wichtig, in die Ihre Texte übertragen werden sollten?

Gomringer: Man stelle sich vor: Kaum sitzt ein Franzose am Tisch – was sprechen wir? Englisch. Ich kann kein Französisch, er kein Deutsch und so weiter. Ins Englische zu übersetzen und zu übertragen halte ich für ganz, ganz wichtig. Das ist halt einfach die Verbindung, dagegen kann man gar nichts sagen.
Weshalb ich auch dem Englischen so nahe bin: Es ist eine der lebhaftesten und schnellsten Sprachen. Da sie so viel gesprochen wird, passiert sehr viel mit dem Englischen. Es wird ein ganz flexibles Instrument daraus, sie kann sofort reagieren. Deshalb ist sie feiner gestimmt und feiner getuned als alle anderen Sprachen.

Wimmer: Sie setzen sich in Ihrem Werk intensiv mit der deutsch-jüdischen Geschichte auseinander. Ist es die Pflicht des Autors zu erinnern?

Gomringer: Die Pflicht des Autors ist ganz einfach, sich selbst zu erinnern. Dass er den Auftrag hat, alle möglichen Menschen zu erinnern, das sehe ich nicht so. Aber ein Autor muss sich erinnern und sich erinnern können, um eine gute Arbeit machen zu können. Das beginnt schon im Kleinsten. Du musst dich an etwas erinnern können, das du schon mal irgendwo aufgeschrieben hast, weil dein Gedächtnis sonst quälend ist. Das ist auch die Art des Sich-Erinnerns, das die Hausfrau braucht: Was stand jetzt noch mal auf der Liste, die ich verloren habe? Das ist aber nicht zu unterschätzen. Erinnerungen knüpfen sich an etwas Emotionales. Und dieses Gefühl darf einfach nicht untergehen. So geht es mir. Die Empfindung, die man dabei hat, wenn man zum ersten Mal einen Holocaust-Überlebenden befragt oder trifft – das bleibt einem immer. Diese Erinnerung lebt in einer zeitlich völlig unfixierten Bahn weiter. Damit setze ich mich mein Leben lang auseinander; ich vergesse diese Person ja nicht, so mich Gott von Alzheimer verschont. Dass mich die Erinnerung immer wieder zurückholen kann an den Punkt, an dem ich zutiefst berührt, betroffen gemacht und auch in meinem Wesen verändert wurde – das halte ich für sehr wichtig. Durch die Erinnerung kann ich auf diese Erfahrungen zurückgreifen.

Wimmer: Warum thematisieren Sie den Holocaust?

Gomringer: Weil mich das unheimlich betrifft. Es ist ein ganz großes Thema in meiner Familie und in meinem Leben. Und auch für die Menschen, mit denen ich zusammenlebe.
Ich habe früher immer gedacht, ich könnte nie mit einem Typen zusammen sein, der nicht gut Englisch spricht. Das fände ich blöd. Weil ich dann ganz viel von meiner Welt nicht mit ihm teilen könnte. Und jetzt, was fällt mir auf, je älter ich werde? Ich brauche einen Mann, der über den Holocaust genauso empfindet wie ich. Es ist mir schon fast egal, ob er Englisch kann oder nicht. Ich will damit nur zeigen, wie sich das in meinem Leben unheimlich verstärkt hat. Dieses Bedürfnis, mit einem Menschen, der in seinem Empfinden sehr deutsch ist, das alles nachvollziehen zu können. Wenn ich da sitze und völlig fassungslos bin.
Ich bin ja nicht die Betroffenheitsnudel, die die ganze Zeit darauf herumreitet, sondern es hat wirklich etwas mit einer ganz – nennen wir es „banalen“ – menschlichen und persönlichen Rührung zu tun. Das ist einfach ein Thema für mich. Ganz klar, dieses Thema ist auch absolut missbrauchbar, um in einen bestimmten geistigen Zustand zu kommen, in dem es sich mitunter auch gut arbeiten lässt. Und ich denke, dass jeder, der kreativ arbeitet, so einen Zugang braucht. Und ich sage jetzt nicht, dass der Holocaust mein Tor zur tieferen Empfindsamkeit ist. Sondern ich sage, dass ich Erfahrungen mit diesem Thema gemacht habe, die bei mir ein Tor geöffnet haben. Genau darum geht es heute noch viel mehr: Um den emotionalen Zugang. Deshalb laufen auch Filme wie Die Welle, denn der emotionale Zugang ist zeitlos.

Wimmer: Was kann ein Text über den Holocaust heute bewirken?

Gomringer: Es geht heute nicht mehr darum, den Menschen zu sagen:

Ui, Rechtsradikalismus ist böse.

Es geht darum, die Menschen im Kleineren fühlen zu lassen: Es ist beschämend und klein, wenn du einen Menschen auf der Straße anspuckst und ihn niedermachst. Oder wenn du nicht grüßt, weil er die falsche Haarfarbe hat. Man muss offensichtlich im Kleinsten wieder eine emotionale Stabilität in den Leuten erzeugen, damit man weiß: „Da kippt jetzt einer um und es laufen nicht alle vorbei“, sondern da gehen doch fünf, sechs, sieben Leute hin und gucken nach diesem Mitwesen und helfen, wenn etwas passiert ist. Es geht darum, dass wir nie wieder weggucken. Das sagen natürlich auch immer alle, aber genau das ist das Entscheidende. Wir dürfen nie wieder weggucken. Bei allem! Egal, ob jetzt das Nachbarskind geschlagen wird oder der Hund. Das beschäftigt mich unheimlich.
Ich bin ein großer Skeptiker. Ich habe furchtbare Ängste. Ich merke immer mehr, dass ich mitunter ein in Ängsten lebender Mensch bin. Und ich habe große Zweifel. Ich kann nicht mehr so jugendlich sicher sagen:

Ich hätte was gemacht, ich wäre aufgestanden!

Ich kann dazu nur noch sagen:

Ich hätte mir gewünscht, dass ich nicht weggelaufen wäre.

Oder:

Ich hätte mir gewünscht, dass ich den Mut gehabt hätte, jemandem Geld oder etwas zu Essen zuzustecken.

Ich setze mich immer intensiver damit auseinander, wie man auch ein unschuldiger Täter werden kann und umgekehrt. Ich fühle mich, als ob es keine Gewähr gäbe.

Wimmer: Wie geht das Thema „Holocaust“ mit den Sprechtexten zusammen?

Gomringer: Ich rede ja beim Vortrag in den Zungen anderer Leute. Dabei kann ich leicht betroffen machen und selbst betroffen klingen. Und im nächsten Moment lese ich einen anderen Text vor und dabei klinge ich wieder ganz anders. Dieser Bruch ist mir ganz wichtig. Dass die Leute sehen:

Aha, von einem Moment auf den nächsten anders.

So sind wir doch alle!
Es geht mir auch darum vorzuführen, wie sehr der Sprechakt verführt. Wie die Sirene zu singen, die den Odysseus fesselt – das ist Manipulation. Überhaupt der Gesang: Wenn ich singen will, würde es noch viel eher ins Ohr eingehen. Aber das Sprechen ist gleich die zweite Strophe nach dem Singen. Dann vielleicht erst kommt das Lesen. Das Lesen hat sozusagen eine flächendeckende Einschmierung. Großartig. Das Singen oder das Sprechen kann eine direkte Rezeption geben. Es ist komplett zeitgleich. Das ist beim Lesen anders: Du liest etwas und das sickert, das setzt sich. Später sorgt es für eine Politur, wenn du es noch einmal liest und es überdenkst. Aber das Sprechen kann etwas sehr Machtvolles sein.

Wimmer: Wenn Sie die Macht des gesprochenen Wortes thematisieren – was mögen Sie am menschlichen Sprechen?

Gomringer: Die Sprache kann sehr effektiv sein. Und ich selbst lasse mich gerne anregen durch Sprüche: Ich höre den Leuten gerne zu. Die Sprache hat immer etwas Theatralisches und ich mag etwas, das mehrere Medien verbindet. Ein Ideentransport mit Effekt! (begeistert) Das mag ich! Das find ich total gut! Ich möchte überhaupt nur etwas machen, das ich mir selbst auch anhören und anschauen würde. Das hat viel mit der persönlichen Einstellung und dem persönlichen Liking zu tun.
Das gesprochene Wort ist für mich die Verbindung zur ältesten Menschheit. Und zur Menschlichkeit! Ich glaube, allein der Umstand, dass wir über die Sprache so manipulierbar sind, sagt etwas ganz Zartes und Wesenhaftes über den Menschen aus. – Und ich habe einfach sehr gute Selbsterfahrungen mit der Sprache gemacht. Ich habe immer gerne zugehört.

Wimmer: Trotz alledem: Hat die Sprache auch Grenzen?

Gomringer: Ja klar. Da gibt es den schönen Wittgensteinschen Satz aus seinem Tractatus:

Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenze meiner Welt.

Das ist schon so. Die Sprache hat Grenzen. Wie oft finden wir uns sprachlos! Die Momente der Sprachlosigkeit sind letztendlich die wichtigsten Spracherfahrungen. Denn sobald sich danach etwas in uns gelöst hat und wir darüber nachdenken können, was passiert ist – was ist dann unser erstes Anliegen? Die gemachte Erfahrung zu verbalisieren.
Gleichwertig dazu gibt es die Erfahrung der Stille und des Stummen: Wenn eine gemachte Erfahrung so schwer wiegt, dass sie (aus Scham oder aus anderen Gründen) nicht besprochen werden kann. Aber im Grunde glaube ich, dass wir ein unglaubliches Mitteilungsbedürfnis haben und uns untereinander sehr verwandt fühlen. Der Mensch den Menschen.

Wimmer: In Ihrem Werk greifen Sie oft antike Mythen und traditionelles Gedankengut auf. Ist das ein Plädoyer für die humanistische Bildung?

Gomringer: Man kann dem gar nicht entgehen, wenn man es selbst über sich hat ergehen lassen. Ich bin der klassische Fall eines Schülers, der gern in die Schule gegangen ist, der da viel mitbekommen hat und der sich sehr gerne mit den „toten Sprachen“ befasst hat.
Ein anderes Beispiel: Ich war vor kurzem an einer Schule und habe etwa zwei Stunden mit den Schülern geredet und eine Lesung gehalten. Dann sagt ein Schüler zu mir:

Ja, und bedeuten die Texte auch irgendwas? Ist da was drin? Soll ich da was mitnehmen?

Dann sitzt du natürlich da und bist erst einmal total gekränkt und im zweiten Moment denke ich: Großartig! Du bist genau das, was ich vorführen wollte! Ich habe ihm dann geantwortet:

An dir sind jetzt innerhalb dieser eineinhalb Stunden Text ungefähr 120 Zitate aus der Literatur plus Anspielungen – also alles, was wir als Intertextualität bezeichnen würden – vorbeigeflossen. Und du hast es nicht gemerkt. Entweder hörst du nicht gut hin oder es läuft alles an dir vorbei, weil du es nicht kennst.

Das bedeutet wiederum, dass mein Schreiben ein Plädoyer für Bildung sein kann. Wie Literatur immer einen Verweischarakter auf irgendetwas hat. Wenn du ein nicht-fühlender Mensch bist, wirst du nie ein Lied nachvollziehen können. Oder hast du nie Liebeskummer gehabt, dann denkst du dir:

Oh, worüber singt denn der? Wat is’n dat?

Ich denke mir:

The richer the life, the richer the experience.

Das glaube ich wirklich. Je mehr du in dich aufnimmst, je klarer du etwas verarbeitest, desto mehr Freude, mehr Schmerz und mehr von dem anderen furchtbaren Scheiß kannst du auch damit erleben. Du verstehst mehr. Die innocentia ist dir geraubt – und das mit dem Effekt eines erfühlbareren und erfüllteren Lebens. „Life without pleasure is no life.“ Und ich glaube, das gilt auch für den Schmerz. So komme ich von der Intertextualität zu etwas, das Inter-Emotionalität genannt werden könnte. Weil das in der Menschheit sehr ähnlich gelagert ist.

Wimmer: Braucht man die alten Traditionen, um das Neue zu verstehen?

Gomringer: Wer in Europa lebt, hat dann auf jeden Fall mehr Verständnis für seine Kultur. Da erschließt sich einfach mehr. Ich bin letztens mit einer Frau, die in der DDR aufgewachsen ist und sozialisiert wurde, auf der 5th Avenue in New York entlanggelaufen. Dort gibt es auf dem Rockefeller Plaza eine große Statue von Atlas, der die Welt stemmt. Daraufhin sagt sie zu mir:

Ach, das ist ja schön! Der trägt ja so einen Ball.

Dabei ist sie eine ganz clevere und supersharpe Frau, die ich wahnsinnig bewundere. Das fand ich ganz irre. Und dann habe ich gemerkt: Ich gehe mit einer geradezu chauvinistischen Selbstverständlichkeit mit Dingen um, die ich mir angeeignet habe. Und gleichzeitig vergebe ich mir großmütig, wenn ich zum Beispiel nicht weiß, wie ein Zweitaktmotor funktioniert – was ja ein Fehler meinerseits ist!
Ich halte es für einen Fehler, Dinge nicht zu wissen. Ich mag das nicht, diese Mode des „Ich weiß das nicht. Na und?“. Das finde ich ganz schrecklich! Das macht mich wahnsinnig. Auf der anderen Seite muss man sich natürlich all die Dinge vergeben, die man sich bisher nicht erschlossen hat. Aber ich denke, es ist ein bewusster Arbeitsauftrag an jeden Menschen, sich in seinem Rahmen zu bilden. Ich sage das wirklich mit einer Bestimmtheit, weil ich Leute erlebt habe, die ein Leben lang nach Bildung gestrebt haben, denen sie aber von Anfang an wirklich verschlossen war. Wie viele Leben wären anders verlaufen, wenn sie Alternativen gekannt hätten. Oder andere Dinge gewusst hätten. In den Zeiten, in denen es hart wird, merkt man dann: Es gibt keinerlei Ersatzdimension, in die du mal ausweichen kannst, und so findest du keine Besänftigung und keine Nahrung in einer anderen Welt. Das ist dann die Grenze deiner Welt, wenn du dir die Wege zu anderen Welten nicht erschließen kannst. Das kann ein unheimliches Dilemma sein.

Wimmer: Neben den Mythen speisen auch intertextuelle Verweise Ihre Texte. Welche Vorbilder haben Sie geprägt und wie gehen Sie mit ihnen um?

Gomringer: Mit sehr viel Respekt. Ich bin ein großer Fan von amerikanischen Schreibern aus dem frühen 20. Jahrhundert. Die großen Transzendentalisten sind wichtig für mich. Überhaupt hat der Transzendentalismus immer eine Rolle für mich gespielt. Etwas, das von hier nach da wandert und sich aber bewusst ist, dass es beide Sphären gibt. Ich merke das auch an der Überlegung, dass man in zwei Sphären arbeitet: In der Schrift und der Mündlichkeit. Um Namen zu nennen: Walt Whitman und William Cullen Bryant.
Ich habe früher so eine Ausgabe gehabt: Pocket Penguin Book of American Philosophers and Poets. Das war mein Buch! Ich bin mit diesem Buch wirklich durch mein Leben gewandert! Das sieht mittlerweile aus wie ein abgeratzter Teddybär. Ich habe furchtbar viele Sachen darin auswendig gelernt und mit mir geschleppt und dann zum Glück im Studium wiedererkannt! Da hat sich für mich ein Kreis geschlossen. Viele, quasi geliehene, Wörter aus den Mündern anderer, aus ihren Schriften und Kielfedern haben mir unheimlich viel Trost und Weite versprochen – und gegeben.
Ich mag Marcel Beyer, mag – klar – Michael Lenz; er ist ein sehr guter Sprechanalytiker. Und ich halte für ganz wichtig, was mein Vater gemacht hat. So innovativ und sprachverliebt und sprachverspielt gab es seitdem nichts mehr. Heine ist ganz wichtig für mich. Ach, ganz ehrlich: Wenn ich die Liste nicht fortsetzen könnte, wäre ich ganz arm dran.

Wimmer: Was und wann lesen Sie selbst gerne?

Gomringer: Ich lese nicht so gerne deutsches Jetzt. Ganz komisch. Ich finde meine dichterische Anregung eher im Englischen. Auch für das Deutsche. Es fällt mir leichter, meine Sprache zu betrachten, wenn ich mich mit einer anderen Sprache beschäftige. Dann habe ich einen anderen Blick auf das Deutsche.
Ein Buch darf nicht zu dick sein. Ich bin wirklich ein Freund schmaler Bücher. (lacht) Klar lese ich auch mal ein dickes Buch! Aber ich muss überhaupt sagen, dass ich leider nicht viel lese. Auf Reisen lese ich gar nicht oder sehr selten. Zum Lesen braucht es immer einen Modus, den ich anschalten muss, und wenn der nicht angeschaltet werden kann, dann geht es auch nicht. Ich bin ein großer Fernsehgucker! Wirklich! (lacht)

Wimmer: Wieso das Fernsehen? Was gefällt Ihnen daran?

Gomringer: Ich kann sehr angeregt werden durch das Fernsehen. Ich habe auch manchmal das Gefühl, das muss man sehen, um mit der Menschheit im Kontakt zu bleiben. Ich bin ein absoluter Einschalter. Echt. Ich gucke mir etwas an und nehme am Leben anderer Leute teil und finde das toll.
Das ist ja auch eine Art, Geschichten zu erzählen. Und irgendwie mag ich das. Es ist bunt, es ist verschieden. Das Fernsehen entspricht meinem Geschichtenhunger sehr. Ich lasse mir gerne gute Geschichten erzählen, die mir ein „Aha“ entlocken, die mich irritieren. Deshalb auch meine Dissertation zum Thema Horrorfilm. Ich beschäftige mich mit einem Genre, das auf die Emotionalität setzt. Und zwar gezielt! Das ist reine Mixtur! Es ist wie ein Rezept, das man nachkocht. Und wenn es gelingt, dann haben sie mit guten Zutaten gekocht. Das will ich sehen. Ich will sehen, wie die mich erschrecken wollen.

Wimmer: Was fasziniert Sie so an der Sprache und an der Sprachlosigkeit?

Gomringer: Sie ist mein Werkzeug. Ich habe sonst nicht so viel anderes. Und doch ist es unter anderem das größte Gebiet mit der längsten Geschichte – insofern habe ich ein riesiges Feld zu beackern. Mich freut es auch, so viel darin zu tun zu haben. Es hört ja nicht auf. Das Schreiben arbeitet mit einem unerschöpflichen Instrumentarium. Auf jeder Ebene! Ich kann mich auch mit Schreibgeräten auseinandersetzen, mit Papierarten und so weiter. Es gibt ja genug Autoren, die das wirklich mit einer Freude machen und mit einer großen Lust behandeln. Das ist doch faszinierend, dass man sich in einer Welt findet, die so komplex ist, dass sie sich schon wieder ironisieren kann. Walter Moers z.B., Die Stadt der träumenden Bücher. Dass es so etwas gibt!
Ganz klar: Es geht um Signifikant und Signifikat. Das Wort hat einen Gegenstand und trägt zugleich etwas sehr Magisches in sich. Es leuchtet mir ein, dass die Sprache etwas sehr Heiliges, etwas sehr Gefährdetes und etwas sehr Gefährliches ist. All das! Und über welches Gebiet kann man das schon sagen? Das Wort verspricht so viel Segen und hat so viel Segnung kaputt gemacht.

Wimmer: Sie stellen als freie Schriftstellerin Ihre Arbeit ja ganz in den Dienst des Wortes.

Gomringer: Das finde ich total spannend. Aber ich habe auch meine Probleme mit diesem Gefühl, ein freier Schriftsteller zu sein. Das habe ich mir wirklich nicht ausgesucht. Das war nie mein Wunsch. Ich wäre gerne etwas Ordentliches. (lacht) Eigentlich bin ich eine verhinderte Ärztin, das wäre meine Leidenschaft gewesen. Und ich denke auch immer noch darüber nach, ob ich das nicht mal machen soll…
Man tritt als Autor auf und muss sich von den Mitkollegen viel Kritik anhören, weil diese Szene einfach so klein-groß ist. Da gibt es die vermeintliche A-Liga. Die Superprominenz, die immer im Feuilleton des Spiegel und der FAZ ist und dann gibt es ganz viele, die gerne dort wären. Dann wiederum gibt es auch solche, die davon leben wollen, und solche, die davon leben können.
Ich kann manchmal durch das Ansehen, das mir die anderen entgegenbringen, ziemlich genau ausmachen, wo ich mich befinde. Manchmal verschwindet das. Dann merkt man:

Oh, man ist schon ein halbes Jahr nicht mehr groß in der Presse gewesen.

Dabei spielt sich viel von meinem Leben in anderen Orten ab – das wird ja hier nicht berichtet. Dass man beispielsweise in einem halben Jahr im Kongo gelesen hat, anschließend in New York und in Berkeley – das wissen die Leute ja nicht. Sie fragen dann immer:

Geht es denn noch? Machst du denn noch irgendwas?

Dann stellst du dich hin und sagst: „Ja, ich war da und da“ – Nein, das machst du natürlich nicht! Du sagst:

Ja, es geht. Vielen Dank.

Aber du klingst immer ein bisschen mitleid erregend, finde ich. (lacht) Dabei läuft es sehr gut.

Wimmer: Sie sind in der FAZ! Dort hat man Sie als „Sprachmusikantin“ beschrieben. Wie sind Sie in diese A-Liga aufgestiegen?

Gomringer: Es ist natürlich völlig unplanbar. Ich habe viele junge Leute, die auf mich zukommen und sagen:

Wie macht man das? Wie kann man das werden?

Puh, das ist so kompliziert wie, nun ja, wie vor der Erfindung des Flaschenzuges einen Stein auf zehn Meter Höhe zu heben. Das kann ganz schwer in die Hose gehen. Aber es gibt ein paar Wege hinein, wie in jedes Geschäft. Gut ist es, wenn man produzieren kann. Wenn die Leute viel von sich herauskriegen. Es hilft sehr, wenn man in verschiedenen Arten schreiben kann. Wenn man also auch das journalistische Schreiben drauf hat, weil du dann etwas für das Radio machen kannst. Oder du kannst auch mal einen Essay schreiben oder eine Übersetzung machen. Das kann dir auch finanziell die Haut retten. Solche Sachen sollte man bedenken.
Ich selbst kann nicht viel produzieren. Ich bin ein komisches Beispiel dafür. Bei mir hat es jetzt mal geklappt; was das Rezept für die nächsten Jahre sein kann und sein soll, weiß ich noch nicht.

Wimmer: Sie sind mittlerweile auch in Schulbüchern vertreten. Schon mal daran gedacht, dass Sie sich damit in das ,Kulturelle Gedächtnis‘ einschreiben?

Gomringer: Das ist natürlich schmeichelhaft. Aber das ist auch total schrecklich. Dadurch ist die Produktion auf einmal sehr fix. Man ist in einer Schublade: Klar, ich bin die Tante, die diese Sprechsachen macht und Performance-Lyrik und solchen Kram. Das bin ich auch alles! Aber das schließt ja im Kopf der anderen oft einfach aus, dass man auch andere Sachen macht.
Das kulturelle Gedächtnis ist extrem davon abhängig, wer dieses Gedächtnis konstituiert und wer die Dinge aussucht, die in dieses Gedächtnis einfließen sollen. Insofern bin ich das „Opfer“ von Rezipienten. Aber das zeigt die Zeit. Da kann ich natürlich erst einmal noch nichts dazu sagen. Ich finde diesen Gedanken spannend – aber es ist auch etwas völlig Übermenschliches. Mich darf und kann das eigentlich nicht berühren. Ich habe darauf ja keinen Einfluss. Wenn ich in einem Buch vorkomme, dann hat das etwas mit dem Konzept des Buchmachers zu tun. Das liegt außerhalb meines Urteilsvermögens.
Den Wunsch, irgendwie berühmt zu werden, finde ich so kindisch und so schrecklich – aber den hat natürlich jemand, der so arbeitet wie ich. Ein gewisser Grad an Bekanntheit ist natürlich immer förderlich für das, was man macht, und eben auch für diese Kunstrichtung. Das ist mir schon wichtig: Dass diese Kunstrichtung damit gefördert wird. I can shine a spot light.

Wimmer: Zur Frankfurter Buchmesse im September 2008 soll Ihr neues Buch Klimaforschung erscheinen. Was erwartet den Leser?

Gomringer: Dieses neue Buch ist ein Konzeptbuch! (voller Vorfreude) Da bin ich besonders stolz darauf. Es heißt Klimaforschung. Es ist ein tolles Buch! (lacht) Es ist ein für mich bisher einzigartiger Akt schwerer Arbeit. Ich habe noch nie ein Buch derart durchkonzeptioniert. Die Silbentrennung ist schon in Kapitel gegliedert. Es gibt welche, die sich mit der Sprache als Nahrungsmittel befassen, welche, die sich mit der Politik des Engsten, des Intimsten beschäftigen, und so weiter. Aber die Klimaforschung ist eine Sammlung von Texten der letzten vier Jahre. Sie beschreiben das Klima um mich herum. Jedes Gedicht hat ein Wetter, in dem es entsteht – im wahrsten Sinne. Ich sitze drei Stunden am Schreibtisch und dazu gibt es ein Wetter. Ein Wetter im Herzen und eins vor der Tür. Dann ist folglich ein Gedichtband, der sich über vier Jahre erstreckt, der Durchschnitt einer Wetterlage an einem bestimmten Ort – also ein Klima. Diese Texte sind die Erforschung des Klimas um mich herum. Es gibt die Unterscheidung in ein „Mikroklima“, das sind die Texte, die sich mit dem Nächsten beschäftigen. Sozusagen, was sich in Zimmer und Wiese tut. Dann gibt es das „Mesoklima“, das geht schon ein bisschen weiter hinaus: Das betrifft Land und Länder. Und letztlich folgt das „Makroklima“, das meint Welt und Welten.

Wimmer: Was wird neu daran sein?

Gomringer: Ich bin total aufgeregt. Zu dem Buch wird es eine CD geben, die als komplettes Hörkonzept durchgeht. Es sind ein paar Aufnahmen mit verschiedenen Künstlern darauf und es gibt auch was zu gucken. Eigentlich wollen wir eine DVD/CD machen. Außerdem habe ich ein paar Texte in Klimaforschung, die zum Schauen sind. Ich kann ganz schlecht zeichnen, aber irgend wie habe ich das Gefühl, dass ich etwas Lustiges machen möchte. Ich finde diese blöden, schlechten Zeichnungen lustig und deshalb sind die da drin.
Das neue Buch ist von der Konzeption her etwas sehr Persönliches. Es ist im Prinzip wirklich ein Reader zu mir in den letzten vier Jahren. Ich bin froh, dass mein Verlag sich auf so etwas einlässt. Solche Bücher dürfen sich sonst nur Oskar Pastior und Friederike Mayröcker erlauben. Aber ich merke, dass es das sehr wichtig ist: Ich beschäftige mich mit dem Wetter um mich herum. Durch den Referenzrahmen von vier Jahren sind Dinge darin, die jeden einen Anschluss finden lassen in der Lektüre. Es hat ja jeder für sich in dieser Zeit vier Jahre verbracht. Bei mir sind es vier Jahre unter schwierigen Bedingungen – klimatisch sehr wechselhaft.

Wimmer: Liebe Frau Gomringer, herzlichen Dank für das bereichernde Gespräch!

Aus: Andrea Bartl (Hrsg.): Transitträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Wißner-Verlag, 2009

 

FÜR NORA

man lädt nach bamberg ein zu bayerns glanz
zur villa der concordia der barocken
1
da lässt im garten sich am wasser hocken
ein offner geist umfängt dich gar und ganz

da wird von fremden künstlern deutsch gesprochen
sie bilden jahr für jahr der gäste kranz
erwählt nach rang nicht nach der welt distanz
wer aber weiss zur arbeit sie zu locken

es ist der name nora schnell zur stelle
als direktorin dichterin bekannt
ist sie der sprache eine reiche quelle

und unter uns ist sie sehr weit verwandt
die neffen nichten kennen längst sie alle
sie wird als tante hoch geschätzt genannt

Eugen Gomringer

 

 

Katja Auer und Olaf Przybilla im Gespräch mit Nora Gomringer: „Die Kennedys von Wurlitz“

Nora Gomringer im Gespräch mit Franziska Wotzinger: Ohne Körper keine Stimme

Nora Gomringer im E-Mail-Interview mit Isabel Bogdan

Georg Langenhorst: Quecksilbrig, kraftstrotzend, katholisch: Nora Gomringer, eine Schriftstellerin im Zeitalter der Postmoderne

 

 

Literarische Spiele mit Normalität. Mit Nora Gomringer und Holger Schulze, Moderation: Katja Kullmann im Literaturforum im Brecht-Haus am 21.4.2021

 

Nora Gomringer – One Day – Ein Tag Spurensuche in der Lyrik-Bibliothek

 

Fakten und Vermutungen zur AutorinKLGIMDb
FacebookYouTubeTattoo + Poesie-Talk PIA
Porträtgalerie: Autorenarchiv Susanne Schleyer + Keystone-SDA +
Dirk Skibas Autorenporträts + Galerie Foto Gezett +
Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Brigitte Friedrich Autorenfotos
shi yankou

 

Nora Gomringer slamt ihr „Ursprungsalphabet“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00