Oskar Pastior: ügel beg und ügel tal (CD)

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Oskar Pastior: ügel beg und ügel tal

Pastior-ügel beg und ügel tal

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Oskar Pastior liest Gedichte aus 30 Jahren:

diese CD, zuerst 1997 veröffentlicht auf dem Musiklabel der Berliner Akademie der Künste und erschienen zu Oskar Pastiors 70. Geburtstag, bringt einen Querschnitt durch Pastiors poetisches Werk. Er selbst meint dazu:

„Jede Lesung ist anders. An den einzelnen Gedichten dieser CD hängen eine Menge Vergegenwärtigungen aus öffentlichen Lesungen von sagen wir mal 30 Jahren – Sinnbelehnungsknötchen wie Klangverfestigungs-erweiterungen, die dann doch jedesmal in ihrem Kontext anderer Texte „wie zum ersten Mal“ sich der Hygiene ihrer Autorschaft gestellt hatten. Die sind mir am liebsten. In der Auswahl hier nun – die ausserdem – wie Sie den Titeln und der Bibliographie entnehmen können – ziemlich unchronologisch läuft, sind sie wieder neugierig wie eh und je, vor allem auf den ephemeren Arbeitsbeschaffungseffekt, den sie nun mal haben, wenn sie ihn denn kriegen – sie bieten wahrlich „ügel beg und ügel tal“ Wanderarbeit, d.h. auch eine Arbeitswanderung, an. Hören Sie, Kopfkehlchen, hören Sie! Ich biete Ihnen meine Arbeit Ihres Hörens an. Das Kehlköpfchen nämlich lebt im verzweigten Höricht, kommt aber erst zustande, indem es aufsagt, wie das verzweigte Höricht in ihm uns heute den Vogel geigt – Lesung heißt die Buchung, doch wir hören „Äsung“; der Autor sitzt im Publikum und lernt gerade buchstabieren; ich schreibe mit der Stimmritze im Kopf, da pfeift der Wind das Letternspiel ab – sie blättern herum und hinaus; es ist zum Bücherkriegen audiovirtuell.“

Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2001

 

Der Mensch mit dem geflügelten Ohr

– Radiorede auf Oskar Pastior und seine Hörpoesie. –

Freut euch, Leute, freundliche Lautgruppen sind einmarschiert, sie haben die Rundgebäude besetzt, alle Druckereimaschinen läuten, alle Redakteure haben neue Schleifen, auch neue Eulen-Säulen sind im Anrollen. Heute ist Feiertag. Euer Feuerlöscher schäumt Poesie, ei wie fein deutsch wir schreiben, Anlaut, Umlaut, Ablaut. Freut euch, geläuterte Benediktbeurer, die hoyle Welt mult.

Es ist Oskar Pastior, der diese Lautgruppen ausgesandt hat und seien Sie bitte ganz Ohr: diese Lautgruppen haben heute nicht nur Rundgebäude, sondern sogar Rundfunkgebäude besetzt, was Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, im vollen Maße zugute kommen wird. Oskar Pastior ist nämlich ein Dichter, der aus allen Lauten, der sogar aus Geräuschen, ja selbst aus dem Strahl des Feuerlöschers Poesie hervorgehen läßt. Das kommt daher, daß Oskar Pastior der Mensch mit dem geflügelten Ohr ist, und zwar ist er nicht nur mit einem vollkommenen menschlichen Ohr begabt, mit einem terrestrischen Ohr, das aber ganz fremde Frequenzbereiche wahrnehmen kann, sondern er ist geradezu ein Vulkanier wie Mister Spock aus dem Raumschiff Enterprise, der die Sprache, die die elektronischen Sensoren aus dem Universum übermitteln, hören kann. Oskar Pastiors Ohr reicht überall hin, wo etwas zu hören ist, aber auch das Allergeläufigste wird von ihm aufgenommen, auf den Kopf gestellt, in Frage gestellt, doppelt negiert. Am Ende findet mit dem zweimal verneintem Wort nicht nur ein dialektischer, sondern ein chemischer Prozeß statt, es wird koaguliert, das heißt, es wird ausgeflockt und gerinnt zu einer Metapher.

ein ohr geht ironisch spazieren es begrüßt die zunehmende entropie verneint aber eine lupine die wolkensäule wird eingeführt das ohr macht sich durch klangverschiebung zur dorischen schnecke ein logos gibt sich als transvestit zu erkennen das ohr hört trotzdem weiter ein präfix wird angeschmiedet ein ablaut stellt allgemeines in frage und evoziert späte zeit hierauf wird ein abgas verdinglicht gleichzeitig ein geläufiges dialektwort durch doppelte negation vertieft und gehoben die einfache lupine ist bösartig aber nicht rachsüchtig sie bestätigt das ohr das ohr ist ironisch aber nicht unwissend es bestätigt die zunehmende entropie historifizierende wiederholung der wolkensäule suggeriert ohne ihn auszusprechen den gedanken daß alles in und nichts zwischen den zeilen steht so intensiv daß ein zwischen den zeilen schwebendes abgas den gedanken in frage stellt und gleichzeitig aber nicht ursächlich bedingt die dorische schnecke bestätigt hierauf stellen ein paar an und für sich insignifikante reizwörter sich gegenseitig in abrede werden aber durch die abwesenheit der und im kontrast zur späten zeit als präsent und wiederholbar gedacht bzw allgemein attestiert seinem homonym zu einer metafer koaguliert in der sich eine der beiden verneinungen skeptisch zurücknimmt weil das gedicht hier schließt ist die metafer sehr ernst dieser ernst überträgt sich dem ganzen gedicht das ganze gedicht bestätigt einen komplexen tatbestand und stellt sich positiv in frage

Oskar Pastior hört also nicht nur genauer und von weiter her, er ist auch in der Lage, das, was er gehört hat, in einer ihm eigenen Sprache wiederzugeben. Seine Sprachgebilde sind dabei Verlautbarungen, die genau dem Frequenzbereich entsprechen, den er uns als Erfahrungsraum erschlossen hat, und zwar sind es Tongebilde, die einem sinnvollen Zusammenhang folgen und trotzdem Beschreibungen von akustischen Vorgängen und auditiven Ereignissen sind, die außerhalb unserer alltäglichen Sinneserfahrungen liegen. Oskar Pastiors Frequenzbereich liegt tatsächlich außerhalb der Nieder- und Höchstfrequenzbereiche, die wir aus der Physik kennen. Er liegt in unserem eigenen Kopf. Hören Sie, wie dort ein solches Tongebilde durch alle Geräuschvermittlungsinstrumente und -organe hindurch – und zwar in allerbester Tonqualität, hi-fi, zustande kommt.

Das Hi-fi-Höricht ist äußerst fein gesponnen. Der Hörer vernimmt das Geräusch, das sein Ohr beim Hören von Geräuschen macht, die sein Rundfunkempfänger beim Hervorbringen von Geräuschen macht, die das zu diesem Zweck abgespielte Tonband beim Abspielen von Geräuschen macht, die das Mikrophon beim Aufnehmen von Geräuschen macht, die das Ohr der aufgenommenen Person beim Hören von Geräuschen macht, die eine große Windstille beim Verschlucken kleiner Windstillen macht.

Oskar Pastior nennt diese Tongebilde „Höricht“. Diese Höricht-Texte führen vor, daß wir die Welt nicht nur wahrnehmen, sondern auch erfinden können, und zwar mit Hilfe der Sprache. Die Schullogik ist aufgehoben, es gibt keinen „Satz vom ausgeschlossenen Dritten“ und auch kein „Identitäts“-Prinzip mehr, die Wörter werden umgedreht und in ungewohnte Zusammenhänge gebracht, und siehe da: es zeigt sich, daß noch etwas anderes als das Vermutete dahintersteckt. Indem nämlich Pastior die Wörter umdreht, dreht er ja nicht nur die eingeübten Bedeutungen, sondern auch die Dinge um, die mit jenen bezeichnet und mit diesen in die bekannten Kontexte eingeordnet sind. In dem Höricht von den Lippenblütlern zum Beispiel heißt es: „Wenn das Gaumensegel flattert, beweisen die frei sich vermehrenden Axiome, die Lippenblütler also, eine Art Haftung nach innen und außen.“ Ja, gibt es einen schöneren, zugleich aber auch richtigeren und falscheren Satz über das Entstehen von Gedanken beim Sprechen? „Wenn das Gaumensegel flattert, beweisen die frei sich vermehrenden Axiome, die Lippenblütler also, eine Art Haftung nach innen und außen.“ Ja, wo ist je schöner, aber auch zugleich genauer (im magischen Sinne) und ungenauer (im realistischen Sinne) beschrieben worden, daß ein Axiom ein Satz ist, der weder bewiesen werden kann noch bewiesen zu werden braucht? In diesem Sinne ist Einsteins Schrift über die Relativitätstheorie ein Höricht. Max Born schrieb über diese Schrift als von einem „Kunstwerk“ aus „physikalischer Intuition“, das „damals wenig Zusammenhang mit empirischen Tatsachen hatte“. Hier ist auch eine Überprüfung des Realismusgedankens in der Literatur nötig, denn das „Ungenaue“ und das „Falsche“, das man von realistischer Seite her recht schnell als solches denunziert, wird auf einmal auf ganz andere Weise fündig. Das Ungenaue ist nicht das Nichtgenaue, und das Falsche ist nicht das Nichtrichtige, sondern beide sind die gerade nicht wahrnehmbaren anderen Seiten des Genauen und des Richtigen. Das Genaue und das Richtige werden umgedreht, nach allen Seiten gewendet, total vertauscht, und es stellt sich heraus, daß alles auch sein Gegenteil ist, so wie es sich bewegt im vierdimensionalen Zeit – Raum – Kontinuum.

Die falsche Forelle ist ein Höricht für Quadrophonie und wendet sich auch nur an vierohrige Hörer. Zu Beginn singt die falsche Forelle ein richtiges Lied. Hierauf singt ein richtiger Wanderer ein falsches Lied. Hierauf erfolgt ein Protest gegen das richtige Lied der falschen Forelle von der falschen Seite. Hierauf erfolgt ein Lob für das falsche Lied des richtigen Wanderers, aber von der richtigen Seite. Hierauf wechseln die Forelle und der Wanderer ihr Lied, singen es aber von der falschen Seite. Der hierauf einsetzende falsche Protest gegen die Falschseitigkeit der Lieder kommt zwar von der richtigen Seite, verwechselt aber die Lieder, während das hierauf sofort einsetzende Lob für den falschen Protest zwar von der richtigen Seite erfolgt, aber falsch ankommt. Hierauf singen die Forelle und der Wanderer gemeinsam „die Gedanken sind frei“, tun das aber mit vertauschten Rollen, so daß der hierauf einsetzende Protest von dem gleichzeitig einsetzenden Lob nicht zu trennen ist. Hierauf werden ein falscher Wanderer und eine richtige Forelle mit je einem Liedchen eingeführt, und die Quadrophonie feiert weitere Triumphe von allen Seiten.

Was geschieht also, wenn die Wörter gedreht werden, und wenn mit den gedrehten Wörtern auch die Dinge gedreht werden? Oskar Pastiors Hör-Poesie führt dieses Phänomen vor. Denn in den Texten selbst ist der Weg beschrieben vom sicheren Bestand der Sprache (woran sich der mutlose Leser oder Hörer immer gern halten möchte) bis zum ungreifbaren, zum schier sich verflüchtigenden, zum ungreifbaren Schein (woran es aber kein Festhalten mehr gibt). Pastior führt die Welt des „bedeutenden“ Seins in die – wie Nietzsche sagt – „Welt des schönen Scheins“ über. Man meint, er folge einer Idee Queneaus, der einmal gesagt hat, der Poet zerstöre in seinem Suchen die Dinge, indem er die Wörter zerstört, mit denen die Dinge benennbar waren, und dann, wenn er von seinem Unterfangen zu ihnen wieder zurückkehren will, findet er nicht mehr die gleichen Dinge vor. Oskar Pastior macht scheinbar festgelegte Bedeutungen zweiwertig, doppeldeutig, vielschichtig, indem er die Wörter gewaltsam aufbricht, die Bruchstücke neu zusammenfügt und so neue Wörter schafft, die an alte Bedeutungen erinnern und zugleich neue Bedeutungen evozieren.

Die Ballade vom defekten Kabel

ADAFACTAS
Cowlbl
Ed rumplnz kataraktasch-lich

Uotrfawls
aachabrawnkts Brambl
aachr dohts…

Schlochtehz ihm
schlochtehz ihm
ehs klaren Zohn

Ihn Uotrfawls

Humrem hä?
Do humrem
Nodo humrem
kaineschfawls

Ehs istolt ain däfäktäs
rumpltsch
traktaz
ä nedderschtilchz
Rompl-Grompt

Cowlbl o Cowlbl wottä
Cowlbl-gotz!

Gehbät uns ain
adakuats Ch-bell
ntmr hiechffn
so-trumpltsch Bvchuelltr
aasm
Naawbl

Oskar Pastiors Arbeit mit der Sprache ist ein fröhliches Tun, das am Ende die Sprache gar nicht zerstört, sondern frei macht von Schlacken, transparent für neue Bedeutungen. Oft stellen sich diese neuen Bedeutungen überraschend ein, so überraschend, daß man sie nicht als wortwörtliche Bedeutungen wiedererkennt. Ein jahrelanger unbedachter übertragener Gebrauch hat uns die Wörter der Sprache nur noch als Metaphern erscheinen lassen. Dieser verhüllte, dieser verhüllende Gebrauch hat uns vom ursprünglichen Wortsinn entfernt; und wenn nun Oskar Pastior diese geflügelten Worte auffliegen läßt, dann werden wir mit einem Male gewahr, daß sie sich selbständig gemacht haben und keine logischen und realistischen Handgriffe ihrer mehr habhaft werden.

Olehoff warf die Flinte ins Korn
und auch andere Redensarten
zu gefährlich schien ihr Versagen
seit die geflügelten Worte
in Schwarmwolken bald
hin und bald her die
Täler verfinsterten und
keine Kugel sie traf

Geflügeltes Ohr, geflügelte Worte: das Werk Oskar Pastiors ist Hör-Poesie. Alle seine Schriften und Hörspiele sind Hörichte; sie führen vom Gewohnten ins Ungewohnte, sind Abenteuer Vom Sichersten ins Tausendste, wie sein 1969, sind Gedichtgedichte, wie sein 1973 erschienener Gedichtband heißt, es sind Fahrten ins Unbekannte, eine Reise um den Münd in 80 Feldern, wie sein erstes Hörspiel hieß. Diese Reise um den Münd geht zwar nicht mit dem Raumschiff Enterprise, aber durchaus mit Oskar Pastior als Mister Spock vonstatten, der seine geflügelten Ohren in den Weltaußenraum streckt, wo die fremden Frequenzen herrschen und seine geflügelten Worte in den Weltinnenraum schickt, dorthin, wo die Menschen wohnen und der neuen Nachrichten bedürfen. Womit hat es also die Literatur zu tun?

Ach, zu tun hat sie es mit unheimlich vielem, mit Dir und mir, mit ihr und ihm, uns euch ihnen, denk ich. Mit allem, was Menschen durch den Kopf geht; und gehen könnte; auch mit Eisen und Gummi, oder Wörtern, die es in einer Sprache gibt und einer anderen nicht, oder Erinnerungen an Erinnerungen, mit dem Zuckerhaushalt hat sie zu tun, mit Verkehrstarifen, Verlagsstrukturen – oder mit Imaginationen, bzw. der Absenz all dieser Dinge. Kurzum, mit allem Erdenklichen hat sie’s zu tun, die Literatur – angenommen, es gäbe etwas so Allgemeines hinter dem Begriff, den es ja gibt. Also auch mit ihm selber.

Oskar Pastior ist der Magier mit dem Zauberstab aus Vokabeln. Er hext auf sehr ironische, ja vertrackte Art, die natürlich auch vom anderen, vom exotischen Sprechduktus herrührt. Da steht er mit seinen geflügelten Ohren, hebt die Stimme und beschwört uns alle.

Wahrscheinlich kommt man nicht darum herum, sich in einem speziellen Sinn als Mystiker zu sehen. Als in einem großen Konnex existentiell Beteiligter, Ein-gemischter. Der dann im Einzelfall, am Einzeltext also, die Wirrnis, indem er sie leibhaftig demonstriert, leibhaftig zu entwirren versucht. Mit leibhaftig meine ich die Sprache als Leib. Verwirren und entwirren – man kanns auch beschreiben nennen – betrübt die Vernunft, und ist doch vernünftig. Es bedient sich listenreich und haarspalterisch der hauseigenen Mittel, um den Mystizismus auszutreiben. Beschreiben ist beschwören: heraufbeschwören, zitieren, vorführen, beim Wort nehmen, welches immer wieder ins Vom-Hörensagen schliddert, es am Beispiel packen, es übersetzen, übertragen, verteidigen und hochhalten vielleicht: („J’accuse“). Die Willkür, mit der es für diverseste Interessen benützt wird – auch von mir – erkennbar machen, exorzieren. Beschreiben (oder beschwören), wie ich es verstehe, beweist – mit ähnlichen Mitteln, aber anders als die Wissenschaft –, daß die Dinge anders beschaffen sind und in komplexeren Beziehungen zueinander stehen als die Wörter und Sätze. Poetisch beschreiben wäre der Versuch, eine Sprache und eine Logik zu erfinden, die der Komplexität der Dinge besser gerecht wird. Den wichtigsten Trick bei diesem Er-finden holt sie sich aus der Poesie überhaupt: und zwar, daß jede Behauptung implizite als Beweis gilt. Die seltsame, oft absurde Logik in der poetischen Beschreibung, die daraus entsteht, quasi die Poeto-Logik, bildet aber auch, ich vermute es vorsichtig, die Brücke zur Ästhetik des Ontologischen, zum sogenannten Naturschönen. Man hat seinen Spaß und seinen Ärger dran – auf einer Gefühlsebene, die keinen Spaß und Ärger kennt.

Die Poesie Oskar Pastiors hat es also nicht mit dem platten Beschreiben, sondern mit dem Beschwören zu tun, aber aufgepaßt, der doppelte Resonanzboden Pastiors schwingt auf sehr ironische und bodenlos komische Weise mit. Worauf kommt es ihm an, nur auf dieses schöne Sagen, oder hat er auch, über die Nachrichtenvermittlung aus fremden Frequenzbereichen hinaus, noch einen verborgenen Nutzeffekt im Sinn?

Man kann die Vokabel schön natürlich auch fallen lassen, aus Abneigung gegen sie, weil sie so oft als Wappentier oder Götzenbild herhalten mußte; man kann sie, zu Recht, historisch, politisch, sozial, kommunikationstheoretisch, strukturalistisch, tiefenpsychologisch usw. sehr relativieren, präzisieren, ja umbenennen und praktikabler machen. Es sind erkenntnisfördernde Problemverlagerungen, solange sie nicht zu Dogmen werden.

Oskar Pastior wurde 1927 in Sibiu in Rumänien, im Siebenbürgischen Hermannstadt, geboren. Er übersiedelte 1968 in die Bundesrepublik und wohnt heute in Westberlin. Pastior veröffentlichte zwei Gedichtbände in deutscher Sprache in Bukarest und inzwischen drei Textbücher in der Bundesrepublik. 1974 übersetzte er Gedichte von Marin Sorescu aus dem Rumänischen. Eines dieser Gedichte lautet:

Diese Stunde,
wo alle Gegenstände, des Bedeutens müde,
darüber einschlafen,
Wächtern gleich,
das Kinn auf die Lanze gestützt.
Wände, Balken, Himmel und Universum,
stützt euch doch bitte nicht zu schwer
auf mich,
auch ich stütze mich auf einen Gedanken,
ja auf ein einziges Wort,
das bereits
an einem Ende anfängt,
nicht mehr zu sein.

Genau an dieser End-Stelle, wo Wörter und Gedanken in Träume übergehen, ist der Anfang des Hörspiels Die Sauna von Samarkand. Es beginnt nämlich mit nichts anderem als mit bewegter Luft, vielmehr mit einem metaphorischen Lüftchen, in dem sich bereits alle Bedeutungen aufgelöst haben. So ist das Hörspiel ein Hörbad, ein Ohrenbad, ein utopisches Bad, in dem das Entkleiden ein Entledigen von Begriffen ist, in dem Zitate ausgeschwitzt und Wonnen des Widerspruchs transpiriert werden, in dem es zu dialektischen Paarungen und zu enzyklopädischen Schwimmversuchen kommt. Die Sauna von Samarkand wird zum orientalischen Märchen, in dem man die Lymphe klimpern und fette, glänzende Redensarten schwirren hört, daß einem die Ohren übergehen, wie eine Stimme sagt. Aber das Hörspiel kommt auch an seinen neuralgischen Punkt. Das ist dort, wo das Baden und das Hörspiel selbst an ihren Grenzen angekommen sind, wo nämlich das Sprechen aufhört und das Schweigen beginnt, wo die Schweigausbrüche stattfinden, die vielleicht auch Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, Ihren eigenen kalten Galimathias auf die Stirn treibt: das Hörbad in der „Sauna von Samarkand“, das Sie von aller Unbill heilt. Das ist auch, was Oskar Pastior meint, wenn er vom Hörer sagt:

Ich finde es schön, und das ist nicht nur meine Privatsache, wenn der Leser oder Hörer, auf den ich setze, einen Text gut findet.
Sein Vergnügen am Denken finde ich schön, auch seine Betroffenheit, sein Erkennen von noch Nicht-Erkanntem, sein Wach- und Hellhörigwerden, im schönsten Fall. Das wäre vielleicht der schöne Nutzeffekt.

Ludwig Harig, gehalten im Westdeutschen Rundfunk am 11.10.1976. Veröffentlicht in Klaus Schöning (Hrsg.): Hörspielmacher, Athenäum Verlag, 1983

 

OSKAR PASTIOR ÜBERGELEIT

1
o narb lang mund kurz knoch karren.

2
passed away n weg is weck isch ainewääg im ohr.

3
ach s karpfastjahr.

4
ask aar frag igel weiderer.

5
so rag zap roi.

 

Urs Allemann geleitet den Namen Oskar Pastior durch die Sprachen des Gedichts.

 

1 „narbe“: englisch „scar“: „os“ mit langen o: lateinisch
„Mund“, „os“ mit kurzem o: lateinisch „Knochen“.

2 „ainewääg“: alemannisch „trotzdem“.

3 Im antiken Sintflutgedicht schwimmen die Fische
durch Bäume.

4 aar – adler – eagle – igel; lateinisch „pastus“ = Weide,
also deutet die Steigerung „weiderer“ auf Pastior.

5 Andere Lesart: so rage hoch der König und zappe.

Urs Allemann

 

AUSZUG AUS LAUFENDER ARBEIT
für oskar pastior

drähte und vermehrt maisbärte und querte ver-
sehrte hunde und kleines haus auf hügel und
ich weiß nicht schreib maschine und schwarze
kuh vor hintergrund (waid wunden lupinen)
und einer drang dringlich ein in den bund

und mund und kummt vrhunc und hörer
schwund entstörer und dichtung mit freiem
oberkörper und müde des handelns im satz
und absatz unpaß faß das rhema beim schopfe
und klopfe stopfe was das zeug zeug hält

und ranze und franze feste und stumpfgleis
bahnhof bolzano und aber ottendorf seinerzeit
auch und pesthauch der tiere bresthafter brauch
und unter dem strauch ein zwanghafter sang
und dung spund voll pfund tut strudelwurm kund

und gelärm und lämmernder fund und spürte
schwerte ernähre und bezwingendes spenge
seines vermeins und wie nennt man das: bass
und kaum stauraum erstaun wie vor germ und
priessnitzsches traun – gut! wir bringen die wut

und gemarx und den phlox und bärlapp im
schlund und barmer huzule auch du und
unrund nach stifter der pfrund und flausch
dich hinauf in den lauch und kein abfund:
ruhe im lattich im seim usf.

(Die laufende Arbeit für Oskar Pastior, die hier endlich ins Rollen kommt, bestand für lange Zeit nur aus ihrem Titel holzrauch über heslach, einem Zitat aus Helmut Heißenbüttels „Gedicht über die Übung zu sterben“. Daß sich diese Klammer nun geschlossen hat, ist eine Tatsache, die ich nicht zu akzeptieren bereit bin.)

Ulf Stolterfoht

 

 

Interview mit Oskar Pastior für das Haus des Deutschen Ostens.

Interview mit mir. Diese Aufnahme beinhaltet ein poetologisch dichtes, leider aber nicht realisiertes Interview von Christian Prigent mit Oskar Pastior, dass vermutlich für die von Christian Prigent herausgegebene französische Zeitschrift TXT geführt wurde.

Lesung Oskar Pastior am 20.7.2005 im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

Herta Müller: Mein Freund Oskar

Franz Josef Czernin: Die Regel, das Spiel und das Andere. Zum Werk Oskar Pastiors.

Oskar Pastior liest aus seinen verschiedenen Texten und Übersetzungen ein Programm, das die Sprachbewegung jeweils in der Konzentration auf einzelne Laute und Buchstaben nachvollzieht. Aufgenommen auf einem mehrtätigen Festival mit dem Titel Für die Beweglichkeit im Kunstverein Maerz in Linz.

 

 

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Jochen Hieber: Die Suppe ist einmalig
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.1987

Herbert Wiesner: Frauen-Bild-Beschreibungsschrift
die tageszeitung, 20.10.1987

Hans Bergel: Vom Rückzug der Sprache auf sich selbst
Siebenbürgische Zeitung, 31.10.1987

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Hannes Schuster: Ein „Wörtlichnehmer“, der das Wörtlichnehmen ertragbar macht
Siebenbürgische Zeitung, 15.11.1992

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Bettina Knauer/Gunnar  Och (Hg.): Oskar Pastior, 70
Akzente, 1997

Herta Müller: Minze Minze
Die Zeit, 17.10.1997

Franz Mon: die krimgotische Schleuse sich entfächern zu lassen“
Der Literaturbote, 2004

Jörg Drews: Eros & Callas?-: Ein Echo-Kollaps
Süddeutsche Zeitung, 20.10.1997

Zsuzsanna Gahse: Schwitt, Schwitter, am Schwittersten
Stuttgarter Zeitung, 20.10.1997

Harald Hartung: Jalousien aufgemacht!
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.1997

Paul Jandl: Die Hosenträger der Erkenntnis
Neue Zürcher Zeitung, 20.10.1997

Cornelia Jentzsch: Gimpelschneise in der Winterreise
Berliner Zeitung, 20.10.1997

Dorothea von Törne: Der Meister der Wortlust
Der Tagesspiegel, 20.10.1997

Ernest Wichner: Magier der Vernunft
Frankfurter Rundschau, 20.10.1997

Thomas Krüger: hart pommern die fritten
Die Woche, 31.10.1997

Gerhard Mahlberg: Aus Anlaß seines 70sten Geburtstags am 20. Oktober
Deutschlandradio

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Thomas Kling: Die Ballade vom defekten Kabel
Literaturen, 2002, Heft 10

Thomas Kling: Die glühenden Halden
Frankfurter Rundschau, 19.10.2002

Nachrufe auf Oskar Pastior: NZZ ✝ FAZ ✝ BZ ✝ Der Tagesspiegel ✝
Die Welt ✝ der Freitag ✝ die horen 1 + 2 + 3 + 4 + 5 ✝ AdK ✝
Chimaere ✝ Schreibheft

Weitere Nachrufe:

Nico Bleutge: Ein Verwandlungskünstler der Sprache
Stuttgarter Zeitung, 6.10.2006

Michael Braun: Vom Sichersten ins Tausendste
Basler Zeitung, 6.10.2006

Michael Krüger: Schamane des Experimentellen
Süddeutsche Zeitung, 6.10.2006

Christine Lötscher: Er verzauberte die Sprache und Menschen
Tages-Anzeiger, 6.10.2006

Martin Lüdke: Aus dem Staub gemacht
Frankfurter Rundschau, 6.10.2006

Peter Mohr: Ein Magier der Sprache
Badische Zeitung, 6.10.2006

Lothar Müller: Der Zungenzwinkerer
Süddeutsche Zeitung, 6.10.2006

Hubert Spiegel: Im Exil bei Freunden
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.10.2006

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG + Archiv +
Internet ArchiveKalliopeIMDbDAS&D +
Georg-Büchner-Preis 12 & 3
und zum IM Stein Otto
1 + 23 + 4 + 5 + 6 + 78 + 9 + 10 + 11 + 12 + 13 + 14 + 151617 +

 

 

Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Autorenarchiv Susanne Schleyer + Galerie Foto Gezett +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Oskar Pastior

 

Oskarine ist ein Gedicht-Generator von Ulrike Gabriel, der auf den Gedichten von Oskar Pastior basiert. Jedes Gedicht spricht sich selbst – immer neu und mit der Dichter-Stimme.

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