Ossip Mandelstam: Tristia

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ossip Mandelstam: Tristia

Mandelstam/Conath-Tristia

Hab verirrt mich im Himmel – was tu ich?
Steh mir Rede doch, wem er vertraut.
Leichter wars da euch Danteschen Neun,
Den Athleten-Wurfscheiben, zu tönen!

Denn mich kann vom Leben nichts trennen –
Von Erdrosseln träumts, von Liebkosen,
Daß die Augen, Aughöhlen und Ohren
Florentinische Traurigkeit treff.

Legt mir nicht, legt mir nicht auf die Schläfen
Diesen spitzig-und-zärtlichen Lorbeer,
Eher spaltet mein Herz auseinander,
Daß tiefblau die Scherben erklingen.

Wenn ich sterb einst und ausgedient habe,
All mein Lebtag des Lebenden Freund,
Soll erstrahlen mir höher und heller
Himmels Widerhall weit in der Brust.

 

 

 

Erinnerungen an Ossip Mandelstam

Als die Wrangelleute Ossip Mandelstam verhaftet hatten, begab sich Woloschin sofort nach Feodossija. Er kam verstört zurück und erzählte, die Weißen hielten Mandelstam für einen gefährlichen Verbrecher und seien der Meinung, er simuliere Wahnsinn. Als sie ihn in eine Einzelzelle sperrten, habe er an die Tür gedonnert und gerufen: „Ihr müßt mich rauslassen. Ich bin nicht fürs Gefängnis geschaffen.“ Beim Verhör habe Mandelstam den Untersuchungsbeamten unterbrochen:

Sagen Sie lieber, ob Sie Unschuldige überhaupt herauslassen.

Diese Worte mußten 1919 in den Ohren der Abwehroffiziere phantastisch klingen, und so ist es kein Wunder, daß sie annahmen, einen Simulanten vor sich zu haben. Aber Taktik und Strategie einmal beiseite – spricht nicht aus Mandelstams Verhalten eine tiefe menschliche Wahrheit? Er versuchte erst gar nicht, dem Henker seine Unschuld zu beweisen, sondern fragte unverblümt, ob sich ein Gespräch unter diesen Bedingungen überhaupt lohne. Er sagte dem Gefängniswärter, er sei „nicht für das Gefängnis geschaffen“. Das ist kindlich und zugleich weise. „Nicht der Zeit gemäß“, sagte traurig die Muhme. Das stimmte. Mandelstam hat ein Gedicht über diese Zeit geschrieben: „Mein Wolfshund-Jahrhundert, mich packts, mich befällts – doch bin ich nicht wölfischen Bluts. Mich Mütze – stopf mich in den Ärmel, den Pelz sibirischer Steppenglut.“
Ich hatte Mandelstam in Moskau kennengelernt. Später waren wir uns oft in Kiew begegnet – in der griechischen Kaffeestube auf der Sofiskaja. Dort hörte ich sein Gedicht über die Revolution:

In Finsternisse trittst du, taub und dicht, du Volk, du Sonne – und – Gericht.

Ich sah ihn, als die Rote Armee Kiew räumte. (Er hatte später darüber gesagt: „Die Zigeunermädchen wahrsagen nicht mehr, im Kaufmannspark schweigen die Geigen, auf dem Krestschatik fielen die Pferde, Tod zieht durchs vornehme Lipki. Mit der letzten Straßenbahn verließen die Rotarmisten die Stadt, und ihre Mäntel verhießen im Entschwinden: ,Wir kommen wieder, klar!‘“) Gemeinsam erlebten wir die Pogromnacht. Gemeinsam litten wir Not in Koktebel. Gemeinsam zogen wir von Tbilissi nach Moskau. Im Sommer 1934 besuchte ich ihn in Woronesh. Zuletzt sah ich ihn im Frühjahr 1938 in Moskau.
Wir sind beide 1891 geboren. Mandelstam war nur zwei Wochen älter als ich. Oft, wenn ich seine Gedichte hörte, war mir, als sei er viel älter und weiser als ich. Aber im Leben kam er mir vor wie ein kapriziöses, leicht beleidigtes, ruheloses Kind. Unausstehlich, dachte ich manchmal, und im selben Augenblick: liebenswert. Unter der Oberfläche verbargen sich Güte, Menschlichkeit, Inspiration.
Er war klein, schmächtig. Den Kopf mit der Tolle warf er in den Nacken. Er liebte das Bild des Hahns, der mit seinem Schrei an den Mauern der Akropolis die Nacht zerreißt. Er selber glich einem jungen Hahn, wenn er mit brüchigem Baß seine feierlichen Oden las. Er saß immer nur auf dem Stuhlrand, rannte plötzlich los, träumte von einem guten Mittagessen, schmiedete phantastische Pläne, beschwatzte die Verleger. In Feodossija trommelte er eines Tages die reichen Liberalen zusammen und verkündete ihnen streng:

Beim Jüngsten Gericht werdet ihr gefragt werden, ob ihr den Dichter Mandelstam verstanden habt – ihr werdet nein sagen müssen. Ihr werdet gefragt werden, ob ihr ihn ernährt habt, und wenn ihr das bejahen könnt, wird euch vieles vergeben werden.

In den tragischsten Augenblicken erheiterte er uns durch Gasele:

Was bläst Trübsal du so arg, junger Mann? Leg dich lieber in den Sarg, junger Mann.

Wer Mandelstam zum erstenmal im Vorzimmer einer Redaktion oder im Café begegnete, der mußte denken, er habe es mit einem höchst leichtsinnigen, oberflächlichen Menschen zu tun. Dabei konnte Mandelstam wirklich arbeiten. Er dichtete nicht am Schreibtisch, er dichtete auf den Straßen von Moskau und Leningrad, in der Steppe, in den Bergen der Krim, Georgiens und Armeniens. Von Dante sagte er:

Wieviel Sohlen, wieviel Ochsenhäute, wieviel Sandalen verdarb Dante, als er über die Ziegenpfade Italiens zog und dichtete.

Dieser Satz trifft auch auf ihn selber zu. Seine Gedichte entsprangen einer Zeile, einem Wort. Er änderte ohne Ende. Manchmal wurde ein anfangs klares Gedicht bis zu Unverständlichkeit verdichtet, manchmal gewann es größere Luzidität. Er konnte einen Achtzeiler lange, monatelang austragen und staunte jedesmal von neuem über die Geburt eines Gedichts.
In den ersten Jahren nach der Revolution haben viele seine Lexik und seinen klassischen Vers als etwas Archaisches empfunden:

Ich lernte die Wissenschaft des Abschieds in den barhäuptigen Klagen der Nacht.

Ich halte diese Verse für durchaus zeitgemäß, Burljuks dagegen für einen Tribut an eine längst überholte Mode. Mandelstam sagte:

Das Ideal vollkommenen Muts ist vorgeformt vom Stil und von den praktischen Erfordernissen unserer Epoche. Es ist alles schwerer und größer geworden.

Das war kein Kanon, keine Schule:

Es lohnt nicht, Schulen zu bilden. Es lohnt nicht, eine eigene Poetik zu ersinnen.

Später machte sich Mandelstams Vers frei, wurde leichter, durchsichtiger.
Es gibt Dichter, die die Welt sehen, und Dichter, die sie hören. Block hörte die Welt, Majakowski sah sie. Mandelstam lebte in beiden Elementen. Von seiner Kindheit schrieb er:

Tschaikowski liebte ich in dieser Zeit mit krankhafter Nervosität, die an den Wunsch von Dostojewskis Netotschka Neswanowa erinnerte, das Violinkonzert hinter rotflammenden Seidenvorhängen zu hören. Die breit fließenden Violinenpartien Tschaikowskis erhaschte ich, hinterm Stacheldrahtzaun stehend, und oftmals zerriß ich mir die Kleider und zerschrammte mir die Hände beim Versuch, ohne Eintrittsgeld zur Orchestermuschel vorzudringen.

Sein ausgeprägtes Gefühl für die Malerei spricht schon aus den wenigen Zeilen, die er über ein Stilleben schrieb (mag man an Kontschalowski denken):

Der Künstler malt uns die tiefe Ohnmacht des Flieders und legte die Klangstufen der Farben auf die Leinwand wie Schorf… Man ahnt ein Wallen, Schleier nur. Und in dem dämmrigen Verfall schwirrt schon die Hummel.

Wir haben uns oft über Malerei unterhalten. In den zwanziger Jahren zog ihn besonders die alte venezianische Malerei an – Tintoretto, Tizian.
Er kannte die französische, italienische und deutsche Dichtung vorzüglich. Er brauchte nicht lange, um ein Land zu verstehen.

Ich bitte dich, Frankreich, gewähre mir – aus Mitleid oder als Gnade – deine Erde und dein Geißblatt, deiner Turteltauben Wahrheit und der kleinen Winzer Lüge in ihren Umfriedungen aus Gaze. Im sanften Dezember bereift deine geschorene Luft: kleinlich, beleidigt.

Ich habe lange in Frankreich gelebt, aber besser, treffender könnte ich das nicht sagen. Die Betrachtungen über die wunderbare „Kindlichkeit“ der italienischen Phonetik beeindruckten die Italiener, denen ich Stellen aus dem „Gespräch über Dante“ übersetzte.
Aber Mandelstams größte Leidenschaft war die russische Sprache, die russische Poesie.

Infolge verschiedener historischer Umstände strebten die lebendigen Kräfte der hellenischen Kultur, den Westen lateinischen Einflüssen überlassend und für kurze Zeit im kinderlosen Byzanz verweilend, in den Schoß der russischen Sprache und vermachten ihr das Urgeheimnis hellenischer Weltsicht, das Geheimnis freier Inkarnation, und deshalb ist die russische Sprache zu tönendem brennendem Fleisch geworden.

Er lehnte den Symbolismus als eine der russischen Poesie fremde Erscheinung ab.

Balmont ist der unrussischste unserer Dichter, ein ausländischer Übersetzer… die Auslandsvertretung einer nichtexistenten phonetischen Macht.

Andrej Bely sei eine „krankhafte und negative Erscheinung im Leben der russischen Sprache“.
Dabei verehrte und liebte er Andrej Bely; nach seinem Tod widmete er ihm herrliche Verse. Voll Zärtlichkeit schrieb er über die Dichter der Puschkin-Plejade, über Block, über seine Zeitgenossen, über die Kama, über die Steppe, über das trockene, heiße Armenien, über das geliebte Leningrad. Ich kenne immer noch viele seiner Gedichte auswendig, wiederhole sie wie Beschwörungen und bin glücklich, wenn ich jetzt zurückblicke, daß ich neben ihm gelebt habe.
Ich erwähnte den Widerspruch zwischen seinem Leichtsinn im Leben und seinem Ernst in der Kunst. Aber vielleicht besteht da gar kein Widerspruch? Mit neunzehn Jahren schrieb Mandelstam einen Aufsatz über François Villon; er rechtfertigte das wirre Leben eines Dichters in grausamer Zeit: Der „arme Scholar“ hatte auf seine Weise die Würde des Poeten verteidigt. Von Dante schrieb er:

Was uns makellose Kapuze und legendäres Adlerprofil sind, waren eigentlich qualvoll zu zwingende Schüchternheit, der geradezu Puschkinsche kammerjunkerliche Kampf um die soziale Würde und die gesellschaftliche Stellung des Dichters.

Auch diese Worte lassen sich auf ihn selber anwenden. Viele seiner dummen, mitunter kuriosen Einfälle entsprangen einer „qualvoll zu zwingenden Schüchternheit“.
Manche Kritiker hielten ihn für unzeitgemäß, museal. Auch schlimmere Beschuldigungen wurden erhoben. Vor mir liegt ein Band der 1932 erschienenen Literaturnaja Enziklopedija. Dort heißt es:

Das Schaffen Mandelstams ist der künstlerische Ausdruck für das Bewußtsein der Großbourgeoisie in der Epoche zwischen den beiden Revolutionen… Die Weltanschauung Mandelstams zeichnet sich aus durch extremen Fatalismus und eine kühle innere Gleichgültigkeit gegenüber dem Geschehen… Höchst ,sublim‘ und verschlüsselt ist diese ideologische Verewigung des Kapitalismus und seiner Kultur…

(Den Aufsatz schrieb ein junger Kritiker, der mich mehrmals besuchte und mir begeistert unveröffentlichte Gedichte von Mandelstam zeigte. Er schrieb die Gedichte ab, ließ sie binden und schenkte sie seinen Freunden.) Unsinnigeres läßt sich über Mandelstams Dichtung schwerlich sagen. Niemand hat das Bewußtsein der großen, mittleren oder kleinen Bourgeoisie weniger zum Ausdruck gebracht als Mandelstam. Ich sagte schon, daß mich 1918 sein tiefes Verständnis für die Größe der Geschehnisse verblüffte – ich denke an das Gedicht vom Schiff der Zeit, das seinen Kurs ändert. Mandelstam hat sich nie von seinem Jahrhundert abgewandt, auch dann nicht, als der Wolfshund ihn für einen anderen hielt.

Zeit wird, ihr wißt, auch ich bin Zeitgenosse – ich bin ein Mensch der Konsum-Konfektion, seht, wie der Sakko sich an mir verbeult, wie ich zu schreiten weiß und wie zu reden! Versucht nur, reißt mich los von dieser Zeit, ich garantier, ihr brecht euch nur den Hals.

Vom Wesen der Epoche sagte er:

Für den dröhnenden Heldenmut kommender Jahrhunderte, für ein großes Menschengeschlecht…

Von Leningrad:

Ich bin zurück. Meine Stadt, bekannt bis zu Tränen, bis zu den kindlich geschwollenen Drüsen, bis zu den Venen. Also schluck eilig – du bist zurück aus dem Fernen – den Lebertran von Leningrads Uferlaternen. Petersburg, ich will noch leben, ich auch: du hast die Telefonnummern, die ich brauche. Petersburg, noch hab ich Adressen, an denen ich die Stimmen der Toten finden kann.

Dieses Gedicht wurde 1932 in der Literaturnaja Gaseta gedruckt. 1945 hörte ich es eine Leningraderin sprechen, die zurückgekehrt war.
Mandelstam ist nichts vorzuwerfen. Höchstens, aller Menschen Schwäche und Stärke: die Liebe zum Leben.

Für das Leben gebe ich alles hin – ich brauche so sehr Fürsorge, und ein Schwefelhölzchen könnte mich wärmen.

Die Wimpern stechen, in der Brust ist die Träne verdampft. Furchtlos spüre ich, es kommt, es komme das Gewitter. Ein Wunderlicher verlangt von mir Vergessen. Schwül ist es, und doch möchte ich mit allen Fasern leben.

Wem konnte dieser Dichter mit dem siechen Körper und dem Versklang, der die Nächte bevölkert, im Wege sein?
Anfang 1952 besuchte mich ein Agronom aus Brjansk, W. Merkulow. Er erzählte mir, wie Mandelstam 1938 starb. Zehntausend Kilometer von seiner Vaterstadt entfernt, todkrank, hatte er am Lagerfeuer gesessen und Petrarcas Sonette gesprochen. Ja, Mandelstam fürchtete sich, Leitungswasser zu trinken, und doch erfüllte ihn echte Tapferkeit, sein Leben lang – bis zu den Sonetten am Lagerfeuer.
1935 schrieb er:

Nicht als mehliger Schmetterling, aschweiß bring ich den entliehenen Staub der Erde. Ich will, daß der denkende, der Körper ganz zum Land und ganz zur Straße werde – der verkohlte schwarze Wirbelkörper, der nun seine ganze Länge weiß.

Seine Gedichte sind geblieben. Ich höre sie, andere hören sie. Wir gehen eine Straße entlang, auf der Kinder spielen. Wahrscheinlich nennen wir das in feierlichen Augenblicken „Unsterblichkeit“.
In meinem Gedächtnis lebt Mandelstam fort als liebenswerter, ewig ruheloser Mensch. Wir umarmten uns dreimal, als er sich verabschieden kam: Endlich verlasse er nun Koktebel! Ich dachte im stillen: Wer weiß beim Abschied, welche Trennung bevorsteht.

Ilja Ehrenburg, aus: Menschen, Jahre, Leben

 

Ossip Mandelstam

Mandelstams Schicksal als Schriftsteller war schwer – die Ursachen dafür lagen in seinem Schaffen selbst begründet. Die Sympathie des Dichters für die Oktoberrevolution führte nicht zu seiner Teilnahme an der Volksbewegung. Im Gegenteil, das Lauschen auf das „Rauschen der Zeit“, das die starke Seite von Mandelstams Poesie ausmachte, brachte den Dichter zunehmend in Widerstreit mit der Zeit.
In den Gedichten der „Tristia“-Periode sind so gut wie keine äußeren Zeichen der Zeit zu finden. Lediglich ein paar flüchtige Details beschwören die Atmosphäre des Roten Petrograd von 1920 herauf: die Wache auf der Brücke, der „zornige Motor“, der durch die dunkle Straße braust, der Nachtpropusk. Aber er hat sein durchgehendes, ihm äußerst wichtiges Thema, das mit dem Erleben der Zeit verbunden und voll tiefer Dramatik ist – das Schicksal eines Dichters, der vom Jahrhundert nicht gehört und angenommen wird. In den späten Gedichten tritt neben das tragische Thema der Einsamkeit und Ungeborgenheit das der Liebe zum Leben – allem zum Trotz. Der Dichter war von unstillbarem Lebensdurst erfüllt, wollte sich „ausleben“, seinen Platz in der neuen Welt finden, feste menschliche Bindungen knüpfen. Doch gegen diese Bestrebungen und teilweise heftigen Ausbrüche, gegen Hoffnungen und Beteuerungen steht das bittere Bewußtsein, vom Leben isoliert zu sein. Die besten seiner späten Gedichte sprechen über diese menschliche Tragödie wahr und aufrichtig und in einem für den Dichter neuen, komplizierten, jedoch von dekorativen Überlagerungen und Effekten freien Stil.

Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, aus W. Orlow: Kreuzwege

 

„Ich war das Buch, das euch im Traum erscheint“ 

– Deutsche Echos in Ossip Mandelstams Werk. –

Lange vor Mandelstams Aufenthalt in Heidelberg war Deutschland ein Traum. Nicht des Dichters Traum, sondern der Traum seines Vaters, der aus dem litauischen Schtetl Schagory im Gouvernement Kowno stammte, Rabbiner werden sollte und nach Berlin ausbrach. In der autobiographischen Prosa Das Rauschen der Zeit (1925), im Kapitel „Das judäische Chaos“, zeichnet Mandelstam sein Porträt:

Eigentlich versetzte mich mein Vater in ein völlig anderes Jahrhundert und in eine weitab liegende, fremde Umgebung, die keineswegs jüdisch war. Es war, wenn man so will, das reinste achtzehnte oder gar siebzehnte Jahrhundert irgendwo in einem aufgeklärten Ghetto, vielleicht in Hamburg. Die religiösen Interessen waren völlig beiseite geräumt, die Philosophie der Aufklärung zu einem ausgeklügelten talmudistischen Pantheismus umgewandelt. Irgendwo in der Nachbarschaft züchtet Spinoza in Einmachgläsern seine Spinnen, und man ahnt bereits Rousseau und seinen natürlichen Menschen voraus. Alles ist aufs äußerste abstrakt, ausgeklügelt und schematisch. Als vierzehnjähriger Junge lief mein Vater, dem man die Rabbinerlaufbahn nahegelegt und die Lektüre weltlicher Bücher verboten hatte, von zu Hause weg und nach Berlin, geriet auf die Talmudhochschule und traf dort ebenso eigensinnige, helle Jungen, die in abgeschiedenen Provinznestern davon geträumt hatten, Genies zu werden. Statt des Talmud las er Schiller und las ihn, wohlgemerkt, wie ein völlig neues Buch.1

Statt fleißig die Jeschiwa zu besuchen, gab sich der Vater also der Faszination der deutschen Literatur und Philosophie hin, las Goethe, Schiller und Herder und studierte Spinoza. Nach einem halben Jahr jedoch musste er seine Studien wegen Geldmangels abbrechen, kehrte ins Baltikum zurück und machte eine Lehre als Handschuhmacher und Lederhändler. Sein Sohn schreibt, er habe „der verdutzten Kundschaft die philosophischen Ideale des achtzehnten Jahrhunderts gepredigt“.
Das Berliner Abenteuer war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Assimilation. Emilij-Chazkel Benjaminowitsch Mandelstams Flucht aus dem Schtetl nach Berlin und in die deutsche Kultur war eine geistige Vorwegnahme von Ossip Mandelstams Flucht in die russische Kultur, die ihm von seiner Mutter, der aus Wilna stammenden Flora Werblowskaja, liebevoll vermittelt wurde.2

Der Ausbruch nach Berlin hinterließ deutliche Spuren im Haushalt der Mandelstams. Im Kapitel „Der Bücherschrank“ kommt auch der deutsche Bücherschatz des Vaters zur Sprache: 

Der Bücherschrank der frühen Kindheit ist ein Begleiter des Menschen für sein ganzes Leben. […] Diese seltsame kleine Bibliothek hatte sich im Laufe der Jahrzehnte wie geologische Schichtungen, nicht zufällig so abgelagert. Das väterliche und das mütterliche Element in ihr hatten sich nicht vermischt, sondern existierten getrennt voneinander, und der kleine Schrank war ein Längsschnitt durch die Geschichte der geistigen Bemühungen eines ganzen Geschlechts und des mit ihm vereinigten fremden Blutes. […] Über den judäischen Ruinen begann eine Ordnung der Bücher. Es waren die Deutschen: Schiller, Goethe, Kerner und Shakespeare in deutscher Sprache – alte, in Leipzig oder Tübingen erschienene Ausgaben, dickbauchig und knirpsig, in bordeauxroten, bedruckten Einbänden, mit kleinem, für jugendliche, gesunde Augen gedachtem Druck und weichen Kupferstichen in leicht antikisierendem Stil: flehend händeringende Frauen mit gelöstem Haar, eine Lampe, die eher wie ein großer Leuchter gezeichnet war, Reiter mit hoher Stirn, und als Vignetten – Weintraubenhenkel. Es waren die Bücher meines Vaters, der sich als Autodidakt aus dem Talmuddickicht in die germanische Welt durchgeschlagen hatte.3

Die Schilderungen sind genau und detailreich, aber ein wenig distanziert, der Vater und seine „unverständliche Philosophie“ blieben dem Kind fremd:

Als ich zu meinen Großeltern nach Riga mitgenommen werden sollte, sperrte ich mich und weinte fast. Ich glaubte, man wolle mich nun in die Heimat der unverständlichen Philosophie meines Vaters bringen.4

Ein lutherisches Begräbnis und Bachs Beweis
Aber die Spaziergänge der Kindermädchen und des ihnen anvertrauten Sprösslings führten in Sankt Petersburg auch auf die Große Morskaja, wo sie auf das Mojka-Ufer trifft und die rote Lutheranerkirche steht. Es gab seit den Zeiten Peters des Großen eine beträchtliche deutsche Bevölkerungsgruppe in der Hauptstadt der Zaren.
In Mandelstams Schule, dem fortschrittlichen Tenischew-Gymnasium in Petersburg, wurde nach englischem Vorbild unterrichtet, die Erinnerung an die deutschen Bücher des Vaters fand dort wohl kaum neue Nahrung:

In den Deutschstunden sangen wir unter der Leitung eines Fräuleins „O Tannenbaum, O Tannenbaum!“, und man zeigte uns milchige Alpenlandschaften mit Kühen und ziegelgedeckten Häuschen.5

Der Aufenthalt im alpenfernen Heidelberg wird die durch die Bildchen entstandene Vorstellung zurechtgerückt haben.
Doch schon in der ersten Ausgabe von Mandelstams Gedichtband Der Stein (1913) gab es ein Gedicht mit dem Titel „Ein Lutheraner“. Es stammt aus dem Jahr 1912, Mandelstam ist einundzwanzig, ein großstädtischer Flaneur trifft bei seinen Streifzügen beim besagten Gotteshaus auf einen Begräbniszug, den er genau beobachtet und von dessen unspektakulärer Nüchternheit er beeindruckt ist. Eines seiner Vorbilder, der Dichter Fjodor Tjutschew (1803 bis 1873), der viele Jahre als Diplomat in Deutschland lebte, hatte bereits in zwei Gedichten ein lutherisches Begräbnis beschworen („Schon wird der Sarg ins Grab gesenkt“, 1830) und den entsprechenden Gottesdienst gewürdigt („Ich liebe den Gottesdienst der Lutheraner“, 1834). Mandelstam spricht in den letzten beiden Strophen den verstorbenen Lutheraner direkt an und versucht, aus dem fremden Leichenzug ein Lebensmodell für sich abzuleiten.

Wer du auch warst, entschlafener Lutheraner –
Man hat ganz leicht und schlicht dich beigesetzt,
Den Blick von einer Träne recht verhangen,
Das Glockenspiel – verhalten, bis zuletzt.

Schön reden, dachte ich, bringt uns nicht weiter,
Uns lockt kein Himmel, keine Hölle kann uns hetzen,
Propheten sind wir keine, nicht mal Wegbereiter –
Im blassen Mittag brennen wir, wie Kerzen
.6

Das Jahr 1912 ist das Gründungsjahr des Akmeismus, die jungen Petersburger Poeten suchten den Schwulst und die „Wassersucht der großen Themen“ der symbolistischen Dichter zu überwinden.7 Dem Erhabenen und der Stilisierung des Dichters zum Propheten wollten sie die Rückkehr zum Irdischen, zur schlichten Realität entgegensetzen. Der Dichter sollte nicht mehr „Seher“ sein, sondern ein Handwerker mit präzisem Augenmaß. Die Schlussstrophe des zitierten Gedichtes klingt beinahe wie ein „protestantisch-akmeistisches“ Manifest: Die alle pompöse Rhetorik ablehnenden Lutheraner, die weder Propheten noch Wegbereiter sein wollen, werden zu nüchternen Komplizen der Petersburger Akmeisten…
Und warum erschrickt man fast, wenn man in einem Gedicht Mandelstams des Jahres 1913 auf das Luther-Zitat „Hier stehe ich – ich kann nicht anders“ trifft?8 Martin Luther, der 1521 auf dem Reichstag zu Worms jeden Widerruf ablehnte, sollte mit seinem markigen Ausspruch so früh den Dichter Mandelstam inspiriert haben? Den Dichter, der auch nach dem Oktoberumsturz der Bolschewiken auf der Würde des Individuums und dem Erbe des europäischen Humanismus beharren und sein vernichtendes „Epigramm gegen Stalin“ (November 1933), in dem er den Diktator als „Seelenverderber und Bauernschlächter“9 entlarvt, mit dem Leben bezahlen wird? Aber zu weit sollte man die Macht des Zitats nicht denken:

Als „knorriger Luther, blinder Geist“ schwebt er in dem Gedicht über der Kuppel des Petersdoms – denn bald wird Mandelstam unter dem Einfluss des russischen Philosophen Pjotr Tschaadajew (vgl. Kommentar S. 90f.) seine „katholische Phase“ durchmachen.
Aber dann gibt es da die „Musik des Beweises“ eines Johann Sebastian Bach, die Mandelstam als eines der großen künstlerischen Modelle in seinem Manifest „Der Morgen des Akmeismus“ (1913) würdigt:

Welche Überzeugungskraft in der Musik Bachs! Welche Macht des Beweises! Beweis um Beweis, ohne Ende: In der Kunst irgend etwas auf Treu und Glauben anzunehmen, ist des Künstlers unwürdig, ist leicht und langweilig… Wir fliegen nicht, wir steigen nur auf jene Türme, die wir selbst bauen können.10

Auch der letzte nüchtern-selbstbewusste Satz könnte beinah aus dem Gedicht „Ein Lutheraner“ stammen… Noch im selben Jahr 1913 zeichnet Mandelstam in einem Gedicht ein familiäres, ungeschöntes Porträt Bachs, das dem akmeistischen Konzept „kultureller Häuslichkeit“ entsprechen sollte. Bach im Kirchenraum, Bach an der Orgel – wo sonst? –, ekstatisch jubelnd und dennoch „allervernünftigst“, ein „herrlicher Streiter“ und „unnachgiebig strenger Greis“, der einmal mehr den „Beweis“ sucht:

BACH

Kirchgänger als – des Staubes Kinder,
Statt Bilder gibt’s hier Tafeln nur,
Auf denen Bach mit Kreidefingern
Die Ziffern schrieb, die Psalmenspur.

Gewirr von Stimmen, bunte Schreie
Im Wirtshaus, unterm Kirchendach –
Du aber jubelst wie Jesaja,
Vernünftigster, mein J.S. Bach!

Herrlicher Streiter, worauf zielst du,
Suchst einen Halt für ihn, den Geist?
Den Enkeln die Choräle spielst du
Und suchst auch da noch – den Beweis?

Der Klang, was ist das bloß? Sechzehntel,
Die Orgel, ihr komplexer Schrei –
Nichts als dein Brummen und dein Zetern,
Du unnachgiebig strenger Greis!

Die schwarze Kanzel, drauf der Pastor,
Spricht lutherisch von seinem Gott,
Mengt in den Zorn von deinen Tasten
Sein tönendes, sein eignes Wort.
11

Wie viel Musik gibt es in Mandelstams Werk, wie viele Beschwörungen musikalischer Erlebnisse, markante Porträts von Komponisten und ihrer Musiksprache, ihrer Handschrift!

Musik und die Gaben der Mutter
Im selben Gedichtband Der Stein (in den Ausgaben 1916 und 1923) steht die „Ode an Beethoven“ (1914). Der Komponist wird in einer familiären Ansprache als Peiniger, als wundersamer Fußgänger, als Feueranbeter, als Dionysos, naiver Gatte und dankbares Kinderherz angesprochen. Doch dessen „Triumph des Lichts“ verunsichert den russischen Zuhörer:

Ich konnte deine große Freude,
Mein Peiniger, nie ganz verstehn.
Nun wirft er’s hin, es ist zu Ende,
Und Asche war das Heft seitdem
.12

Die Präsenz der deutschen Musik in Mandelstams Werk hat nichts mit dem Berliner Ausbruch des Vaters zu tun, sondern mit der Rolle der Mutter in diesem Dichterleben. Sie, die aus dem von der jüdischen Aufklärung, der „Haskala“ geprägten Wilna stammte, vermittelte ihrem erstgeborenen Sohn die Liebe zur russischen Sprache:

War nicht sie als erste in unserer Familie zu reinen und klaren russischen Lauten vorgedrungen?13

Sein Lebensplan wird es sein, ein Dichter der Muttersprache zu werden. Aber da war noch eine mütterliche Gabe.
Flora Mandelstam wollte den drei Söhnen außer Fremdsprachen auch Theater und Musik näherbringen. Das Rauschen der Zeit beschwört diverse musikalische Erlebnisse der Kindheit und Jugendzeit. Die Mutter hegte auch musikalische Berufspläne für den erstgeborenen Sohn, die er – ein Glück für die russische Poesie des 20. Jahrhunderts – enttäuschen musste. Musik aber durchdringt Mandelstams ganzes Werk. Es ist, als ob der mütterliche Wunsch auf Umwegen, in der Sprachkunst, doch noch erfüllt werden sollte.
Den wunderlichsten Auftritt hat die deutsche Musik in der berühmten „Notenblatt“-Fantasie in Mandelstams einzigem fiktionalen Prosawerk „Die ägyptische Briefmarke“ von 1928. Es ist die bizarre Geschichte des kleinen Mannes Parnok, dem im Sommer 1917 zwischen Februar- und Oktoberrevolution der noch unbezahlte Ausgehanzug – ein Symbol der Freiheit – gestohlen beziehungsweise wieder abgenommen wird, und der als Einziger versucht, eine aufgebrachte Menschenmenge von einem Lynchmord abzuhalten.
Doch erfolglos: Parnok ist ein Verlierer, ein Außenseiter, eine Reinkarnation der Gestalten Gogols („Der Mantel“) und Dostojewskijs („Der Doppelgänger“), eine Verkörperung des gefährdeten Individuums in einer aus den Fugen geratenen Welt. In diese schrille Parabel auf die revolutionäre Epoche mischen sich autobiographische Erinnerungen an Küche und Kindheit und Musikunterricht. Hier einige Ausschnitte aus der Bildfantasie des 5. Kapitels über Musiknoten, Partituren und die individuellen Handschriften der Komponisten:

Die Notenschrift schmeichelt dem Auge nicht weniger als dem Ohr die eigentliche Musik. Die schwarzen Notenköpfe der Klaviertonleiter klettern wie Lampenanzünder hinauf und hinunter. Jeder Takt ist eine kleine Barke, beladen mit Rosinen und schwarzen Weintrauben. […]
Die kolossalen Abhänge von Chopins Mazurkas, die breiten, glöckchengeschmückten Treppen von Liszts Etüden, Mozarts hängende Gärten mit ihren Blumenbeeten, die auf den fünf Drähten zittern – sie alle haben nichts gemeinsam mit den kleinwüchsigen Sträuchern von Beethovens Sonaten.
Die Fata-Morgana-Städte der Notenzeichen stehen wie Starenkästen im siedenden Teer.
Schuberts Notenweinberg ist stets bis auf die Traubenkerne zerpickt und sturmgepeitscht.
Wenn Hunderte von Lampenanzündern mit ihren Leitern durch die Straßen laufen, Vertiefungszeichen an rostige Haken hängen, die Wetterfähnchen der Erhöhungszeichen festmachen und ganze Ladenschilder abgezehrter Takte herunterholen – so ist das natürlich Beethoven. Wenn jedoch die Kavallerie der Achtel und Sechzehntel mit papierenen Federbüschen, den Brandzeichen der Pferde und kleinen Standarten sich in den Angriff stürzt – dann ist das ebenfalls Beethoven.
Ein Notenblatt ist eine Revolution in einer alten deutschen Stadt. Kinder mit großen Köpfen. Starenvögel. Der Kutsche des Fürsten spannt man die Pferde aus. Aus Kaffeehäusern kommen Schachspieler gelaufen, die ihre Damen und Bauern schwingen.
Schildkröten, die zarten Köpfe reckend, wetteifern da im Schnelllauf – das ist Händel.
Doch die Seiten Bachs, wie sind die kämpferisch – erschütternde Bündel getrockneter Pilze
. […]
Mag der träge Schumann seine Noten wie Wäschestücke zum Trocknen aufhängen, mögen Italiener darunter spazieren gehen, die Nasen stolz in die Luft gereckt! Mögen Liszts schwierigste Passagen ihre Krückstöcke schwingen und die Feuerleitern dahin und dorthin schleppen!
Das Klavier ist ein kluges und gutmütiges Zimmertier mit faserigem hölzernem Fleisch, goldenen Adern und stets entzündeten Knochen. Wir schützten es vor Erkältungen und fütterten es mit Sonatinen, die leicht wie Spargel waren
14

Hat sich je ein Dichter auf so überwältigend poetische Weise über die Handschriften der deutschen Komponisten gebeugt? Die originellen Bildfindungen sind das eine, wichtiger jedoch ist die Intuition für die Eigenarten der jeweiligen Musiksprache.
Der bei Mandelstam am häufigsten auftauchende Komponist ist Franz Schubert – und immer ist er ein Gegenmittel gegen Einsamkeit, Verlorenheit, Dunkelheit und Kälte, auch gegen den „staatlichen Frost“. Im Gedicht „Kein Wald aus Orgelpfeifen klang an jenem Abend“15 von Januar 1918, das die Schubert-Lieder „Die schöne Müllerin“ (Wilhelm Müller), „Der Erlkönig“ (Goethe) und „Der Doppelgänger“ (Heinrich Heines „Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen“) beschwört, wird Kultur als Mittel gegen die Gewalt spürbar. Anna Achmatowa erinnert sich in den „Blättern aus dem Tagebuch“ an den Anlass:

… und dann fuhren wir mit der Droschke durch die unglaublichen Schlaglöcher des Revolutionswinters, vorbei an den Feuerstellen, die fast bis in den Mai hinein brannten, und hörten von irgendwoher das Knattern der Gewehrsalven.

Ein Konzert mit Schubert-Liedern, gesungen von Butomo-Naswanowa, ist das Ziel der Fahrt, das Konzert wird zum kulturellen Proviant gegen die Not der Petersburger in den Revolutionswirren.
Und am Schluss der zornigen, anti-stalinistischen „Vierten Prosa“ (1929/1930) hält Mandelstam nicht nur seinen Bruch mit der Sowjetliteratur fest, sondern ausdrücklich auch den Beginn seiner eigenen Winterreise durch eine große anbrechende Kälte:

Da geht ein deutscher Leiermann mit einem Leierkasten wie bei Schubert, ein Unglücksvogel, ein Vagant… Ich bin arm. Ich bin arm.16

Letzteres ist auf Deutsch in den russischen Text eingefügt. Es ist eine Paraphrase von Wilhelm Müllers „Der Leiermann“:

Barfuß auf dem Eise
Wankt er hin und her
Und sein kleiner Teller
Bleibt ihm immer leer.

Keiner mag ihn hören,
Keiner sieht ihn an,
Und die Hunde knurren
Um den alten Mann.

In einer der provisorischen Moskauer Unterkünfte der Mandelstams während ihres Biwak-Lebens in den dreißiger Jahren entstand am 27. März 1931 das zauberhafte Trostgedicht für einen tagelang auf dem Klavier übenden Nachbarn in einer Kommunalwohnung an der Starosadskij-Gasse Nr. 10:

Mein Alexander Gerzowitsch
War Jude, Musikant –
Spielt Schuberts Werk mir her, wo blitzt!
Ein reiner Diamant.

Vom Morgen bis zum Abendstern
Ja bis zum hellen Rausch,
Spielt die Sonate er so gern,
Die ewig eine, lausch!

Was, Alexander Gerzowitsch,
Dich schmerzt die Dunkelheit?
Lass, Alexander HERZowitsch,
Was nützt es! Einerlei…

Soll nur ein Italienermädchen
Solang er knirscht, der Schnee,
Auf Schlittenkufen, schmalen Pfädchen
Zu Schubert fliegen, geh!

Mit der Musik, dem Täubchenflügel, weit,
Ist uns vorm Sterben nicht mehr bang,
Doch dort – nur als ein Rabenkleid
Auf Kleiderbügeln ruhn, für lang…

Ist alles, du mein Gerzowitsch,
Seit langem alter Brei…
Lass, Alexander SCHERZOwitsch,
Was nützt es! Einerlei!
17

In der von Krankheit und Atemnot, Hunger und Angst geprägten Woronescher Verbannungszeit, dieser Fortsetzung der Mandelstamschen „Winterreise“, ist Schubert noch einmal ein musikalisch wärmender Pelz (ein Wortspiel um das Wort „schuba“ – russisch für „Pelz“) und magischer Talisman gegen den „staatlichen Frost“ – in dem Gedicht „Auf leblosen Wimpern da: Isaak erfror“ vom 3. Juni 1935, hier die letzte Strophe:

Die Treppen, die Stufen, wie Nebel und Schall,
Der Atem, der Atem, Gesang will sich regen –
Im Schulterpelz Schubert: der Talisman – kalt,
Bewegen, Bewegen, Bewegen
18

Schuberts Spur führt durch den Winter von Mandelstams später Existenz, durch die Kälte der Biwaks und der Verbannung… Und eine musikalische Fährte lässt sich – als Erinnerung an die Gaben der Mutter, die von ihr vermittelte Musik Bachs, Mozarts, Händels, Schuberts, Schumanns – durch Mandelstams ganzes dichterisches Werk verfolgen.

Der große Wirrwarr kam: Russland, Lethe, Lorelei
Auch in einem politischen Kontext gibt es hintergründige deutsche Echos bei diesem Dichter. Und merkwürdig: Dreimal taucht in Mandelstams Werk die betörende, lockende Lorelei auf. Im Sommer zwischen Februar- und Oktoberrevolution schrieb er, kurz vor einem erneuten Aufbruch auf die Krim im Juni 1917, das Gedicht „Der Dekabrist“. Es war eine Besinnung auf den am 14. Dezember 1825 auf dem Petersburger Senatsplatz niedergeschlagenen Aufstand der Dekabristen gegen die Autokratie des Zaren. Die Anführer wurden gehenkt, die Mehrzahl der Rebellen zur Zwangsarbeit nach Sibirien deportiert.
Das Gedicht beschwört den historischen Traum der Dekabristen:

Lebendige Stimmen gibt es, noch erregt
Von süßer Freiheit, Bürgerrechten!

Abgedruckt wurde es erst nach dem Oktoberputsch der Bolschewiken am 24. Dezember 1917 in der Petrograder Zeitung Neues Leben. Kein Zufall, sondern bewusste Anknüpfung: Mandelstams Gedicht entstand genau hundert Jahre nach Alexander Puschkins Ode „Freiheit“ (1817). Der Nachkömmling versuchte, seine Zeitgenossen und das neue Regime an die hohen Ideale der Dekabristen zu erinnern, einer liberalen aristokratischen Elite mit aufklärerischen Zielen (konstitutionelle Monarchie, Bauernbefreiung usw.). Eine ganze Generation junger russischer Offiziere war im Zuge der napoleonischen Kriege zu ihrem ersten Europa-Erlebnis gekommen, im Februar 1814 überschritten die Russen den Rhein und waren im März in Paris.

Die deutschen Eichen rauschten wie zum ersten Mal,
Europa weinte tief im Eisen,
Schwarze Quadrigen bäumten sich real
Zu dem Triumph, auf Toren gleißend.

In Gläsern brannte oft der blaue Punsch,
Zum breiten Klang der Samoware
Spricht leis am Rhein die Freundin ihren Wunsch –
Die freiheitsliebende Gitarre
.19

Es war jedoch die Geschichte einer Illusion. Die Befreiung vom napoleonischen Joch mündete nicht in „süßer Freiheit, Bürgerrechten“ zu Hause in Russland, und die Enttäuschung über Zar Alexanders I. autoritäres Regime führte zum Aufstand der europäisch-aufklärerisch gesinnten Dekabristen.
In einer frühen Fassung der 5. Strophe des „Dekabristen“ heißt es:

Tiefsinnig, zärtlich ist das Land, mit ihm verlobt
Uns die Beständigkeit am meisten.
Der Ring im fremden Fluss, er schimmert, lockt –
Will Bürgerrechte uns verheißen.

Der Ring des Nibelungen wird umgedeutet zu aufklärerischen Idealen und dem Traum von Bürgerrechten, die im verklärten Land, das hier als „tiefsinnig“ und „zärtlich“ besungen wird, noch längst nicht verwirklicht sind. Heinrich Heine wird bald, zermürbt von den deutschen Verhältnissen, ins Exil nach Paris gehen. Aber Mandelstam schafft für einen kurzen Moment in einer Strophe eine poetische Utopie. Jedenfalls ist die Stelle eine verblüffende Liebeserklärung an Deutschland, Beschwörung einer „Verlobung“ im Sinne einer unverbrüchlichen geistigen Verbindung zwischen Russland und Deutschland.
In Richard Wagners Rheingold wird das Ring-Motiv mit Weltherrschaftsphantasien aufgeladen („Wellgunde: Der Welt Erbe / gewänne zu eigen, / wer aus dem Rheingold / schüfe den Ring, / der maßlose Macht ihm verlieh’“). Im Gegensatz zum Traum von „maßloser Macht“ träumt Mandelstam – mit den Dekabristen vereint – im Jahr der russischen Revolutionen 1917 von „Freiheit“ und von „Bürgerrechten“, einen demokratischen Traum. Es ist eine hoffnungsfrohe Verpflichtung der Machthaber auf aufklärerische und staatsbürgerliche Ideale.
Mandelstams Liebeserklärung an Deutschland bezieht sich jedoch vermutlich nicht auf Richard Wagner, wenn man an ein kurzes humorvolles Gedicht von 1914 denkt, das den Wagnerschen Pomp verulkte:

Walküren im Fluge, der Geigensang.
Das wuchtige Opern-End ist nicht mehr fern.
Auf marmornen Treppen weilt man sich lang –
Lakaien, mit Pelzen: für ihre Herrn.

Der Vorhang setzt an schon – zum dumpfen Fall.
Da klatscht noch ein Dummkopf: oh! ein Genuss!
Sie tanzen ums Feuer, den Kutschern ist kalt.
Den Wagen von Dingsda! Der Aufbruch. Und Schluss.
20

Die „Bürgerrechte“ dürfen im Gedicht „Der Dekabrist“ nicht triumphieren, das Chaos wird noch lange herrschen, wie Mandelstams Schlussstrophe besagt:

Der große Wirrwarr kam, und wem es klagen –
Die Kälte wächst, gefroren sei
Der Wirrwarr jetzt, und schön, es herzusagen:
Russland, Lethe, Lorelei
.21

Zwischen Russland und die deutsche Lorelei legt sich die Lethe, der Unterweltfluss des Vergessens in der griechischen Mythologie, und das verheißene gemeinsame europäische Bürgerrecht ist vorerst poetische Utopie. Mandelstam wollte die deutsch-russischen Gemeinsamkeiten nicht ganz dem Fluss des Vergessens überlassen. Doch Russland lag zu dem Zeitpunkt mit dem „tiefsinnigen, zärtlichen Land“ im Krieg.

Gegen den Krieg zwischen Brüdern
Es war das Jahr 1917. Mandelstam verweigerte sich der nationalistischen Kriegstreiberei in Gedichtform, der sich diverse dichtende Zeitgenossen hingaben. Für ihn war der Erste Weltkrieg ein Bruderkrieg. In seiner „Friedens-Ode“ von 1916 mit dem Titel „Tierschau“ ruft er die Kriegsgegner in einer Tier-Allegorie zur Besinnung, erinnert den deutschen Adler und den russischen Bären an ihre gemeinsamen Ursprünge. Er ruft dazu auf, ein Feuer zu entfachen, um das wilde Tier des Krieges zu verscheuchen, schlägt in einer anderen Strophe vor, den Krieg in einen Käfig zu sperren. Und er singt den „Wein der Zeiten“, die gemeinsamen Ursprünge der europäischen Völker:

Und ich: ich sing den Wein der Zeiten –
Italisches, den Sprachen-Schatz –
Und noch im Ursprung diese beiden:
Den Slawen- und Germanenflachs!

[…] 

Die Tiere in den Käfig rein –
Wir werden lange Ruhe schwören,
Die Wolga wird noch voller strömen,
Der Rhein wird endlich heller sein.
Der klug gewordene Mensch, er wird
Von selbst nun jeden Fremden ehren
Wie einen Halbgott, tanzend wild
Am Ufer großer Flüsse stehen
.22

Mandelstam schrieb mehrere Antikriegsgedichte, eines gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs: Es trägt den Titel „Reims und Köln“ (1914). Die Kathedrale von Reims war durch heftigen Artilleriebeschuss von den deutschen Truppen fast gänzlich zerstört worden. Mandelstam verleiht den Glocken des Kölner Doms („Im alten Köln steht ebenso ein Dom“) eine menschliche Stimme, um die Deutschen zur Besinnung zu rufen. Denn die Gotik „verbrüdert“ die deutsche und die französische Stadt in europäischem Geist, hier die 2. Strophe:

Bricht sich ein Sturmgeläute plötzlich Bahn,
Das Dunkel wächst und wächst, zur schwarzen Stunde
Haben die deutschen Glocken laut gesungen:
„Was habt in Reims ihr meinem Bruder angetan!
23

Nie ließ sich Mandelstam zu Hasspropaganda oder Hurrapatriotismus hinreißen, er blieb auch während des Weltkriegs ein europäisch gesinnter Dichter mit einer Zukunftsvision, die er in seinem Essay „Menschenweizen“ (1922) festhalten wird. Er erschien am 7. Juni 1922 in Berlin, in der Zeitung Nakanune (Vorabend), einem wichtigen Organ der russischen Emigranten in der deutschen Hauptstadt. Zeitgeschichtlicher Hintergrund war die Weltwirtschaftskonferenz in Genua und das Abkommen von Rapallo zwischen der russischen Sowjetrepublik und dem Deutschen Reich am 16. April 1922, eine Annäherung nach Jahren blutiger Entzweiung.
Über den tagespolitischen Anlass hinaus war Mandelstams Essay „Menschenweizen“ ein Plädoyer für den „universalen Hausherd“ und „weltweite Häuslichkeit“. Er wandte sich schroff gegen Nationalismus und Messianismus und enthielt die zentralen Sätze seines Europa-Bekenntnisses, eine Vision des künftigen Europa:

Jede Nationalidee ist im heutigen Europa zur Nichtigkeit verurteilt, solange sich dieses Europa nicht als ein Ganzes gefunden hat und sich als eine moralische Persönlichkeit begreift. Außerhalb des gemeinsamen, gleichsam auf eine Mutter bezogenen europäischen Bewusstseins ist keinerlei kleinere Völkerschaft mehr möglich. Der Ausweg aus dem nationalen Zerfall, aus dem Zustand des Korns im Getreidesack zu weltweiter Einigkeit, zu einer internationalen Vereinigung, führt über die Wiedergeburt des europäischen Bewusstseins, über die Neubelebung des Europäertums als unsere große Völkerschaft. Das „Gefühl für Europa“, dieses gedämpfte, in Krieg und Bruderzwist niedergehaltene, unterdrückte Gefühl, kehrt zurück in den Kreis der aktiven, tätigen Ideen.24

Den überall grassierenden Nationalismus (diese „geistige Armseligkeit“, wie er 1914 in seinem Essay über den russischen Philosophen Pjotr Tschaadajew schrieb) hatte Mandelstam noch mitten im Ersten Weltkrieg aus der Poesie verwiesen. In einem Essay über André Chenier (1762 bis 1794), den Dichter und Märtyrer der Französischen Revolution, der sich gegen die Hinrichtungsexzesse auflehnte und am 25. Juli 1794 selbst zur Guillotine geführt und enthauptet wurde, hielt er sein Credo fest:

So stürzen in der Poesie die Grenzen des Nationalen ein, und das Element der einen Sprache findet seinen Widerhall in der andern, über Raum und Zeit hinweg, denn alle Sprachen sind geeint durch einen schwesterlichen Bund, der fest dasteht auf der Freiheit und Häuslichkeit einer jeden, und in dieser Freiheit sind sie schwesterlich verwandt und in häuslicher Vertrautheit rufen sie sich zu.25

In jenem verblüffenden Vers „Russland, Lethe, Lorelei“ des Gedichtes „Der Dekabrist“ steckte also auch ein Appell, die Trennung zwischen Russland und Deutschland nicht für immer zu akzeptieren, den „schwesterlichen“ oder „brüderlichen Bund“ nicht zu vergessen, dem Unterweltfluss des Vergessens keine ewige Macht zuzugestehen.

Der lila Kamm der Lorelei
Das Auftauchen der deutschen Sagengestalt in Mandelstams Gedicht war kein Einzelphänomen. Noch zweimal wird sie in seinem Werk wiederkehren, und wiederum in einem politischen Kontext. Zunächst in den Varianten zum Gedicht „Kama“ (April-Mai 1935) in den Woronescher Heften, das Mandelstams traumatische fünftägige Fahrt – unter Bewachung durch drei Soldaten – in die Verbannung nach Tscherdyn im Ural beschwört. Deren letzte Etappe ab Solikamsk durchlebte er, von Halluzinationen gequält, auf einem Dampfer auf dem Kama-Fluss:

Meinen Kopf hinterm Vorhang, befahr ich die Flut,
Ja den Kopf hinterm Vorhang, den Kopf in der Glut.

Und mit mir: meine Frau, und fünf Nächte kein Schlaf,
Ja fünf Nächte kein Schlaf, drei Bewacher uns nach.
26

Im Mandelstam-Archiv der Princeton University, New Jersey, ist ein Entwurf erhalten geblieben, in dem nach fünf Distichen zwei weitere folgen – sehr wenig „zensurtaugliche“ und wohl deswegen durchgestrichene: 

Das bin ich. Das ist der Rhein. Bruder, steh mir bei:
Unsere Feinde – sie feiern den Ersten Mai.

Mit dem Kamm der Lorelei fließe ich, in der Haft,
Die Weintrauben-Adern aufzuschneiden im Saft.

Wer spricht hier? „Das bin ich. Das ist der Rhein.“ Spricht der Rhein mit menschlicher Stimme? Oder spricht der Dichter, der auf dem Kama-Fluss in die Verbannung fährt und im Ural sich an den deutschen Fluss erinnert? Die Dichterstimme verschmilzt hier mit der Stimme des fernen Rheins. Und es folgt ein Hilferuf, der Sprechende braucht den Beistand eines „Bruders“ gegen die „Feinde“. Wer sind sie? Bereits 1921 hatte Mandelstam in seinem Essay „Das Wort und die Kultur“ eine scharfe Unterscheidung vorgenommen:

Soziale Unterschiede und Klassengegensätze verblassen heute vor der Teilung der Menschen in Freunde und Feinde des Wortes.27

Wenn die Feinde des Wortes das Wort haben, braucht ein Dichter, der bereits sein verhängnisvolles Epigramm gegen Stalin geschaffen hat und als „Volksfeind“ gilt, tatsächlich dringend Beistand.
Das zweite Distichon bewahrt ebenfalls ein Rätsel. Der Vers „Die Weintrauben-Adern aufzuschneiden im Saft“ beschwört nur vordergründig den Weinanbau in den Hängen über dem Rhein: Der Fluss fließt und erntet, keltert die ihm zustehenden Weintrauben. Der Ausdruck „die Adern aufzuschneiden“ lässt aufhorchen, an Mandelstams unweit zurückliegende Selbstmordversuche denken. Den ersten unternahm er nach seiner Verhaftung am 16./17. Mai 1934 in der Moskauer Lubjanka, nach nächtelangen Verhören, als er sich mit einer Rasierklinge, die er in Voraussicht derartiger Situationen in seine Schuhsohle hatte einarbeiten lassen, die Pulsadern öffnete. Das Objekt wird bereits in der „Vierten Prosa“ von 1929/1930 eingeführt:

Die kleine Gillette-Rasierklinge mit ihrem leicht schartigen und geneigten Rand ist mir immer als eines der vornehmsten Erzeugnisse der Stahlindustrie erschienen. […] Die kleine Gillette-Rasierklinge ist das Erzeugnis eines Todes-Trusts28 

Die Assoziation einer Rasierklinge mit dem „Kamm der Lorelei“ scheint hier schon angebahnt.
Den zweiten Selbstmordversuch beging Mandelstam in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1934 im Verbannungsort Tscherdyn, als er sich, halluzinierend und durch einen psychotischen Schub getrieben, im lokalen Krankenhaus aus dem Fenster stürzte, sich jedoch nur den rechten Arm brach. Der Selbstmord als wiederholte Versuchung findet sich verschlüsselt im Motiv des „Kamms der Lorelei“.
Es ist eine sinnfällige Assoziation, wenn die von Clemens Brentano („Zu Bacharach am Rheine“, 1801), Joseph von Eichendorff („Waldgespräch“, 1815) und Heinrich Heine („Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“, 1823) besungene Lore-Ley, das doppelgesichtige Symbol eines dämonischen, betörenden Reizes und einer tödlichen Gefährdung, ins Spiel gebracht wird. Die lockende Lorelei als verführerische Stimme, die den Dichter erneut zum Suizid anhalten will, hatte damit ihren zweiten Auftritt bei Mandelstam.
Nach dem Sprung aus dem Fenster kam er zur Besinnung, die Stimmen der Halluzination klopften nicht mehr gegen seine Schläfe, und diesen Moment hält er im 4. Gedicht der „Stanzen“ von Mai-Juni 1935 fest:

Den Spechtschlag warf ich ab. Ein Sprung. Ich bin erwacht.29

Erst jetzt, ein Jahr danach, konnten in den Gedichten die traumatischen Erlebnisse verarbeitet und gebannt werden.
Mit dem Sprung erlangte Mandelstam auch seine politische Klarsicht wieder. Und die Lorelei kam zu einem dritten Auftritt in seinem Werk. Ebenfalls in den „Stanzen“, im 7. Gedicht, heißt es:

Ich muss nun leben, atmen, bolschewisten,
Und Sprache tun, unfolgsam, Freund mir und allein –
Dort in der Arktis hör ich Sowjetmaschinisten,
Motorenlärm. Ich will erinnern, alles wissen:
Der deutschen Brüder Hälse, lila Kamm der Lorelei,
Mit dem der Gärtner – Henker – seine Pausen fristet.
30

Der verurteilte und nach Woronesch verbannte Mandelstam wollte sich in seinen „Stanzen“ der Epoche annähern, die schmerzliche Kluft zwischen ihm und den Zeitgenossen in Versen überbrücken. Der Imperativ zu „bolschewisten“ verbindet sich mit dem Aufruf zu leben, zu atmen. Und dennoch konnte seine Poesie nicht lügen, der Imperativ, sich zu erinnern (wörtlich im russischen Text: „Ich erinnere mich an alles“), war stark und ungebrochen wie zuvor.
Seine Sympathie gilt den „deutschen Brüdern“, deren „Hälse“ gerade von einem „Henker“ traktiert werden – mit dem „lila Kamm der Lorelei“, einem romantisch verbrämten Fallbeil oder Exekutionsinstrument. Nach Adolf Hitlers Machtergreifung 1933 braucht man nicht zu rätseln, wer mit dem „Henker“ gemeint ist. Und dennoch: Die beiden blutigsten totalitären Regime des Jahrhunderts werden hier überblendet, denn es war Stalin, der von der Sowjetpropaganda als „weiser Gärtner“ gepriesen wurde. Der Gärtner-Henker ist also ein monströses Verschmelzungsprodukt von Hitler-Stalin und Stalin-Hitler, vier Jahre vor dem 23. August 1939, dem Datum des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes oder „Hitler-Stalin-Paktes“ – hier ebenfalls sind Henker und Gärtner durch einen simplen Bindestrich verbunden. Der Wille zu „bolschewisten“ konnte Mandelstams politische Hellhörigkeit nicht zum Verschwinden bringen. Mandelstam überblendet die beiden Diktatoren und verdammt die entsprechenden Totalitarismen gleichermaßen.
Dreierlei Lorelei also bei Mandelstam: Bild für das romantische, aber auch aufklärerische Deutschland in „Der Dekabrist“ von 1917, von dem der Dichter durch den Lethe-Fluss des Vergessens getrennt ist („Russland, Lethe, Lorelei“); lockendes Symbol der Versuchung durch den Selbstmord, festgehalten von einem Dichter, der von den „Feinden des Wortes“ umstellt und zermürbt wird, in den „Kama“-Varianten (April-Mai 1935); mörderischer Kamm, der auf die Hälse der „deutschen Brüder“ niederfährt, Zeitvertreib eines „Henkers“ in den „Stanzen“ von Mai-Juni 1935. Die Lorelei wird danach nie wieder in seinem Werk auftauchen.

Kant im Scherzgedicht, Goethe im Rundfunk
Zu Beginn der dreißiger Jahre wird Mandelstams zeitweilig fast verschüttete Beziehung zu deutschen Themen neu angefacht durch die Begegnung mit dem Moskauer Zoologen Boris Kusin, den er während der Reise durch Armenien im Mai 1930 im Teehaus der Eriwaner Moschee kennenlernt. Es sollte eine bleibende, solide Freundschaft werden. Der Gesprächspartner war ein autonom denkender Mensch und belesener Zeitgenosse, der die Poesie liebte, Goethe und Bach verehrte. Es war in einer Epoche der Gleichschaltung und der hölzernen Sprache der Ideologen wie ein spätes Geschenk.
Nach dem 1930 erfolgten Bruch mit den offiziellen „Schriftstellern“, dem verhassten „Schreibertum“ (so in der zornigen „Vierten Prosa“ von 1929/1930), wird Mandelstam durch seinen Freund Kusin neue Bekannte unter den Naturforschern des Moskauer Zoologischen Instituts an der Nikitskaja Uliza finden. Einer von ihnen war Julij Wermel, der ebenfalls ein Verehrer der deutschen Kultur war, insbesondere der Philosophie Immanuel Kants.
Also zunächst eine humoristische Volte: Mandelstam schuf 1932 ein Scherzgedicht für ihn, in dem er mit dem Namen „Kant“ spielte und ebenso mit dem Ausdruck „den Narren gefressen haben“ – beziehungsweise im Russischen: „den Hund gefressen haben“.

Wermel war bei Kant beschlagen,
Heißt, er war nicht, nein, er brannte
Ganz verkantet sozusagen,
Er kannte Kant wie seine Tante.
Im schwarzen Gehrock ging, nein, rannte
Der Philosoph – so schnell sein Lauf!
Wermel fraß den Hund an Kanten,
Und Kant, der Hund, fraß ihn auch auf!
31

Mandelstams Humor war eine Waffe und ein Überlebensmittel in oft widrigen Lebensumständen. Die Freundschaft mit Kusin vermittelte ihm zu Beginn der dreißiger Jahre die wichtigsten Anregungen für eine Beschäftigung mit Biologie und Evolutionstheorie, aber auch mit der deutschen Kultur. Teile von Mandelstams Prosawerk Die Reise nach Armenien (1931/1931) sind Boris Kusin gewidmet – die Kapitel „Das Samoskworetschje-Viertel“ und „Rund um die Naturforscher“. Dort gibt es Passagen über Goethes Wilhelm Meister und eine Verquickung von Musik und Naturforschung:

Welcher Bach, welcher Mozart variiert das Thema des Blattes der Kapuzinerkresse?32

In Mandelstams wichtigstem Essay „Gespräch über Dante“ (1933), diesem kühnen Blick in die Werkstatt des mittelalterlichen Dichters, dieser Erkundung des dynamischen Wesens der Poesie, diesem tief schürfenden poetisch-politischen Text über Bewegung, Gehen und Denken (und Manifest gegen alles Erstarrte und Dekretierte!), hat auch der deutsche Romantiker und Bergbau-Experte Novalis seinen Auftritt, mit einer subtilen Anspielung auf das fünfte Kapitel des Romans Heinrich von Ofterdingen (1799; eine russische Übersetzung erschien 1914 in Moskau):

Die wunderbaren Seiten, die Novalis dem Bergmanns- und Steigerwesen widmet, konkretisieren die Wechselbeziehung von Stein und Kultur, lassen die Kultur wie eine Gesteinsschicht anwachsen, leuchten sie aus mit dem Licht steingewordenen Wetters.
Der Stein ist das impressionistische Tagebuch des Wetters, angesammelt in Millionen unruhigster Jahre. Doch er ist nicht nur Vergangenheit, er ist auch Zukunft… Er ist Aladins Wunderlampe, die das geologische Halbdunkel künftiger Zeiten durchdringt
.33

Stein und Kultur, die Durchdringung von geologischer Vergangenheit und kultureller Zukunft: Die Bedeutung dieser Passage kann man nur ermessen, wenn man die ungeheure Strahlkraft von Mandelstams „Stein“-Metapher in seinem ganzen Werk bedenkt (dazu auch der Kommentar zum Gedicht „Ich seh ihn steinern, diesen Himmel“, S. 118f.).
Der Wichtigste aber wird Goethe bleiben. Wann immer sich der späte Mandelstam mit ihm beschäftigt, ist das auch ein stiller Gruß an seinen Freund Kusin. Während der Reise durch Armenien, der er die Begegnung mit dem Moskauer Zoologen verdankte, hatte er bei der Erkundung des Berges Alagös auf einem Pferderücken nur schmales Gepäck:

An Büchern hatte ich einzig Goethes Italienische Reise bei mir34

Mandelstams Armenien-Projekt wird zu einer Begegnung von Orient und Okzident, zu einem West-östlichen Divan im Goetheschen Sinne, doch von eigener Prägung. Der von Goethe verehrte Dichter Hafis (1320 bis 1389) erscheint im ersten Gedicht des „Armenien“-Zyklus; Firdausi (939 bis 1020), den Dichter des Schah-Nameh (Buch der Könige), des persischen Nationalepos, las er in Eriwan im Kabinett des Direktors der armenischen Nationalbibliothek.35 Goethe reitet mit ihm durch das erträumte Land Armenien, einen Landstrich von jahrtausendealter Kultur…
In der Woronescher Verbannung gelang es Mandelstam zu Beginn noch, ein paar karge Brotarbeiten zu ergattern. Für den lokalen Rundfunk schrieb er zwischen Mai und Juli 1935 Sendungen über „Goethes Jugend“ und Christoph Willibald Glucks Oper Orpheus und Eurydike, seine Lieblingsoper, die er schon in einem Gedicht von 1920 beschworen hatte („Geisterhaft das Flimmern auf der Bühne“).36 Der Text über Gluck ist verloren, aber Fragmente des Manuskripts für die Goethe-Sendung blieben erhalten. Der verbannte Mandelstam wälzte zusammen mit seiner Frau Nadeschda Goethe-Ausgaben, las Dichtung und Wahrheit und beschwor fasziniert die ersten Lebensetappen eines glücklicheren deutschen Dichters. Es war auch ein verborgener letzter Ausflug in die eigene Jugendzeit, nach Westeuropa, nach Italien, in die Weltkultur. Nur kurze Zeit zuvor, im Februar 1935, musste Mandelstam vor einer Versammlung von Woronescher Schriftstellern Auskunft geben über seine literarische Vergangenheit. Auf die provokative Frage, was denn Akmeismus sei, folgte seine berühmte Replik:

Sehnsucht nach Weltkultur.37

Kurioses Paradox: Der Paria unter den russischen Dichtern schreibt über den ewigen Glückspilz Goethe. Es entstand ein einfühlsames Porträt, aber keine Verklärung des Götterlieblings, der ebenfalls in einem gewissen Sinne in einem Käfig (oder Sarg) sitzt:

Die Straßburger Kutschenmeister verfertigen ohne Eile ein Gefängnis auf Rädern, einen lackierten Sarg auf Stoßdämpfern, in dem sie Deutschlands größten Dichter in einen Zwergstaat verfrachten werden, ins Herzogtum Weimar, wo er bei einem besseren Gutsbesitzer Minister sein wird und als Fabeltierchen den Gästen vorgeführt werden kann.38

Dennoch ist Goethe ein Verbündeter des Verbannten, ein Symbol für ein unabhängiges, inneres Leben und die Fülle der Erinnerung, die dem Zugriff der totalitären Mächte entzogen sind. In einem kurzen Gedicht von Juni 1935 über Goethes Römische Elegien (1788–1790) besinnt sich Mandelstam auf die Eigengesetzlichkeit der Poesie und ein vielfältiges Leben außerhalb der herrschenden Gesetze:

Römischer Nächte gewichtige Barren,
Goethe, den Jüngling, verlockender Schoß,

Ich steh zur Antwort, doch mir nicht zum Schaden –
Leben gibt’s fern vom Gesetz, bodenlos
.
39

In seiner polemischen „Vierten Prosa“ (1929/1930) hatte sich Mandelstam zur „Gesetzlosigkeit“ seines Lebens und Dichtens bekannt:

Meine Arbeit wird […] als Ungezogenheit aufgenommen, als Gesetzlosigkeit […] Aber dies ist ja mein Wille, ich bin damit einverstanden. Ich unterschreibe mit beiden Händen.40

Ob im erotischen Wagemut (wie in Goethes Elegien) oder in der politischen Brisanz seines Werks: das Leben eines Dichters verläuft nach eigenen Gesetzen.
Die Beschäftigung mit Goethe bringt ihm jetzt auch seine leidenschaftliche Affäre von 1925 mit Olga Waksel ins Gedächtnis zurück, der er damals zwei seiner schönsten Gedichte gewidmet hatte.41 Nach in Moskau erfuhr Mandelstam zufällig von einem Bekannten auf der Straße vom Selbstmord Olga Waksels, die sich 1932 in Oslo erschossen hatte. Nun schreibt er im Juni 1935 voller Wehmut und Trauer ein spätes Requiem für Olga („Wie kann ich die Tote, die Frau nun noch loben?“), mischt Goethes „Lied der Mignon“ („Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“), dieses Lied der Sehnsucht nach der Wärme des Südens, mit dem Frost von Schuberts „Winterreise“ – und seiner eigenen Situation im Verbannungsort Woronesch. Hier die letzte Strophe:

Dein lastendes Bild will ich immer bewahren,
Du Bärenkind, Wildling, Mignon –
Doch Mühlen im Schnee werden Winter erfahren,
Vereist ist dein Horn, Postillion
.42

Goethe erschien bereits in den „Achtzeilern“ von November 1933 bis Januar 1934, als Mandelstam fast zeitgleich mit dem „Epigramm gegen Stalin“ einen Zyklus poetologischer Gedichte schuf, Besinnungen auf das Wesen und die Entstehung von Poesie. Das 5. Gedicht:

Und Schubert auf dem Wasser, Mozart in Vogelstimmen
Und Goethe pfeifend auf dem wirren Pfad durchs Kraut,
Und Hamlet denkend in beklommen bangen Schritten –
Hörten den Puls der Menge, haben ihr vertraut.
Vielleicht ist dieses Flüstern älter als die Lippen
Und Blätter trieben, als kein Baum noch stand,
Und jene, denen wir Erfahrung widmen –
Sie haben ihre Prägung längst erlangt.
43

Dass die großen Musiker, Dichter und Denker nur das universell Menschliche zum Ausdruck bringen und sich nicht außerhalb des Lebens oder über der Menge befinden, war Mandelstams steter Gedanke. Es ging nur darum, würdig einen Weg durchs Leben zu finden, einen „wirren Pfad durchs Kraut“. Einen Weg aber weist die Poesie, die älter ist als alle Dichter:

Vielleicht ist dieses Flüstern älter als die Lippen.

Flüstern und Lallen sind bei Mandelstam Metaphern für die Sprache der Dichtung („Er ist nur darum Strahl, / Er ist nur darum Licht. / Vom Flüstern mächtig-prall, / Vom Lallen warm und dicht“, heißt es in einem Woronescher Gedicht vom 23- März 1937).44 Dass das Flüstern der Poesie von weiter herkommt als die Lippen des Dichters, davon spricht auch das wichtigste Gedicht, das Mandelstam seinem Freund Boris Kusin widmete: „An die deutsche Sprache“, entstanden vom 8. bis zum 12. August 1932.

„Gott Nachtigall“ und das Ur-Buch der Poesie
Es ist der Höhepunkt seiner Beschäftigung mit dem „tiefsinnigen, zärtlichen Land“. Und es sollte das letzte zu Mandelstams Lebzeiten publizierte Gedicht werden – abgedruckt war es in der Literaturnaja Gazeta vom 23. November 1932.

AN DIE DEUTSCHE SPRACHE
Für B.S. Kusin 

Mir zum Ruin, mir selber widersprechend,
Wie eine Motte in die Flamme schwankt,
Will ich aus unsrer Sprache fort! Aufbrechen –
Nur dem zuliebe, was ich ihr verdank.

Denn zwischen uns herrscht Lob, ohne zu schmeicheln,
Die Freundschaft lebt auch ohne Heuchelei –
So lernen wir denn Ernst und Ehre leichter
Im Westen dort, in fremder Kumpanei.

Du Poesie! Du brauchst Gewittertoben!
Erinnre mich an einen deutschen Offizier:
Um seinen Degengriff rankten sich Rosen,
Sein Mund – der Göttin Ceres nie verliert…

In Frankfurt damals, als die Väter gähnten,
Von einem Goethe war da noch kein Wort,
Ersann man Hymnen, hüpften Pferdemähnen
Und tänzelten, wie Lettern, stets an Ort.

Ihr Freunde, waren wir schon in Walhalla,
Wo man zusammen seine Nüsse knackt?
Und welche Freiheit gab es da, für alle?
Auch Wege, die ihr mir gewiesen habt?

Und gradewegs aus schönen Almanachen,
Aus ihrer Neuheit, grandios und fein,
Stiegen wir ohne Angst in unsern letzten Nachen,
Wie in den Keller, um einen Krug vom Moselwein.

Die fremde Sprache wird mir einst zur Hülle,
Und lang bevor ich’s wagte: das Geborensein,
Da war ich Letter, war ich Traubenzeilen-Fülle,
Ich war das Buch, das euch im Traum erscheint.

Als ich noch schlief, gesichtslos, unentwickelt,
Da weckte mich die Freundschaft wie ein Schuss.
Gott-Nachtigall, gib mir Pylades’ Schicksal,
Sonst nimm mir meine Zunge – kein Verlust.

Gott-Nachtigall, sie wollen mich wieder mischen
Zu neuer Pest und Sieben Jahren Blut.
Der Laut hat sich verengt, die Worte zischen,
Du aber lebst, und ich – der in dir ruht
.45

Hier reist ein russischer Dichter im Geist zurück ins deutsche 18. Jahrhundert, in eine Zeit, als es „von Goethe noch kein Wort“ gab. In einer frühen Fassung des Gedichts, datiert vom 8. August 1932, war es – in Form eines Sonetts – eine Hommage an den „Dichter und Soldaten“ Ewald Christian von Kleist (1715 bis 1759), den Freund Lessings, der als preußischer Offizier im Siebenjährigen Krieg in der Schlacht gegen die Russen bei Kunersdorf tödlich verwundet wurde.46 Er ist der „deutsche Offizier“ ohne Namen in der 3. Strophe der endgültigen Fassung, bei dem sich „Ernst und Ehre“ lernen ließe. Dieser Dichter – sein bekanntestes Werk ist „Der Frühling“ (1749) – kam gewiss durch Boris Kusin in Mandelstams Fokus, der durch diese Freundschaft aus tiefem Schlaf „wie durch einen Schuss“ aufgeweckt wurde. Das Thema der Freundschaft bekommt im Gedicht eine mythische Dimension durch die Anspielung auf die Freundschaft von Orestes und Pylades, wie sie in der griechischen Mythologie, in den Dramen von Aischylos („Die Choephoren“, 2. Teil der Orestie-Trilogie) und Euripides („Orestes“), als geradezu sprichwörtliche freundschaftliche Verbundenheit erscheint.
Mandelstam las auf Anregung Kusins vermutlich auch Goethes Iphigenie auf Tauris. Denn der Name des alten Tauris – es ist die heutige Halbinsel Krim – muss wie ein Zauberwort auf ihn gewirkt haben: Für Mandelstam war die Krim zeit seines Lebens Gelobtes Land, ein Balkon auf den Mittelmeerraum (die Verbindung bildete das Schwarze Meer), auf die Wiege der europäischen Kultur. Die Halbinsel bedeutete in seinen Träumen immer Süden, Wärme und ein Stück Europa. Auf der Krim schrieb er einige seiner schönsten Gedichte, sie war ein Ersatz für das ihm unzugängliche Griechenland: „Hier im steinigen Tauris ist Hellas, sein Wissen noch wach“, schreibt er im August 1917 im Gedicht „Aus der Flasche ein Strom: wie der goldene Honig“.47 Und mit Goethes Iphigenie hätte er die Verse sprechen können:

Und an dem Ufer steh ich lange Tage,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend

In den bewegten Dialogen zwischen Orest und Pylades in Goethes Iphigenie auf Tauris könnte Mandelstam Echos auf die lebendigen Gespräche mit seinem Freund Boris Kusin gehört haben…
Doch Mandelstams Reise führt noch weiter zurück und tief hinein in das Wesen der fremden Sprache und der Poesie. Es ist ein Aufbruch beinah gegen den eigenen Willen, tragisch und Verderben bringend: „Wie eine Motte in die Flamme schwankt“ (1. Strophe). Mandelstams Beschäftigung mit fremden Sprachen und Literaturen, in den Jahren 1932 und 1933 besonders mit dem Italienischen, mit den Dichtern des Mittelalters und der Renaissance (Dante, Petrarca, Ariosto, Tasso), war keine Liebhaberei, sondern ein verzweifelter Ausbruch in die Weltpoesie. Mandelstam plagte dieser Faszination wegen ein Schuldgefühl: Er hatte den Zugang zum zeitgenössischen Leser verloren, war gesellschaftlich isoliert und suchte das Gespräch mit Dichtern ferner Epochen. In einer düsteren Vision von Mai 1933, im Gedicht „Versuch sie nicht, die fremden Sprachen“, sieht er für die unerlaubte Begeisterung einen „Unheilslohn“ für die „Verräterlippen“ bereitstehen, den „Essigschwamm“:

Und zur Vergeltung für den Hochmut, du unrettbarer Freund des Klangs,
Erhalten die Verräterlippen zur Stillung nur den Essigschwamm
.48

Die Anspielung auf die Kreuzigungsszene ist nur eine von Mandelstams Voraussagen seines Endes.
Und dennoch heißt es im Gedicht „An die deutsche Sprache“:

Ich will aus unserer Sprache fort.

Poesie ist ein Brückenschlag zwischen den Zeiten und Sprachen, ein Aufbruch ins Fremde wider alle persönliche Gefährdung. Ebenso sehr wie von Kleist ist das Gedicht von der Figur Heinrich Heines geprägt, der 1831 die Welt der deutschen Sprache verließ und nach Paris ins Exil ging, einem dichterischen Impuls des Aufbruchs folgend, sich ins Fremde aufmachte, wie es sich auch der russische Dichter in der ersten Strophe vornimmt.
Und was ist mit dem rätselhaften „Gott Nachtigall“, der in den letzten beiden Strophen auftaucht? Tatsächlich steht dort das deutsche Wort „Nachtigall“, kyrillisch geschrieben, nicht das russische Wort „solovej“. Der Schlüssel liegt (wie Omri Ronen 1991 nachwies) in Heines Gedicht „Im Anfang war die Nachtigall“. Es ist ein Drama um Selbsthingabe und Opfertod – die Nachtigall opfert sich für die Vögel des Waldes. Hier die ersten drei Strophen:

Im Anfang war die Nachtigall
Und sang das Wort: Züküht! Züküht!
Und wie sie sang, spross überall
Grüngras, Violen, Apfelblüt.

Sie biss sich in die Brust, da floss
Ihr rotes Blut, und aus dem Blut
Ein schöner Rosenbaum entspross;
Dem singt sie ihre Liebesglut.

Uns Vögel all in diesem Wald
Versöhnt das Blut aus jener Wund;
Doch wenn das Rosenlied verhallt
Geht auch der ganze Wald zugrund.

Dass in der Anfangszeile das Johannes-Evangelium („Im Anfang war das Wort“) anklingt, liegt nahe. In Mandelstams Gedicht wird das russische Wort für „Wort“, nämlich „slovo“, umspielt mit dem lautlich nahen, aber abwesend bleibenden Wort für „Nachtigall“, also „solovej“. Es ist, als ob hier ein russischsprachiger Heine oder ein deutschsprachiger Mandelstam am Werk wäre, was gerade in diesem Gedicht mit seinem Thema der Überschreitung von sprachlichen und nationalen Grenzen reichen Sinn eröffnet. Beide huldigen dem „Gott des Wortes“, der auf so merkwürdige Weise in der russischen Sprache in die Nähe der Nachtigall rückt – dieses Symbols für Poesie und Gesang.
Mandelstam verknüpft im Wortspiel um „Wort“ und „Nachtigall“ also nicht nur die russische mit der deutschen Sprache, sondern auch die deutsche Lyriktradition des 18. und 19. Jahrhunderts (Ewald Christian von Kleist und Heinrich Heine) mit der russischen Moderne. Er baut einmal mehr Brücken zu uns, nach Westeuropa, bleibt seiner Bestimmung eines „europäischen Dichters“ treu. In einem „Walhalla der Dichter“ (5. Strophe) kommen die einst fremden Dichter zusammen, die Grenzen sind dort abgeschafft, dort gibt es „Freiheit“ und den „schwesterlichen Bund“ der Sprachen, von dem der Essay über den während der Französischen Revolution enthaupteten Dichter André Chénier sprach. Es ist eine Art Paradies der Poesie, ein idealer Ort für Dichtergespräche.
Heines Gedicht, in dem die Nachtigall für die anderen sterben muss oder will, zeigt aber auch die Motive der Gefährdung des Lebens, der Selbstopferung, der Selbstverbrennung, die Mandelstam schon im 2. Vers anführt:

Wie eine Motte in die Flamme schwankt.

Es gibt eine Versöhnung durch die Kunst, die Erlösung durch Gesang, die Welt-Erhaltung (Wald-Erhaltung) durch das Lied. Aber um welchen Preis: Die Nachtigall muss sterben!
Der Tod des Gesangs war längst ein Motiv in Mandelstams Werk geworden, im Gedicht „Bahnhofskonzert“ von 1921 („Zum letzten Mal für uns erklingt Musik“)49 ebenso wie in der Prosa „Die ägyptische Briefmarke“ von 1928, wo die italienische Sängerin Angiolina Bosio im russischen Frost an Lungenentzündung stirbt:

Wie hoch sie liegt! Ist das denn der Tod? Der Tod wagt im Beisein des diplomatischen Korps keinen Mucks zu tun. – Wir werden sie mit Federbüschen, Gendarmen und Mozart zu Grabe tragen! […] Leb wohl, Traviata, Rosina, Zerlina…50

Das Gedicht führt ins Walhalla der Dichter und nach Frankfurt, wo in der Judengasse einst vielleicht Mandelstams Vorfahren lebten. Es ist mithin auch eine versteckte Hommage an Mandelstams Mutter und Vater: Erinnerung an Emilij-Chazkel Benjaminowitsch Mandelstams Begeisterung für die deutschen Dichter und Philosophen und an das aufgeklärte Haskala-Judentum der Familie seiner Mutter Flora Werblowskaja. Ob sich Mandelstam in der 7. Strophe des Gedichtes („Und lang bevor ich’s wagte: das Geborensein, / Da war ich Letter, war ich Traubenzeilen-Fülle“) mit der jüdischen Mystik trifft, für welche die Thora Vor-Existenz ist, die der Wirklichkeit vorausgehende Schrift? Und die Traube seiner „Traubenzeile“? Ist es die Traube, die die Kundschafter aus dem gelobten Land zurückbrachten (Numeri, IV. Buch Mose, 13) als Symbol der Verheißung und künftiges Sinnbild des Volkes Israel?
Mandelstams Gedicht „An die deutsche Sprache“ spricht darüber hinaus von der Universalität der Poesie. Dichtung ist hier mythische Vor-Existenz, Ur-Buch, Ur-Traum des Menschen:

Ich war das Buch, das euch im Traum erscheint.

Mythisches Ur-Buch, von dem alle Dichtung herkommt und in dem alle Poesie der Welt aufgehoben ist. Mandelstams nur kurz zuvor, am 18. Juni 1932, entstandene Hommage an den russischen Dichter Konstantin Batjuschkow (1787 bis 1855) spricht vom „Traubenfleisch der Gedichte“, von „ewigen Träumen“, die der Dichter „wie Blutproben“ von einem Gefäß in das nächste zu gießen habe:

Er, der den Tasso beweint hat, nun spricht er:
„Selten noch hat man mir Lob aufgetischt;
Einzig das Traubenfleisch guter Gedichte
Hat mir bisweilen die Zunge erfrischt.“

Lass nun die staunenden Brauen sich sträuben,
Städter du, und allen Städtern ein Freund!
Gieße wie Blutproben – ewige Träume
Aus einem Glas in das nächste hinein
51

Ob göttliche Offenbarung oder Ur-Buch der Poesie, die beiden Lesarten müssen sich nicht gegenseitig ausschließen. Das Gedicht „An die deutsche Sprache“ träumt eine Begegnung von jüdischer Mystik mit dem deutschen 18. Jahrhundert der Aufklärung, eine Hochzeit von Kabbala und Ratio. Und dies 1932, im Jahr vor Hitlers Machtergreifung! Mandelstams Gedicht stellt in Vorahnung neuer geschichtlicher Katastrophen ein Gegengift gegen Pest und Krieg bereit: geistige Vorräte und positive Begriffe wie Ernst und Ehre, Lob ohne Schmeichelei, Freundschaft ohne Heuchelei, Freiheit, großzügig gewiesene Wege, Wort-Kultur („Letter, Zeile, Buch“), Angstfreiheit angesichts des Todes („Stiegen wir ohne Angst in unsern letzten Nachen“).
Auch wenn das Gedicht 1932 „neue Pest“ und „siebenjährige Kriege“ prophezeit, in dieser Vision auch schon den Zweiten Weltkrieg vorausahnend, schließt der russische Dichter mit einer Bekräftigung der Vitalität der deutschen Sprache („Du aber lebst“) und seines ruhigen, gelassenen Vertrauens in sie („Und ich – der in dir ruht“). Es bekräftigt Mandelstams Verbundenheit mit der deutschen Sprache und dem „tiefsinnigen, zärtlichen Land“. Das Gedicht ist ein Geschenk an die deutsche Sprache und den deutschsprachigen Leser, dem Mandelstam seine Träume und deren geheime Botschaft anvertraut:

Ich war das Buch, das euch im Traum erscheint.

Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg. Gedichte und Briefe 1909–1910, Wallstein Verlag, 2016

Wahrheit, Dunkelheit

Kaum ein Zeitalter hat so viele kühne, originäre, wortmächtige und zugleich blutjunge Dichter hervorgebracht wie die ersten beiden Jahrzehnte dieses Jahrhunderts in Rußland. Valerij Brjussow, der Vertreter des Symbolismus, war schon mit dreißig Jahren auf der Höhe seines Ruhmes, seinen Namen setzte man neben Leopardi, Mallarmé, Verhaeren. Und Alexander Blok war erst 31, als er starb, durch seine Zigeunerromanzen und das Poem „Die Zwölf“ weltweit bekannt. Nikolai Gumiljow veröffentlichte seine ersten Gedichte mit 19 Jahren, mit 22 entwarf er bereits die Theorie der akmeistischen Schule und gründete die einflußreiche Zeitschrift Apollon; nicht viel älter war seine spätere Frau Anna (Grigorenko) Achmatowa, als sie mit ihrem ersten Band Der Abend einen ganz neuen Ton in die russische Liebeslyrik einbrachte. 1915 hatte ein zweiundzwanzigjähriger Dichter in einem furiosen Poem die kommende Revolution prophezeit: Wladimir Majakowskij – und Welemir Chlebnikow, ein genialer Spracherneuerer und Spracherfinder, den es nun endlich auch bei uns zu entdecken gilt, verwirrte schon als 25jähriger den literarischen Geschmack der herrschenden Klasse. Ossip Mandelstam hatte als Student mit seinen im Apollon erschienenen Gedichten Bewunderung erregt, ein erster Band aus dem Jahr 1915, Der Stein, bestätigte die von der Kritik in ihn gesetzten Hoffnungen. Muß man daran erinnern, daß die Zwetajewa mit 18 ihr AbendAlbum herausbrachte, Chodassjewitsch bereits mit 24 Jahren – schon damals berühmt und anerkannt – ins Exil ging, und Jessenin, ein russischer Rimbaud, nach einem wilden, skandalumwitterten Leben mit 30 Jahren Selbstmord verübte: die Welt trauerte um ihn. Man könnte beliebig fortfahren und noch einmal so viele Namen aufzählen, Bagrizkij und Pasternak, Erlich und Markisch, Tichonow und Burljuk – es war das Zeitalter der jungen ,Genies‘, der sich rasch ablösenden und einander bekämpfenden Dichterschulen und Gruppen, der lauten Manifeste und der stillen Erneuerungen; die literarische Revolution hatte schon vor der politischen Revolution begonnen. Keine Zeit, das läßt sich wiederholen, hat so viele große Talente hervorgebracht. Keine Zeit hat freilich auch – und der bittere Satz von Roman Jakobson gehört in diesen Zusammenhang – so viele Talente vergeudet. Kaum ein Dichter dieser Generation hat die Zeitläufte unbeschädigt überstanden. Das Ende dieses Zeitalters ist so tragisch wie der Aufbruch enthusiastisch war: Verfemung, Verbot, Exil, Selbstmord, Verstummen – und das nicht selten vom Staat verordnete Vergessen als eine andere Art von Liquidation.

Nicht viel wissen wir über Mandelstams Herkunft noch weniger über seinen Tod. Seine Vorfahren sollen aus dem Westen gekommen sein; jede Generation war ein Stück weiter nach dem Osten gegangen, der Sonne entgegen. In Warschau, im jüdischen Viertel, wurde er 1891 geboren, in Petersburg ist er aufgewachsen. Auf einem Gut in Pawlowsk, wo er die Sommerferien verbrachte, soll er als 16jähriger mit den Dienstboten Tschechows Möwe einstudiert haben. Sein Vater, der sich die Mandelstams immer nur als Kaufleute vorstellen konnte muß ziemlich entsetzt gewesen sein, als ihm sein Sohn eines Tages erklärte, daß er nun „Dichter werden wolle, er könne sich nur noch nicht entscheiden, ob er lieber Gedichte oder Theaterstücke schreiben werde“. Die Literaturgeschichte weiß es; er schrieb Gedichte, fast ausschließlich, und er begann damit sehr früh, als er Student in Paris und Heidelberg war, beeinflußt von Nerval und der deutschen Romantik; später, werden wir sehen, sollte er eher ein russischer Mallarmé werden. „Die Melodien des Wälderschweigens um mich her“, schreibt er in einem seiner frühen Gedichte. Also nicht die Melodien der Wälder – die Melodien des Schweigens. Dieses Schweigen richtet er früh um sich auf. Darin begräbt er seine Einsamkeit, seinen Stolz, seinen Hochmut. Auch seinen Zweifel, seinen Schmerz, seine Erniedrigungen (vielleicht die Erinnerung an antisemitische Pogrome, die er als 14jähriges Kind erlebte). Ich bin einsam und kann nichts dafür. Da ist er zwanzig. Siebzehn weitere Jahre trägt er diesen Satz mit sich herum, bis zu seinem unwürdigen, unbekannten, einsamen Tod.

Man gab mir einen Körper – wer
sagt mir, wozu? Er ist nur mein, nur er.

Die stille Freude: atmen dürfen, leben.
Wem sei der Dank dafür gegeben?

Ich soll der Gärtner, soll die Blume sein.
Im Kerker Welt, da bin ich nicht allein.

Das Glas der Ewigkeit – behaucht:
mein Atem, meine Wärme drauf.

Die Zeichnung auf dem Glas, die Schrift:
du liest sie nicht, erkennst sie nicht.

Die Trübung, mag sie bald vergehn,
es bleibt die zarte Zeichnung stehn.

Mandelstam ist 18, als er dieses Gedicht schreibt. Heute ist man versucht, in solchen Sätzen eine beinahe schicksalhafte Vorahnung von Erfahrungen zu sehen, eine thematische Obsession, die in seinen späteren Gedichten mehr und mehr aufbricht und sich enthüllt. Oder war das nur von einer allgemeinen Bewußtseinslage diktiert, dem ,europäischen Weltschmerz‘, der damals Mode war? Die Ernsthaftigkeit und Intensität des Gefühls, mit denen ein 18jähriger hier umgeht, weisen freilich darüber hinaus, und schon jetzt sind seine Beziehungen dazu aus verschiedenen Quellen gespeist, aus Tradition und Erfindung, dem Einfluß mallarméscher Sprachmagie und Solowjowscher Existenzphilosophie, vielleicht auch aus seiner jüdisch-orthodoxen Kindheit die ihm früh das Bewußtsein der Vereinzelung, des Isoliertseins vermittelte. Die Welt ist ein Kerker, das hatten auch die Symbolisten gesagt, doch Alexander Blok postulierte, daß niemand anderes als der „wahre Dichter berufen sei, seine Figuren aus der Finsternis hinaus zu führen“. Mandelstam verbannte sich selbst und seine Figuren „lebenslänglich“ in den „Kerker Welt“.
Mit diesem Gedicht „betritt Mandelstam den Parnaß der russischen Literatur“ (Schklowskij), er ist jetzt erkennbar als Dichter. Das ist es, was überrascht, sogar in einer Zeit, in der die jungen, hochbegabten Talente an der Tagesordnung sind. Es gibt bei Mandelstam kaum eine Entwicklung (wenn man von einigen Jugendgedichten absieht, die er nicht in seinen ersten Gedichtband aufgenommen hat), keine frühen oder späten Werke, keine Zeit der Reife. Seit diesem Gedicht, in dem er sinnenhaft und denkerisch zugleich ist, wortmagisch und klangstrukturiert, von appollonischer Klarheit und orphischer Dunkelheit – was man erst vor dem Hintergrund des Aufstands gegen den herrschenden Symbolismus begreift –, hält er in seinem schmalen Œuvre bis zum Ende eine kaum schwankende Qualität, durch alle Gefährdungen der Zeit ein hohes Bewußtsein von Form und Stil und Meisterschaft aufrecht.
Mandelstam hatte sich früh der neuen Gruppe der Akmeisten (abgeleitet von griech. akmé: Blütezeit, Reife) um Gumiljow und die Achmatowa angeschlossen, die herunter wollte von den Kothurnen der Symbolisten, von den großen Metaphern und der mystischen Unklarheit, den esoterischen Anspielungen. Sie gründeten die Zeitschrift Apollon und postulierten eine neue Einfachheit und Klarheit des dichterischen Ausdrucks, die Hinwendung zur Wirklichkeit, keine „Trennung mehr zwischen häßlicher Prosa und über allem schwebender Poesie“ (N. Mandelstam). Sie waren „mehr an der sinnlichen Erscheinung, der Dichte der Dinge interessiert als an ihrem Inneren, ihrer Seele“ – so Ossip Mandelstam in seinem Manifest „Der Morgen des Akmeismus“. Freilich, den wirklichen Bruch mit dem Symbolismus, die Hereinnahme des Alltags und der Straße (bis hin zur Agitprop), haben erst die Futuristen durchgeführt. Die Achmatowa und vor allem Mandelstam, der sich von der Wortmagie der Symbolisten niemals löste, suchten nach einer neuen Klassizität ohne in alte Konventionen zurückzufallen. Klarheit, Schönheit, Einfachheit, Dauer, Ambivalenz der realen Erscheinungen, das waren damals ungewohnte Gedanken.
Nun sollte man den Einfluß des Akmeismus auf Mandelstam nicht zu wichtig nehmen, in den Literaturgeschichten wird er meist übertrieben. Ebensosehr – und das hat man bisher kaum untersucht – müßte der Einfluß des Hellenismus auf den Studenten der Philosophie beachtet werden wie auch der Einfluß des jüdisch-orthodoxen Elternhauses. Dafür lassen sich jene Gedichte anführen, die schon thematisch darauf anspielen: „Schlaflosigkeit. Homer“ oder „Petropolis, Diaphan“ oder auch „Die Priester“, „Diese Nacht: nicht gutzumachen“. Es gibt andere, wie etwa das Titelgedicht seines zweiten Bandes Tristia, das nur in der Reimstruktur und in den Klang-Assoziationen das Ovidsche Vorbild verrät. Und in einem Gedicht wie „Grillenlied aus Uhren tickend“ oder jenem „Ihr Schwestern schwer und zart“ finden wir die mystisch-kabbalistische Weisheit der Chassidim:

Ihr Schwestern schwer und zart, ich seh euch – seh dasselbe.
Die Imme und die Wespe taucht in die Rose ein.
Es stirbt der Mensch, und kalt wird der Sand, der glutdurchschwelte,
die gestern helle Sonne – schwarz trägt man sie vorbei.

Ein Stück Erkenntnissuche soll seine Dichtung sein, aber nicht vordergründig im Lichte der Wahrheit, sondern in der Antinomie: „im Lichte der Dunkelheit“. Was wir schon an anderer Stelle bei Babel festgestellt haben, die Gegensätze und Antithesen, die Doppelbedeutungen treffen wir auch hier wieder, doch würden wir es uns zu einfach machen, wenn wir dies allein auf das jüdische und das russische Element bei beiden zurückführten. Warum er mit seinem ersten Gedichtband Der Stein auf eine schon damals überraschende Weise zeitgültig und zeitlos zugleich wirkte, hängt mit eben dieser vorherrschenden Ambivalenz zusammen. Der Augenblick ist eingebettet in Ewigkeit, die Gegenwart in Geschichte, das Autobiografische in das Allgemeine – sogar die Revolution ist nicht anderes als eine gewaltige, alles verändernde Metamorphose. Das Wort ist für ihn nicht nur Transportmittel für eine Aussage, sondern zugleich Wort-Sinn, Wort-Bild, Wort-Klang – Magie des Wortes, wie er von Mallarmé gelernt hat, die seine Verse in eine kristallinische Dunkelheit taucht. „Die Magie des Dinglichen“, von der Johannes Holthusen spricht, berührt sich hier mit der hermetischen Geschlossenheit der Italiener, mit Ungaretti oder Montale. „Ihr Schwestern schwer (tjaschest) und zart“ (njeschnost): da ist die Ambivalenz seines Werkes ausgedrückt und vielleicht auch seine dichterische Intention, die das Schwere und das Zarte, das Chaos und die Harmonie, das Artifizielle und das Barbarische das Licht und die Dunkelheit versöhnen will. Ob ein solches Wort wie „Dämmerung“ in den verschiedenen Spielarten deshalb ein so bevorzugtes Wort von ihm ist? Einmal spricht er sogar von seinem „Dämmerleben“, was durchaus einen aktiven Sinn ausdrücken will.
In dieser Spannung hat er geschrieben, und er hat keine Synthese gefunden. „Die Wahrheit Licht und die Wahrheit Dunkelheit“, darin sollte der Mensch sich zurechtfinden. Das Artistische, das man ihm vorgeworfen hat, war auch nichts anderes als ein Gegenbild zu den Auflösungstendenzen der Kunst um ihn herum, ein Widerstand gegen den Verfall der Sprache, wie er ihn in einer nur im Gesellschaftlichen orientierten Literatur sah. In diesem Zusammenhang sei an Adornos Behauptung (in seinem Valéry-Aufsatz) erinnert, daß „dem berüchtigten Artisten und Ästheten Valéry tiefere Einsicht in das gesellschaftliche Wesen von Kunst zufällt als der Doktrin ihrer unmittelbaren praktisch-politischen Nutzanwendung“, was implizit auch für Mandelstam gelten kann. Er hat sich nicht theoretisch über das Verhältnis von Gesellschaft und Kunst geäußert, aber in einem seiner Essays („Über den Gesprächspartner“) spricht er von der Rezeption eines Kunstwerks, das immer nur vom Einzelnen, sogar nur von dem „Einen“ nachvollzogen werden kann, und häretisch zu den Ansichten seiner Zeit, sieht er in einer Massenkunst den Verrat von Kunst, nämlich undefinierbare Gefühle, wo Kunst sich doch in erster Linie des disziplinierten Gefühls versichern müsse. So versteht er sein Gedicht eher antikollektivistisch; aber nicht antigesellschaftlich:

Um an ihre Adresse zu gelangen, brauchen diese Zeilen vielleicht ebenso viele hundert Jahre, wie ein Planet braucht, um sein Licht zu einem anderen Planeten zu senden. Deshalb werden (er spricht hier von Sologubs Versen, könnte aber ebensogut seine eigenen meinen; H. B.) seine Verse als Ereignis und nicht nur als Zeichen von Erlebtem weiterleben. Wenn auch einzelne Gedichte an konkrete Personen gerichtet sein können, so wendet sich die Dichtung als Ganzes doch stets an einen mehr oder minder fernen, unbekannten Adressaten, an dessen Existenz der Dichter nicht zweifeln kann, ohne an sich selber zu zweifeln. Das hat nichts mit Metaphysik zu tun. Nur die Realität kann eine andere Realität zum Leben erwecken.

Formal war Mandelstam ein Bewahrender, thematisch ein Zerstörender. Vielleicht hat er sich deshalb immer wieder mit der Zeit auseinandergesetzt wie sonst niemand unter seinen Zeitgenossen in Rußland. Ansätze hat es gegeben bei Dostojewskij, bei Andrej Bjelyj, aber die Reflexion über die Zeit und das Zeitlose war damals eher beherrschend in der angelsächsischen Dichtung, bei John Donne und Ezra Pound, bei Joyce und dem Eliot des Waste Land. Mandelstam bringt dies in die russische Literatur ein.

Sie, die Zeit, bewegt die Welle,
schaukelt sie mit Menscheleid.
Dort im Gras, die Ottern schnellen
nach dem goldnen Maß der Zeit.

Der nicht zeitgemäß sein wollte, mißt die Zeit nach ihrem Leid. Der aus der Zeit gehen will, bewegt die Zeit und bleibt zeitlos.

Was ich jetzt sage, sage nicht ich,
sondern es ist ausgegraben aus der Erde
wie das versteinerte Weizenkorn.

Ein Schlüsselsatz, ein Bekenntnis: sein Credo. Die Zurücknahme des Ichs, der Verzicht auf die Autorschaft: eine Begegnung mit dem späten Borges über die Jahrzehnte, die Kontinente hinweg. Später schreibt er:

Meine Zeit, mein Raubtier.

Und er spürt, wie ihm die Zeit verlorengeht, wie sie zerstört wird:

Doch du, Zeit, die mein ist
deine Wirbel liegen da, zerschellt…

Und dann, in ein und demselben Gedicht, erst die Hoffnung: „laßt uns zeiten mit der Zeit“, dann gleich die Verzweiflung:

da stirbt die Zeit!

Darin bekennt er, abschiednehmend, daß er niemands Zeitgenosse war, vielleicht, weil man, wie schon Pound geschrieben hatte, niemandes Zeitgenosse sein müsse, um Zeitgenosse von allen zu sein.

War niemands Zeitgenosse, wars in keiner Weise,
solch Ehre ist zu hoch für mich.
Ein Greul, wer da so heißt, wie sie mich heißen
das war ein andrer, war nicht ich.

Zwei Schlummeräpfel nennt die Zeit ihr eigen,
ihr Herrschermund ist lehmig-schön.
Doch wird er sich der welken Hand entgegenneigen
des Sohns, der altert, im Vergehn.

Mit ihr, der Zeit, hob ich empor die Lider,
die schmerzenden, das Schlummerapfelpaar,
und sie, die Ströme, sie erzähltens wieder:
wie Menschzwist entbrannte, Jahr um Jahr.

Der Welten Rasselschritt, und dies, inmitten:
dies Bett hier, leicht, so leicht.
Nun, da wir keine sonst zusammenschmieden,
so laßt uns zeiten mit der Zeit.

In heißen Stuben, unter Zelten, Plachen,
da stirbt die Zeit – und alsobald:
das Schlummerapfelpaar, auf hörnerner Oblate,
es leuchtet, weiß, es strahlt.

Tief in der Erde vergraben war dies Weizenkorn. Vierzig Jahre später erst sollte eine neue Generation in der Sowjetunion diese Samenkörner ausgraben und fortpflanzen, jene vergessene, verschüttete Tradition des Mandelstam: die Reflexion über die Zeit. Exemplarisch dafür: die große Elegie auf John Donne von Jossif Brodskij.
Das zeitlose gehört nicht nur zum Werk, auch zur Person Mandelstam. Der Freund Viktor Schklowskij beschreibt den Zwanzigjährigen als einen Dichter „mit dem schmalen Kopf eines gealterten Jünglings“ (in Kindheit und Jugend). Und Mandelstams Frau Nadeschda bemerkt in ihren Erinnerungen, daß Ossip, seit sie ihn kannte, zeitlos aussah und zwar zeitlos alt, und daß die Jugend ihn, der doch selbst noch Jung war, wie einen alten Dichter verehrt habe, wie einen Klassiker, nicht wie einen Zeitgenossen. Dabei veröffentlichte er seinen ersten Versband mit 22 Jahren, seinen dritten und letzten mit 37. Seitdem hat er sich nicht mehr von uns entfernt, er ist ein Klassiker der Gegenwart geworden. Das hat es nur noch einmal mit Ungaretti in Italien gegeben.
Der Slawist Renato Poggioli verglich Mandelstams Poesie mit Bildern von Picasso und von de Chirico. Abgesehen davon, daß von den Bildern wie auch von den Gedichten gleichermaßen die Suggestion des Vollkommenen, des Unverrückbaren, des Zeitlosen ausgeht, haben sie nicht allzuviel gemeinsam, bezeichnend ist aber doch, daß bei Mandelstam zu so hohen Vergleichen gegriffen wird, um das Ungewöhnliche, das Exorbitante an ihm zu deuten. Schon in Schklowskijs Beschreibung des Petersburg der Vorrevolution (und er war, wie seine ,Sentimentale Reise‘ zeigt, nicht unkritisch gegenüber Mandelstam), heißt es über die Dichter-Zusammenkünfte in der Kneipe Zum Streunenden Hund:

Eine einzige geglückte Zeile von Mandelstam erregte (bei seinen Kollegen) Neid und Hochachtung und Haß.

Niemals ließ eine Gedichtzeile von ihm gleichgültig, auch wenn sie zunächst unverständlich schien, und dabei sprach er nicht über so große Dinge wie Revolution und Veränderung, sondern über etwas so einfaches wie Musik und Wort und Schweigen. „Dichtung ist das Bewußtsein, im Recht zu sein“, hatte er in seinem Essay „Über den Gesprächspartner“ geschrieben. Schwer zu sagen, was früher da war, dieser Satz oder jenes Wort von Trotzkij:

Revolution ist das Bewußtsein, im Recht zu sein.

Mandelstams Poesie kann man die Revolution des Beständigen nennen in einer Zeit, in der die Kunstrichtungen so rasch wechselten wie die Jahre. Von seiner Prosa zu behaupten, sie „drücke jene literarische Revolution aus, die parallel zur politischen verlief“ (wie es anläßlich der deutschen Ausgabe seiner Ägyptischen Briefmarke geschah), scheint mir jedoch vermessen. Es ist, um mit Mandelstam zu sprechen, eine Prosa wie „das Leben ohne Fabel und ohne Held, aus Leere und Glas gemacht“: eine Mischung aus Lyrik und Erzählung, aus Beschreibung und Essay, aus Feuilleton und philosophischer Reflexion, was eine Tradition nur in der russischen Literatur besitzt, mit Turgenjew und Bunin und Tschechow, bis zu Bulgakow, Katajew und sogar zu einem so engagierten Geist wie Solschenizyn (Prosa-Miniaturen). Mit Sätzen bei Mandelstam, die freilich aus der gegenständlichen Beschreibung, aus der Realität auszubrechen versuchen und in a-logischen Satzkonstruktionen zu einer surrealen Manifestation hindrängen. Eine Entwicklung, die bei Bjelyj begonnen hatte (der Anfang des Petersburg-Romans), in den Antinomien der Bilder bei Babel schon deutlicher wird und bei Mandelstam in eine die Zeiten vermischende, traumhafte Atmosphäre übergeht.

Im Monat Mai erinnert Petersburg irgendwie an ein Auskunftsbüro das keine Auskünfte erteilt… Taubstumme gestikulieren mit den Händen, als drehten sie mit großer Schnelligkeit einen Faden. Einer, der Meister, führte das Weberschiffchen. Die andern halfen ihm bei der Arbeit. Ab und zu kam ein kleiner Junge zu ihnen gelaufen. Er hatte die Finger so weit auseinandergespreizt, als seien sie kreuz und quer mit Faden umsponnen, und er schien die Männer zu bitten, ihm die Fäden abzunehmen, damit das Gewirk nicht beschädigt werde. Auf alle zusammen sie waren vier – kamen offenbar fünf Spulen Garn. Eine davon war überflüssig. Sie sprachen die Sprache von Schwalben und bettelnden Kindern und nähten die Luft, unermüdlich, mit großen Stichen, und machten ein Hemd daraus… In jüdischen Wohnungen herrscht eine traurige schnurrbärtige Stille. Sie ist aus den Gesprächen des Uhrenpendels mit den Brotkrumen auf der Wachstuchdecke und mit den silbernen Teeglashaltern zusammengesetzt…

Mandelstams Streben nach dem Zeitgültigen und dem Zeitlosen, das seine Dichtung bestimmt und zeitweilig isoliert hat, läßt sich nur verstehen aus zwei tiefgreifenden Enttäuschungen: durch die Kurzlebigkeit der akmeistischen Revolte und den frühen Tod seines Lehrers und Freundes Nikolai Gumiljow, der 1921 von den Rotgardisten erschossen wurde. Immerhin hatte er, der darauf bedacht war, die Gegenwart nur durch Distanz gefiltert im Gedicht aufzunehmen, im Jahre 1918 bekennerhaft ausgerufen: 

Die Freiheit, die da dämmert, laßt uns preisen!

Und er war doch nie ein politischer Autor gewesen, für ihn wie für die meisten Schriftsteller bedeutete die Revolution: ästhetisches Erleben der Welt. Die Dichtung im Rußland der zehner Jahre war ästhetische Revolution gewesen, die Verwandlung in eine politische, so schien es, war nur eine Frage der Zeit – und ein Sprung. Freilich, den Sprung in die Aktion haben nur wenige Schriftsteller getan. Mandelstam wäre niemals so weit wie Majakowskij gegangen, den Sieg der Bolschewiki hymnisch zu feiern; nicht einmal die Parteinahme im Bürgerkrieg, wie es Babel getan hat, war seine Sache. Er ist aber auch nicht wie Bunin oder Ehrenburg vor der Revolution geflohen Er hat da Exil in einer Zeit, da es für ihn noch möglich gewesen wäre, abgelehnt. Erst im Alltag des Bürgerkriegs, im sinnlosen Tod seines Freundes Gumiljow, in den trotzkistischen Verfolgungen der Sozialrevolutionäre und Anarchisten, brach die Revolutionsdämmerung für ihn ein. Zwei Jahre nach seinem Gedicht auf die Freiheit, schreibt er mit deutlicher Anspielung darauf:

Das Wort bleibt ungesagt. Ich find’s nicht wieder…

Die Vögel stumm. Und keine Immortelle.
Glashelle Mähnen – das Gestüt der Nacht.
Ein Kahn treibt, leer, es trägt ihn keine Welle.
Das Wort: umschwärmt von Grillen, unerwacht.

Dieses Gedicht hellen Bewußtseins und tiefer Resignation erscheint 1921 zuerst in einem Berliner Exilverlag, in dem Band Tristia, der ein Jahr später dann auch in Moskau aufgelegt wird unter dem Titel Das zweite Buch. Die Auflage ist sofort vergriffen, aber es gibt keine weiteren Papierzuteilungen mehr.
Die ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der Kulturpolitik verschärfen sich zusehends. Mitte der zwanziger Jahre holen Trotzkij und Lunatscharskij zum ersten Schlag gegen die Opojaz-Leute (die formalistische Schule) aus, zu deren führenden Köpfen Viktor Schklowskij, Roman Jakobson und Boris Eichenbaum gehören, mit denen Mandelstam freundschaftlich verbunden ist. Die Auseinandersetzungen werden in Zeitschriften und Symposien ausgetragen, die Formalisten können sich noch wehren: sie tun es mit Brillanz, wie Eichenbaums glanzvolle Erwiderung an Trotzkij zeigt. Mehr und mehr verlagert sich die Diskussion aber auf die Ebene der Diffamierung und parteilicher Sanktionen. Um 1930 ist die formalistische Schule praktisch unterdrückt, ihr Einfluß erschöpft. Dadurch verschlechtert sich auch Mandelstams persönliche Situation. Durch Vermittlung seiner Freunde kann noch im Jahre 1928 ein Band seiner Ausgewählten Gedichte erscheinen, der zwar überall in der Parteipresse als ,eskapistisch‘ (Eskapismus und Dekadenz sind damals die bevorzugten Schimpfwörter) angegriffen wird, aber unter seinen Freunden und Anhängern seinen Ruhm nur vermehrt. Doch gelingt es ihm jetzt immer seltener, Aufträge für Übersetzungen zu bekommen, von denen er in den letzten Jahren (wenn auch mehr schlecht als recht) gelebt hat. Seine Lebensumstände sind bedrückend. Mit seiner Frau Nadeschda bewohnt er ein einziges Zimmer, in dem sie kochen, schlafen und in dem er auch arbeiten muß. Sobald es draußen wärmer ist, so erfahren wir von Nadeschda, geht sie ganze Nachmittage spazieren, nur um ihn allein arbeiten lassen zu können. Die Freunde, vor allem Anna Achmatowa, Viktor Schklowskij und Boris Pasternak schicken manchmal Lebensmittel, manchmal auch Geld (Pasternak läßt es über die Adresse seines Bruders überweisen, weil er fürchtet, seine private Hilfe für einen verfemten Schriftsteller würde ihm persönliche Schwierigkeiten einbringen).
Das alles erfahren wir aus Nadeschda Mandelstams Erinnerungen an Ossip, die sie in den sechziger Jahren aufgeschrieben hat und später im ,Samisdat‘ erscheinen ließ, kurz danach wurden sie überall im Westen übersetzt und zu Recht als eines der „aufschlußreichsten und auch erschütterndsten Dokumente über das dunkle Kapitel der Unterdrückung des Geistes in der Stalin-Ära“ (Books Abroad) gerühmt. Nadeschda tritt ganz zurück, sie beschreibt auf eine wohltuende klare und unprätentiöse Weise das Leben und die Passion (im Sinne von passio) des Ossip Mandelstam in diesem Jahrhundert der Wölfe, bis hin zu seinem anonymen, sinnlosen Tod, und sie versucht vor allem, sein verlorenes Werk, bruchstückhaft, zu beschreiben. Denn bei seiner Verhaftung wurden alle Manuskripte aus mehr als zwanzig Jahren beschlagnahmt, sie sind bis heute nicht aufgetaucht. Wir müssen uns wohl damit abfinden, daß mit seinen Publikationen, auch mit den in New York erschienenen Gesammelten Werken in drei Bänden (in russisch, herausgegeben von Struve und Filipoff) nur die Spitze des Eisberges zu unserer Kenntnis gelangt ist.
So sehr Mandelstam, wenn auch mehr emotional als unbedingt theoretisch, den Formalisten und ihrer Schule verpflichtet war, so ist doch deutlich festzustellen, wie stark gesellschaftliche Zwänge, also außerliterarische Phänomene, in seinen späten Gedichten sich spiegeln. Nicht als vordergründige Abwehr; immer noch hermetisch und verschlüsselt, umgesetzt in Metaphern. Aber die Bezüge werden deutlicher, setzt man die persönlichen Umstände seines Lebens dagegen. Besonders signifikant ist dafür sein Gedicht „Der erste Januar 1924“, dessen letzte zwei Strophen lauten:

Der Lebenshauch, ich weiß, verebbt mit jedem Tage,
ein kleines noch, ein kleines – und
erstorben ist das Lied von Kränkung, Lehm und Plage,
mit Blei versiegeln sie dir diesen Mund.

O Lehm-und-Leben! O Jahrhundert-Sterben!
Nur dem, ich fürcht, erschließt er sich, dein Sinn,
in dem ein Lächeln war, ein hilfloses – dem Erben,
dem Menschen, der sich selbst verlorenging.

Mandelstam maß dem Gedicht eine magische, beschwörende, ja realitätsträchtige Wirkung bei. In den frühen Jahren der Hoffnung war das Gedicht für ihn Prophetie, Vorausschau des Künftigen.

Gedichte nehmen die Zukunft vorweg.

Das war kein platter Fortschrittsglauben, bei ihm nicht; vielleicht die Vision einer humanen (klassenlosen) Gesellschaft, wie sie damals alle Dichter der Vorrevolution hatten. In die Hoffnung mischten sich später mehr und mehr die Ahnungen der Zerstörungen, des Todes.

Wo willst du hin? Es ist die, Totenfeier des Schattens. Zum letzten Mal ist Musik. (,Bahnhofsmusik‘) 

Als er merkte, daß seine düsteren Prophezeiungen eintrafen, wollte er das Gegenständliche zurücknehmen. Er glaubte, das Reale, das er im Gedicht beschwor, zu verlieren, das heißt aber nichts anderes, als daß die Wirklichkeit für ihn zerrann, um im Wort, im Gedicht dauerhaft zu existieren.
Schon Tristia beginnt mit: „Ich lernte Abschied – eine Wissenschaft…,“ und eigentlich hat er dieses Alphabet immer und ständig buchstabiert. Im Grunde waren alle seine Gedichte für ihn Abschiede, kleine Abschiede von der Welt, von den Wörtern, von der Sprache, und er ahnte, daß eines Tages der große Abschied kommen würde, in dem alle kleinen Abschiede enthalten sind, und der alles hinter sich zurückläßt, Welt, Glück, Freude, Wärme, das Sprechen, die Liebe, und der eingeht in die Wortlosigkeit. Nadeschda beschreibt, was für eine Angst er hatte, bestimmte Dinge zu benennen, weil sie danach verlorengingen auf eine rätselhafte Weise – nicht allein so abstrakte und wenig definierbare Dinge wie die Freiheit, das Glück, sondern einfach ein Tintenfaß zum Beispiel oder ein Baum vor dem Haus, der in einem Gedicht erwähnt wurde – kurz danach wurde er abgesägt, er mußte der Verbreiterung der Straße weichen. Später verlor er den Spazierstock mit dem weißen Griff, kurz nachdem er ihn in seinem Gedicht „Der Patriarch“ erwähnt hatte. Auch die Reisedecke, mit der ihn Nadeschda unterwegs immer bedeckte, zerfiel – nicht lange, nachdem er sie beschrieben hatte:

Du wirst mich mit ihr wie mit einer Feldfahne zudecken, wenn ich sterbe.

Die Wohnung mußten sie räumen, nachdem sein Gedicht „Die Wohnung“ fertig war, und den Stieglitz, den er darin erwähnte, fraß die Katze. Im Mai 1937 schrieb er dann „Die Kiewerin“, es war nun schon das zweite Gedicht in dieser Zeit von einer Frau die man von ihrem Mann mit Gewalt getrennt hatte – man hatte ihn verhaftet und keiner wußte, wohin er gekommen war.
Mandelstam lebte ganz zurückgezogen, aber er konnte nicht verhindern, daß man ihm Spitzel auf die Fersen setzte. Gerüchte gingen um, daß er an einem Gedichtzyklus gegen Stalin arbeite. Fünf Freunde, vor denen er ein Gedicht rezitiert hatte, in dem Stalin als ,Bauernbekämpfer‘ bezeichnet war, wurden verhaftet; dabei hatte er dieses Gedicht vorsichtshalber erst gar nicht aufgeschrieben. Haussuchungen wurden bei ihm gemacht, ein anderes Stalingedicht beschlagnahmt; es genügte, seinen Verfasser in die Verbannung nach Woronesch zu schicken. Das war 1934.
Die Zeit in Woronesch kam seiner Frau Nadeschda wie ein Aufschub vor dem drohenden Todesurteil vor. Ossip ließ sich nicht unterkriegen, aber er ahnte seinen herannahenden Tod. Schon 1915 hatte er geschrieben:

Der Tod des Künstlers ist nicht das Ende, sondern der letzte schöpferische Akt.

Das hatte er über die Jahre verdrängt. Jetzt erinnerte er sich wieder daran. Er schreibt Gedichte, die das Märtyrertum zum Inhalt haben, er schreibt Verse, die Sinnbild des Untergangs sind („Bald werde ich mich in einen violetten Schlitten setzen“ – darin werden Tote zum Begräbnis gefahren), er schreibt Zyklen, in denen er das Leben beschwört, „zum letzten und eindringlichsten Mal läßt er seiner Liebe zum Leben freien Lauf“ (Nadeschda M.). Mandelstam kehrt nach der Verbannung nach Moskau zurück. Aber die Zeit ist nicht mehr seine Zeit.

Die Zeit ist ein Raubtier.

Zu Anna Achmatowa, der Freundin, sagt er Anfang 1938:

Ich bin zum Sterben bereit.

Diese Worte hat sie später in ihrem Gedichtzyklus Poem ohne Held, aufgenommen und mit dem Datum von Mandelstams Todestag versehen.
Nicht lange darauf, am 1. Mai 1938, wurde er verhaftet, zum zweiten Mal. Seine Frau hat diese Zeit, die Zeit der Angst und Entwürdigung, hellsichtig beschrieben: 

Wir alle waren entweder Lämmer, die sich zur Schlachtbank führen ließen, oder ehrfürchtige Henkersknechte, weil wir nicht zu den Lämmern gehören wollten. Die einen wie die andern erbrachten Wunder der Ergebenheit, weil sie in sich alle menschlichen Instinkte erlöschen ließen. Warum beispielsweise sind wir nicht zum Fenster hinausgesprungen, haben nicht der unsinnigen Angst freien Lauf gelassen und sind in den Wald, ins Freie und in den Kugelhagel gelaufen? Warum haben wir ruhig dagestanden und haben zugesehen, wie man unsere Sachen durchwühlte? Warum folgte Ossip Mandelstam brav den Soldaten, und warum habe ich mich nicht wie ein Tier auf sie gestürzt? Was hatten wir zu verlieren? Vielleicht fürchteten wir uns vor einem zusätzlichen Strafpunkt, wenn man bei der Verhaftung Widerstand leistete? Das Ende war doch in jedem Fall gleich – warum also sich fürchten? Es war nicht Angst. Es war ein ganz anderes Gefühl. Das lähmende Bewußtsein der eigenen Hilflosigkeit, das uns alle ohne Ausnahme befiel – nicht nur die Opfer, sondern auch die Mörder. Erdrückt vom System, das wir alle, so oder so, aufbauen halfen, waren wir nicht einmal mehr zum passiven Widerstand fähig. Unsere Unterwürfigkeit bewirkte, daß die aktiv diesem System Dienenden alle Hemmungen verloren und sich so der Teufelskreis schloß. Wie ihm entrinnen?

Bis zu Nadeschda Mandelstams Buch gab es – bis in die Literaturgeschichten – die widersprüchlichsten Aussagen über des Dichters Ende. Jetzt wissen wir, daß im Juni 1940 Ossips Bruder von einer Moskauer Behörde die Sterbeurkunde ausgehändigt bekam mit dem Todesdatum vom 27. Dezember 1938. Ossips letzter Brief ist datiert vom 20. Okt. 1938 und kam aus Wladiwostok. Er lautet:

… Fünf Jahre habe ich bekommen für konterrevolutionäre Tätigkeit, laut Beschluß des OSO (d.i. Sondergericht). Aus Moskau aus der Butyrka ging es los am 9. September, angekommen sind wir am 12. Oktober. Mein Gesundheitszustand ist sehr schlecht, bin äußerst erschöpft, abgemagert, fast nicht wiederzuerkennen, aber Sachen zu schicken, Essen und Geld – weiß nicht ob es Sinn hat. Versucht es trotzdem. Ich friere sehr ohne Sachen. – Liebe Nadjenka, meine Liebste, bist Du am Leben? Du, Schura, schreib mir sofort über Nadja. Hier ist ein Transitlager. Nach Kolyma haben sie mich nicht geschickt. Womöglich muß ich hier überwintern. Ihr meine Lieben. Ich küsse Euch, Ossja.
Schurotschka, noch etwas. Die letzten Tage sind wir arbeiten gegangen. Das hat die Stimmung gehoben. Aus unserem Lager, einem Transitlager, schicken sie uns in die Dauerlager. Ich bin offenbar ,ausgesiebt‘ worden und muß mich hier aufs überwintern vorbereiten. – Und ich bitte Dich, schicke mir einen Funkspruch und Geld telegrafisch.

Ob er im Lager Wladiwostok, auf der Überfahrt nach Kolyma oder in der Krankenbaracke in einem der berüchtigten Lager von Kolyma gestorben ist, wie es in Gerüchten zu Nadeschda gedrungen ist, wird man wohl niemals genau erfahren. Resigniert schreibt seine Witwe, nachdem sie jahrelang auch nur den geringsten Spuren nachgeforscht hat:

Das ist alles, was ich über die letzten Tage, die Krankheit und über den Tod Mandelstams weiß. Es ist nicht viel. Aber andere wissen vom Tod ihrer nächsten Angehörigen noch weniger.

Offiziell wurde Mandelstam bis heute nicht in der Sowjetunion rehabilitiert, obwohl seine Frau nach Stalins Tod dies mehrfach gefordert und beantragt hat. Zur einzig würdigen und wahrhaften Rehabilitierung ist nun ihr Buch geworden, Das Jahrhundert der Wölfe. Mandelstams Gedichte werden in seinem Land nicht gedruckt, eine Auswahl war vor Jahren angekündigt, ist aber ist bis heute nicht erschienen.
Von seinen beschlagnahmten Manuskripten fehlt immer noch jede Spur. Nur ein Teil seines Werkes ist uns bekannt und erhalten geblieben – aber er allein gibt uns Berechtigung zu der Vermutung, daß es sich bei dem Autor um einen der wirklich großen literarisch-revolutionären und zugleich bewahrenden Schriftsteller dieses Jahrhunderts handelt. Nicht der beinahe zum Klischee gewordene und in den Feuilletons wiederholte Satz vom größten Dichter der Epoche ist die Wahrheit, nein – aber der Hinweis auf jene Umwertung, die auch in der Sowjetunion langsam vor sich geht, ist wichtig, nach der man in Mandelstam wie in der Achmatowa und in Chlebnikow das große Dreigestirn der sowjet-russischen Poesie in diesem Jahrhundert zu entdecken beginnt.
In Deutschland hat Paul Celan nachhaltig auf Mandelstam aufmerksam gemacht. Seine Auswahl von Übertragungen, im Jahre 1960 erschienen, war überhaupt die erste fremdsprachige Ausgabe eines ganzen Mandelstam-Bandes. Wenn Celans eigenwillige Verdeutschungen auch nicht ganz unproblematisch sind, so habe ich mich doch nach eingehendem Textvergleich entschlossen, ausschließlich aus ihnen zu zitieren. Die Übersetzungen von Johannes von Guenther (der schon früh und stetig auf den Rang Mandelstams hingewiesen hat), von Hans Baumann oder Kay Borowsky (NDH, 3/71) sind manchmal wort-genauer, manchmal sinn-näher, aber keine besitzt die evozierende Wortmagie und durchgehende Stilsicherheit eines Dichters wie Celan, die des Russen strenge Meisterschaft einlöst. Celan ist mit Mandelstam einem Im-Wort-Verwandten, geglückt, was Adorno an Georges Übertragungen gerühmt hat: nicht einen fremdländischen Verfasser einzuführen, sondern ihm in der eigenen Sprache ein Denkmal zu errichten.

Horst Bienek, aus Horst Bienek: Solschenizyn und andere Aufsätze…, Ullstein Verlag, 1974

 

 

TRISTIA : 1891–1938
Abschiedsworte an Ossip Mandelstam

Schwieriger Freund, Dich hätte ich
Ihnen vorgezogen. Die Toten hüten ihr versiegeltes Leben
Und wieder bin ich zu spät. Zu spät
Die Salutschüsse, die Staubwolken, die metallischen Schreie.

Von Trostlosigkeit genährte Bilder,
Schau… Ruinen in einer Ebene…
Ein paar Männer starren in ihre Hände, andere
Durchwühlen das Feld an der Straße nach Nahrung.

Die Tragödie hält alles in ihrem Blick.
Sie wird uns nicht anrühren, doch sie ist da –
Makellos, unersättlich – der unbeugsame Sommerhimmel
Hat seine Freude daran, erfüllt seinen Zweck und findet sein Ende.

Geoffrey Hill
Aus dem Englischen übertragen von Manfred Allié und Hans Jürgen Balmes

 

TRISTIA: 1891–1938
Ein Abschied von Ossip Mandelstam

Schwieriger Freund, ich hätte dich den andern
Vorgezogen. Die Toten wahren ihr Leben versiegelt
Und wieder komm ich zu spät. Zu spät
Der Salut, Staubwolken und dreistes Geschrei.

Bilder steigen aus der Verwüstung
Schau… Ruinen auf einer Ebene…
Ein paar Menschen stieren auf ihre Hände; andere
Wühlen nach Nahrung im Feld neben der Straße.

Tragödie hat alles im Blick.
Sie will uns nicht anrühren, doch sie ist da –
Makellos, unersättlich – harter Sommerhimmel,
Der, sich an alldem weidend, sein Ziel erreicht.

Geoffrey Hill
Übersetzung Werner von Koppenfel
s

 

WIEDER GAB’S KEINEN PLATZ IM LEXIKON FÜR OSSIP MANDELSTAM

Wieder gab’s keinen Platz im Lexikon
für Ossip Mandelstam, wieder ist
unbehaust er, wie schwer es immer noch ist mit einer Wohnung
in Moskau, sich anzumelden ist fast unmöglich,
der Kaukasus ruft ihn,
Asiens niedriger Wald rauscht, noch sind die Tage nicht da,
ein anderer sammelt die Steinchen an Schwarzmeerküsten,
die ungleiche Fahndung dauert noch immer, auch wenn die Uniform
eine neue Fasson hat und ständig ein anderer Rundkopf
von Schneider in tiefen Verbeugungen badet.
Du schließt das Buch, ein Schuß detoniert, und der weiße
Papierstaub kitzelt die Nüstern; es ist ein lateinischer
Abend, es schneit und niemand wird heute mehr kommen,
denn es ist Schlafenszeit, und sollte dennoch einer an deine dünne Tür klopfen,
dann öffne.

Adam Zagajewski

 

Frank Diamand: Die Jahrhunderte umgeben mich mit Feuer. Osip Mandelstam, 1976.

 

Joseph Brodsky spricht über Mandelstam.

 

Zum 70. Todestag des Autors:

Olga Martynova: Eine Streichholzflamme im Wind
Frankfurter Rundschau, 29.1.2019

Fakten und Vermutungen zum Autor + Dichterstimmen +
KLfGIMDb + Internet Archive 1 & 2 + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Paul Celan liest Ossip Mandelstam: „Diese Nacht, nicht gutzumachen“.

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