Paul Boldt: Versensporn 9

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Paul Boldt: Versensporn 9

Boldt-Versensporn 9

DIE SINTFLUT

Die Wolken wachsen aus den Horizonten
Und trinken Himmel mit den Regenhälsen.
Die Menschen bissen auf den höchsten Felsen
In weiße Stirnen, die nicht denken konnten,

Daß Läuse aus dem Meer, die See, krochen.
Im Abendsturm ertranken lange Pappeln. −
Sie hörten auf der Nacht die Sterne trappeln,
Die in dem All den warmen Erdrauch rochen,

Dann schwamm die Sonne in dem glatten Wasser.
Das Wasser fiel. Die See faulten ab.
Die Erde trug der Meere hellen Schurz.

Die Sterne standen, von Begierde blasser,
Mit dünnem Atem an des Ostens Kap.
Ein Stern sprang nach der Erde, sprang zu kurz.

 

 

 

Das Heft

bietet insgesamt 52 Texte. Es enthält neben einer Auswahl aus Boldt einzigem Gedichtband Junge Pferde! Junge Pferde! auch Texte, die im Zeitraum von 1912 bis 1918 in Der Aktion erschienen.

Poesie schmeckt gut e.V., Ankündigung

 

PAUL BOLDT

oder Die Unzuverlässigkeit des Ruhms 

Er soll eines Mittags aus Westpreußen nach Berlin gekommen sein. Er war, wie Kurt Hiller berichtet, „groß, häßlich, etwas scheu, kraß-anständig, eine Art Pferd unter would-be-Menschen“. Pfemferts Aktion brachte seine Gedichte, 1914 erschien das einzige Bändchen, fünfzig Seiten Lyrik, bei Kurt Wolff: Junge Pferde! Junge Pferde! Dann hat man nie wieder etwas von ihm gehört, er ist verschollen so gut und gründlich wie sein Werk, er hat keine Legende, keinen Leser. Diese vorüberhuschende, diese unaufhaltsame Existenz: ein Rätsel. Diese Ruhmlosigkeit eines genialen Lyrikers: ein Rätsel. Dauthendeys Tod in der Fremde rührte die deutsche Sentimentalität auf, Langen und Müller machten ein Geschäft damit. Boldt, der Größere, blieb namenlos im Dunkel; man steht vor der Unzuverlässigkeit des Ruhms.
Mombert, oft ein unfreiwilliger Komiker, Weinheber, ein linkischer Pedant, Schröder, ein Exhibitionist der Langenweile, gelten als Koryphäen deutscher Lyrik der Gegenwart: ihr Dichtertum besteht zumeist darin, daß man es ihnen andichtet. Es genügt die sakrale Gebärde, es ist abträglich die zerebrale Beherrschung der poetischen Substanz, sie diskriminiert. Boldt wurde keines andern belehrt, er akzeptierte die Herabsetzung und verschwand, etwas scheu, kraß-anständig. Keiner hat ihn zurückgerufen, das Echo wäre Lyrik gewesen, Scherz vielleicht, Satire, Ironie: der Deutsche liebt lediglich tiefere Bedeutung. Jedes Volk kriegt die Literatur, mit der man verdient.
So geistern in unsern modernen Anthologien alle diese Witzbolde der Tiefsinnigkeit herum. Boldt war leider nur Boldt. Einer der wenigen wahrhaft modernen Lyriker neben Blaß, Benn, Brecht, einer in dieser b-moll-Symphonie, in der Blitze aufschießen aus dur-Aluminium. Jedes dieser schmalen lyrischen Werke wird nicht zu leicht befunden werden, wenn der Volkstanz des Jahrhunderts vorüber ist, und die elfte Stunde ihre Elegie erkennt.
Der erste Ausdruck von Boldt ist nicht der beste: da ist so was Forsches, so was in blauem Tuch, tadellos sitzend, eine artikulierte Schnoddrigkeit aus der Gegend zwischen Kulm und Lichterfelde. Da rutscht manchmal ein offizierlicher Terminus ab, ein Garnisonalismus, ein Kasinoslogan, provokatorisch, wie ein Monokel aus dem Gesicht fällt und es nicht bewahrt: „Zwei stracke Beine“, „Ein Schuß wie Hussa in den schwarzen Föhren“, „Um deine Flanken steigt der Schnee moussierend“, – das sind Blüten aus der Liliencronlektüre, sind die Adjutantenritte, bevor er sein eigener Herr wird. Noch wirft er auch gern seine östlichen Provinzvokabeln in die erotische Kissenschlacht, schubst, schurrt und patscht wie sonst nur ein Max Halbe oder Sudermann. Da bereitet sich einer auf Literatur vor, der keine machen will; er wird eines Tages welche gemacht haben.
Unversehens entsteigt seinem Hirn die herbstliche Elegie, die Oktoberorgel, die Tonika Trakls. Dieser Östliche, dieser an Floßländern Beheimatete scheint prädisponiert für schwingende Schwermut, für eine mündig gewordene Melancholie, für das geformte Verströmen.

Der große, abendrote Sonnenball
Rutscht in den Sumpf, des Stromes schwarze Eiter,
Den Nebel leckt. Schon fließt die Schwäre breiter,
Und trübe Wasser schwimmen in das Tal.

Er hat die „gelbe Krankheit“ entdeckt, den „Tag am Himmel wie ein Krake, / Des blasses Maul die Wälder überschwemmt“. Er weiß, was kommt, und schnürt das Bündel seiner Verse:

Es weht. Das Abendgold ist eine Fahne,
Die von den Winden schon erbeutet wird.
Ein etwas Herbst in der Platane,
Ein geiles Chrom verweht, verwird.

Und nun schöpft er mit Händen den Wein der Zeit, seine Spätlese, sein Maß für Kelter und Kelch. „Die Tage sterben weg, die weißen Greise“, er friert sie ein in den scharf bemessenen Block seiner Strophe, er wird das Abgewelkte frisch abgewelkt erhalten. Die Farbe dieser Dichtungen differiert zwischen Eisblau und Schwarz, baltische Farben sind das, Eduard von Keyserling verbarg sie unter purpurnen, bronzenen Ornamenten, Boldt nimmt Mennige und Polnischgelb, er hat weniger zu verlieren als der blinde Graf, nur die Welt, nicht seine Welt:

Ich lasse mein Gesicht auf Sterne fallen,
die wie getroffen auseinanderhinken.
Die Wälder wandern mondwärts, schwarze Quallen…

Dem Aufbruch, dem Morgen, der prahlerischen Springtime kommt er nur noch ironisch bei, er ist zutiefst belustigt von der Naivität der aufdringlichen Novität, zu sehr ihrer enthoben, zu sehr Finist, um sein Pathos im Frühlingserwachen zu investieren:

Es wird sehr hübsch! Der Süden wandert ein!

oder

Die schwarzen Linden kommen überein,
Morgen zu grünen in den süßen Lüften

Seine Metaphern fängt Boldt auf freier Wildbahn. Ein lyrischer Linné. Er jagt, stellt Fallen, knüpft Schlingen aus Wörtern: die Dinge zappeln im Tellereisen seiner assoziativen Technik. Boldt jagt mit Blitzlicht und Bannstrahl. Er wirft die Trophäen aufs Chamois blanc seines seltsamen traditionslosen Talentes. Tiere – dafür muß er von Kind auf einen Blick gehabt haben, von den Schilfstrecken der Weichsel her, von der Traumöde der Tucheler Heide. Bewegung, Form, Farbe, Grazie und Größe der Kreatur bestimmen seine Optik, eine der eigentümlichsten jener reichen Jahre. Da ihm alles zum Tier wird, die Chaussee zur Raupe, entlaubte Parks zu „Doggen hinter den Herrenhäusern“, der Mond zum gelben Geier oder zum Igel, „der Sterne jagt und frißt den Himmel kahl“, der Blitz zum blanken Aal, Brüste zu Krötenbäuchen, Hände zu Möwen, der Wind zu einer Katze, die „trägt den fetten, weißen Rauch im Maul den jungen Winden ins Nest“, – da ihm alles zum Tier wird, erreicht er ohne zeitraubende Vorbereitungen, ohne theoretisches Techtelmechtel einen Ausdrucksstil, der dem seiner literarischen Fraktionsfreunde gleicherweise fern und nah steht. Boldt erscheint als der Antipode Benns und ist sein Zwillingsbruder, freilich ein zweieiiger. Abstraktion und Auge durchdringen einander; das ergibt dynamische Geometrie. Oder statische Biologie. Hier arbeitet ein eminent männliches Hirn.
Ein Jäger. Nährt sich von Fleisch und Früchten. Treibt sich „nackt durch baumige Hirnörter“, schießt Pfeile der Schwermut gegen das sinkende Gestirn. Was er erlegt, ist der Preis einer dem Ende geweihten großen Spätkunst. Dieser Jäger, bald, in der Brunstzeit seines lyrischen Könnens noch, wird er der Gejagte sein.
Man kann vermuten, warum Boldt so unversehens verschwand wie er kam. Manches deutet auf eine virtuelle Dementia, auf die Hinterlist des Hirns. „Mir ist vom steten Drucke nicht mehr viel Ich vorrätig“, sagt er einmal, und:

Sind das die Häuser? Ist die Nacht aus Stein?
Ich mache langsam Schritte in Berlin,
Kein Mensch. Herabgestürzte Jalousien.
Ich habe keinen Wunsch, einer zu sein.

Einige Gedichte in späteren Jahrgängen der Aktion zeigen den reichen Strophenstreuer seltsam unbeholfen, unmusikalisch; schlechte Gedichte, eigentlich sind es gar keine. Boldt hat den Goldklumpen vertauscht, „ach alle Wolken brocken Dämmerung“, gegen einen Mühlstein, der nicht in den Brunnen fallen will, „und mich bewachsen Abende“; er muß so ehrlich wie unerleuchtet gewesen sein, als er sich der Mühe begab, den Mühlstein zum Markstein zu machen. Er „verwird“, um mit seinem ureigenen Wort seine Dislokation zu kennzeichnen. Er dichtet noch, um den Schein zu wahren; er muß da schon gewußt haben, daß er zu denen im Dunkel gehörte, die man nicht sieht. Er, zeitlebens geleitet vom Auge, ertrug nicht den grauen Star der andern. Er wollte mit einem Abgang die Welt zurechtrücken: wo man nichts sah, durfte auch nichts zu sehen sein. Mit diesem dubiosen Verdienst glaubte er das Seine getan zu haben. Über den Irrtum hinaus aber ragen die Verse einer seiner Strophen bis in nächste Jahrzehnte, bestehen in ihrer formalen Besonderheit die Zerreißprobe in der Unterdruckkammer dieser Gegenwart:

Die Friedrichstraße trägt auf Stein
Die blassen Gewässer des Lichtes.
Die Dirnen umstehn mit Hirschgeweihn
Die Circe meines Gesichtes.

Werner Riegel, Zwischen den Kriegen Heft 12, Januar 1954

 

Neuntes Heft des VERSENSPORN erschienen

Das neunte Heft der Lyrikreihe VERSENSPORN – Heft für lyrische Reize, die seit dem letzten Jahr vom Verein POESIE SCHMECKT GUT e.V. herausgegeben wird, ist in dieser Woche erschienen. Dieses neue Heft präsentiert insgesamt 52 Texte von Paul Boldt, einem der wohl bekanntesten der vergessenen Dichter des Expressionismus.
1912 veröffentlicht Boldt, geboren 1885 und aus Westpreußen in die Großstadt Berlin gekommen, ein erstes Gedicht in der linken Wochenschrift Die Aktion. Im selben Jahr erscheint sein bekanntestes Gedicht „Junge Pferde! Junge Pferde!“, welches als programmatisch für die gesamte expressionistische Dichtergeneration angesehen werden kann. Der folgende kometenhafte Aufstieg Boldts ist nur von kurzer Dauer; 1916 wird er wegen „Verwirrungszustands“ ins Lazarett eingeliefert und aus der Armee entlassen, 1918 erscheint sein letztes Gedicht. Als Paul Boldt 1921 nach einer Leistenbruchoperation an den Folgen einer Embolie stirbt, ist er bereits wieder in der Anonymität versunken. Der einst funkensprühende Komet war verglüht. Sein Nachlass ist verschollen, nicht einmal ein Foto von ihm existiert…
Seit dem letzten Jahr gibt der Verein in jeweils nur 100 Exemplaren die Lyrikheftreihe VERSENSPORN heraus und lädt interessierte Leser ein, sich mit Gedichten von vergessenen und verkannten Autoren der Moderne auseinanderzusetzen.
Zu erwerben sind die schön aufgemachten Hefte direkt über den Verein (www.poesieschmecktgut.de) oder in der Bücherstube Philler am Johannisplatz.

Tom Riebe, jenapolis.de, 15.12.2012

 

Fakten und Vermutungen zu Versensporn

 

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Kalliope

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