Paul Celan: Die Hand voller Stunden und andere Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Paul Celan: Die Hand voller Stunden und andere Gedichte

Celan-Die Hand voller Stunden und andere Gedichte

SCHIBBOLETH

Mitsamt meinen Steinen,
den großgeweinten
hinter den Gittern,

schleiften sie mich
in die Mitte des Marktes,
dorthin,
wo die Fahne sich aufrollt, der ich
keinerlei Eid schwor.

Flöte,
Doppelflöte der Nacht:
denke der dunklen
Zwillingsröte
in Wien und Madrid.

Setz deine Fahne auf Halbmast,
Erinnerung.
Auf Halbmast
für heute und immer.

Herz:
gib dich auch hier zu erkennen,
hier, in der Mitte des Marktes.
Ruf’s, das Schibboleth, hinaus
in die Fremde der Heimat:
Februar. No pasaran.

Einhorn:
du weißt um die Steine,
du weißt um die Wasser,
komm,
ich führ dich hinweg
zu den Stimmen
von Estremadura.

 

 

 

Nachwort

Kein anderer Dichter der Nachkriegszeit hat mit seinen Lesern und seinen Interpreten so viel Glück gehabt wie Paul Celan. Selbst die kleinmütigen Verächter der Poesie, die im Namen einer rationalistischen Philosophie gegen die Metapher wüteten und konkret bis zur Selbstaufgabe wurden, konnten der Aura des jüdischen Dichters Paul Celan nichts anhaben, vermochten die Aura um seine Dichtung nicht zu zerstören. Poesie, nicht nur nach Hegel schon lange kein Weltzustand mehr, kam bei ihm noch einmal zu sich selber und wurde, trotz aller Dunkelheiten, trotz aller Schwierigkeiten, von einer winzigen Minderheit angenommen und verteidigt. Der verwundbarste, verwundetste Lyriker seiner Generation besaß eine Stimme, die in den Essays und Kommentaren seiner gelehrten Leser eine sich entfaltende Verstärkung fand, eine Kräftigung, nicht eine in kritischer Absicht unternommene Schwächung. Wer einmal sich in die Architektur dieser Dichtung versenkt hat, in die, wie in mittelalterlichen Kathedralen, das geheime Wissen des Architekten eingegangen ist, wird stets wieder zurückkehren – zurückkehren müssen, weil alles geförderte Wissen die konkrete Lektüre nicht ersetzen kann.
So hat diese leise Stimme, die das Leid als die „herrschende Lebensgestalt des Menschen“ ausspricht, sich in unzählige andere Stimmen verzweigt und wird wie ein Echo des Echos durch das Meer der Auslegung getragen. Je eindeutiger diese Dichtung sich dem Verstummen zuneigte, den letzten Satz, das letzte Fragment, den letzten Namen, das letzte Wort hervorbrachte in dem paradoxen Bewußtsein, das Rätsel, das es nach Wittgenstein nicht gibt, zu lösen, aufzulösen in der Sprachlosigkeit, desto intensiver setzte die Lektüre der Gedichte ein, der wir so großartige, „erleuchtete“ Ergebnisse wie die von Peter Szondi, Hans-Georg Gadamer, Peter Horst Neumann oder Winfried Menninghaus – um nur einige zu nennen – verdanken. Celans Schüler waren nicht die Dichter, deren geschichtliche Erfahrungen sich an seinen nicht messen lassen durften, sondern die Interpreten.
Ihre Auslegungsanstrengung führte dazu, daß wir, die bescheideneren Leser, Celan in den verschiedenen Lebensphasen gleichsam mit „ausgewechselten“ Augen lasen: sein Werk – nicht dessen Wert – veränderte sich unter unserem Blick. Nun besteht das „Geheimnis“ des wahren Gedichts darin, daß es von jedem Leser anders gelesen wird; Bodenlosigkeit ist sein wesentliches Attribut, nicht Eindeutigkeit, die es versiegelt und mundtot macht. Diese in der Moderne potenzierte Bodenlosigkeit – die nur am Rande mit Sprachskepsis zu tun hat, eher ein Reflex darauf ist –, hat ihren schütteren Halt nur in der Form, im unsicheren Anfang und im fragenden Ende, den gebrochenen Zeilen und den Zwischenräumen zwischen den Wörtern. Diese Bodenlosigkeit ist – so empfand ich es damals, als ich 1962 als Neunzehnjähriger den ersten Gedichtband Celans kaufte – das einzige Gegenmittel gegen ein repräsentativ-symbolisches Sprechen: Die Sprache wurde hier endgültig „entwaffnet“, den Begriffen entzogen, um als andere sich der Welt wieder nähern zu können. „Die höchsten lyrischen Gebilde“, lasen wir bei Adorno. mit fragender Zustimmung, „sind darum die, in denen das Subjekt, ohne Rest von bloßem Stoff, in der Sprache tönt, bis die Sprache selber laut wird. Die Selbstvergessenheit des Subjekts, das der Sprache als einem Objektiven sich anheimgibt, und die Unmittelbarkeit und Unwillkürlichkeit seines Ausdrucks sind dasselbe: so vermittelt die Sprache Lyrik und Gesellschaft im Innersten. Darum zeigt Lyrik dort sich am tiefsten gesellschaftlich verbürgt, wo sie nicht der Gesellschaft nach dem Munde redet, wo sie nichts mitteilt sondern wo das Subjekt, dem der Ausdruck glückt, zum Einstand mit der Sprache selber kommt, dem, wohin diese von sich aus möchte.“ Ist der „privilegierte Augenblick“ des Gedichts, den Adorno in seiner Rede über „Lyrik und Gesellschaft“ benennt, tatsächlich erreicht, wenn es eine Mitteilung verweigert? Oder erfüllt er sich im Gegenteil nicht gerade dann, wenn der Funke der Mitteilung überspringt und den Leser in Flammen setzt, also verwandelt? Da es einerseits kein Gedicht geben kann „ohne die Geschichte, ohne die Gemeinschaft, von der es sich nährt und die es nährt“ (Octavio Paz), andererseits die Poetisierung des Geschichtlichen das Gedicht zerstört, wie sieht dann die Mitteilung aus, die zwischen dem „Gedicht“, den „Wortfeldern“, und dem Leser, der Gesellschaft, vermittelt?
Das war damals – als um die Poesie und deren Sinn noch erbittert gestritten wurde – die uns bewegende Frage, und wer sich, aus welchen Gründen auch immer, zu einer schnellen Antwort gedrängt sah, der mußte sich, grob gesprochen, zwischen Celan (und den anderen) und Brecht (vor vielen anderen) entscheiden, zwischen einer Konzeption von Wirklichkeit, die mit Hilfe des Gedichts „gesucht und gewonnen“ sein will, also mit dem geglückten Gedicht erst entsteht, oder für einen sozialen oder politischen Sachverhalt, der durch das Gedicht „erfaßt“ und als veränderbar dargestellt wird. Es ist kein Geheimnis, daß die Gedichte von Celan (und Günter Eich, Ilse Aichinger, Peter Huchel oder Ingeborg Bachmann) sich als „haltbarer“ erwiesen haben als die der sich von Heine herleitenden „politischen“ Dichter, deren Bodenhaltigkeit der feste Grund ihrer relativen Vergänglichkeit ist. Allerdings haben sie – anders als Celan – Nachfolger gefunden, die, als Berufsdichter, geübt oder gereimt, die Welt noch einmal in zwölf sinnfällige Verse zwingen können. Die Notwendigkeit des Schreibens ist ebenso zur Legende geworden wie der an der Welt leidende, am Wort verzweifelnde Dichter, der in der Gottesferne – als Wortsucher seiner einsamen Bestimmung nachgeht. Hört man den gereizten, verächtlichen Ton, mit dem die meisten der heutigen Geschmacksinstanzen dem sogenannten „hohen Ton“ nachjagen, um ihn zu „erlegen“, dann hat man eine ungefähre Vorstellung davon, wie es um das gegenwärtige Verständnis von Lyrik steht. Man traut ihr nichts mehr zu, man fordert nichts von ihr. Erst wenn sie sich mit der Alltagssprache gemein gemacht hat bis zur völligen Anpassung, findet sie Beachtung gerade vor denjenigen Augen und Ohren, die einmal bei Benjamin in die Schule gegangen sind und sich an andere Sprachformen erinnern sollten. Das seltene Wort wird heute als „gesuchtes“ denunziert. Celan selber hat einmal vom Gedicht als von einer Flaschenpost gesprochen, die „irgendwo und irgendwann an Land gespült wird, an Herzland vielleicht“, mithin aus einer anderen Zeit stammt wenn nicht gar aus einer anderen Sprache, einer Fremdsprache womöglich oder einer fremd gewordenen Sprache, die geduldigen entziffert werden muß.

Dieser Sprache geht es, bei der unabdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks, um Präzision. Sie verklärt nicht, poetisiert nicht, sie nennt und setzt, sie versucht, den Bereich des Gegebenen und des Möglichen auszumessen.

Gerade das seltene (und manchmal seltsame) Sprachmaterial Celans ist in einer Perspektive zu lesen, die nicht nur, nach seiner eigenen Aussage, die chassidischen Geschichten durchlaufen und deren Reichtum an paradoxen Lösungen, auf die Welt einen Reim zu finden und ein Bild von ihr zu erlangen, sich angeeignet hat, sondern die ganze Sprachgeschichte berücksichtigt. Er gehörte zu den Wörterbuchlesern. Für ihn war jedes Wort nur die Antwort auf ein anderes, und so immer weiter zurück bis zu jener anfänglichen Rede, die ein Schrei war der Angst, der sich am Grunde aller Rede durch die Jahrtausende erhalten hat und nie verstummt ist, trotz aller Beschwichtigungen. „Das All-Eine war nur im schweigenden Ich verbunden“, heißt es in Fritz Mauthners ,Schweigen‘, „beim ersten lauten Worte verschwindet herabstürzend jede Einheit, auch die des Ich. Nichts läßt sich mehr sagen.“
Nimmt man die frühen Gedichte Paul Celans – Mohn und Gedächtnis (1952) und Von Schwelle zu Schwelle (1955) –, aus denen für diesen Band eine Auswahl getroffen wurde, wieder zur Hand, dann spürt man sofort die unheimliche Insistenz, mit der hier Sprachvergewisserung als notwendige Voraussetzung für Selbstvergewisserung getrieben wird.

Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede.

Eine solche Sprache kann nicht, darf nicht gleichgültig sein gegen die Wiederholbarkeit dessen, was in ihrem Namen geschehen ist. Sie muß sich an ihren eigenen Widerständen erproben auch um den Preis der Unverständlichkeit. Was beim späten Celan dann bis zur höchsten Konsequenz der Verdichtung, Skelettierung getrieben wird, ist hier nur angedeutet, was den Gedichten den eigentümlichen Schwebezustand verleiht, das Leichte, das dem Schweren abgetrotzt ist. Die Hoffnungsverluste spiegeln sich schon in den Worten, die dem Schmerz verliehen werden, doch ergeben sie immer noch durch Rhythmus und Form ein Ganzes, ein Gedicht, das unter, hinter dem dichten Gitter der Verzweiflung hervorlugt: Das Wort, das Rätsel, das reine Wort kommt in diesen Gedichten noch zur Sprache:

Es komme, was niemals noch war!

Es komme ein Mensch aus dem Grabe.

Es ist aber – jenseits der universellen Problematik, die in diesen frühen Gedichten aufbewahrt wird – auch der märchenhafte, bisweilen sogar anheimelnde Ton, der einen ersten Zugang erleichtert. „Der Regen füllt den Krug“, „Der Wind füllt den Becher“, „Wir schälen die Zeit aus den Nüssen“, „Es ist ein Gehöft, da hält ein Gespann für dein Herz“. In solchen der Anschauung zugänglichen sinnlichen Bildern, über denen der Stern des Untergangs noch nicht aufgegangen ist, hat sich eine lyrische Erfahrung verdichtet, die komplex und unerschöpflich von einer Welt berichtet, die auch hätte sein können. Wir lesen sie, in Kenntnis des Schicksals des Dichters, als Zeichen dafür, daß dem Mißlingen, der Ausweglosigkeit ein anderes Bild der Welt unterlag, das anzuschauen Celan nur einmal erlaubt, und dann für immer verwehrt war.

Michael Krüger, Nachwort

 

Das Buch

Drei Jahre nach Kriegsende wurde mit dem Lyrikband Der Sand aus den Urnen ein neuer, bisher nie gehörter Ton in der Nachkriegsliteratur angeschlagen: Es war ein dunkles, beunruhigend melodiöses Lied. Man konnte sich ihm nicht hingeben; denn jüngste bittere Erfahrung von Verfolgung und Mord wurden darin benannt. 1952 erschien der Band Mohn und Gedächtnis bei der Deutschen Verlags-Anstalt, in den der Zyklus „Der Sand aus den Urnen“ aufgenommen wurde. Im selben Jahr las Paul Celan 1952 vor der Gruppe 47. Ein neuer Lyrikband folgte 1955: Von Schwelle zu Schwelle. Aus diesen Bänden wählte Michael Krüger die Gedichte dieses Buches aus. Paul Celan gilt heute allgemein als der bedeutendste deutschsprachige Vertreter der Klassischen Moderne, zu dessen literarischen Vorbildern in seinen Anfängen Dichter wie Trakl, Rilke, George gehörten. Seine langjährigen poetologischen Studien und seine Übersetzertätigkeit führten ihn über die russischen Symbolisten zu den französischen Surrealisten, deren Einfluß auf sein Werk unübersehbar ist.

Seine Gedichte markieren eine Richtung; sie stehen gegen die Verantwortungslosigkeit im Denken, Sprechen und Handeln. Ohne Maske zu leben, das könnte, sollte, müßte resultieren aus dem Dialog mit Paul Celan. (Theo Buck)

Deutscher Taschenbuch Verlag, Klappentext, Oktober 1991

 

Celans Wende

– Entwicklungslinien in der Lyrik Paul Celans I. –

1.
„Den 20. Januar ging Lenz durchs Gebirg.“
Diesen Anfangssatz der Büchnerschen Erzählung Lenz greift Celan im Laufe des Meridian, seiner Dankesrede anläßlich der Verleihung des Büchner-Preises im Jahre 1960, auf, um eine nähere Bestimmung des Gedichtes zu geben:

Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein „20. Jänner“ eingeschrieben bleibt? Vielleicht ist das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben werden, gerade dies: daß hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben?

Wörter sind nicht unschuldig, besonders dann nicht, wenn sie ein Datum nennen. Das Datum setzt einen Einschnitt, markiert einen Bruch, hält nicht mehr wahrgenommene Automatismen an. Es sagt den Augenblick der Unterbrechung par excellence. So auch in der Büchnerschen Erzählung. Kaum ausgesprochen, wird dieser beliebige Tag zu einem bemerkenswerten Datum, bildet im gewöhnlichen Leben des Lenz eine Unterbrechung, die seine eingefahrensten Gewohnheiten ins Schwanken bringt:

… nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte.

Ein kurzer Bruch, von der Dauer eines Blitzes, schon wieder vergessen, von Lenz selbst und seinem Leser – bis zu dem Augenblick, da Paul Celan dieses Datum aufgreift und zum Ausgangspunkt seiner neuen Poetik macht.
Das Datum unterbricht, hält an – behält damit zugleich aber auch und bürgt so für Kontinuität, hält zurück, was vergehen will, das Ephemere, das Unbemerkte. Und nun läßt Celan im Meridian nicht mehr Georg Büchner sprechen, jetzt erinnert er sich selbst an eine verfehlte Begegnung im Engadin, die zum auslösenden Moment einer kurzen poetischen Erzählung wird, in der er „einen Menschen“ wie Lenz „durchs Gebirg gehen ließ“, – um sich schließlich selbst zu begegnen:

Ich hatte mich (…) von einem ,20. Jänner‘, von meinem ,20. Jänner‘, hergeschrieben.

Es ist die Erzählung Gespräch im Gebirg von 1959.
Datum, Unterbrechung, die sich im Bild der versäumten Begegnung spiegeln, das, kaum ausgesprochen, durch die dem Wort eigene Bewegung, seinen Sinn in die entgegengesetzte Richtung einer tatsächlichen Begegnung verkehrt – das ist das Gedicht Paul Celans. Selbst Datum, entzieht es ihm, der ihm seine Daten einschreibt, ebendiese durch das eigene Spiel der Signifikanz der Worte, welches die von ihrem Bedeuten befreiten Signifikanten auslösen. Das „Unheimliche“ der Eigenbewegung des semantisch entgrenzten Wort es tritt in ihm hervor, enthebt die transkribierten Daten ihrer Kontingenz, läßt nur noch Spuren von ihnen erkennen, in denen Celan ein ganz anderes, neues Datum festschreibt. Er sagt in ihm, wie sich im Verlauf der hier vorgestellten Lektüre seiner Gedichte zeigen wird, dasWesen selbst des Menschen, das jedoch nicht in der Transzendenz, sondern in der Immanenz des Unbewußten angesiedelt ist.
Datum heißt bei Paul Celan aber auch Leben des Autors. Seine Gedichte schreiben die Daten seines Lebens nieder. Man kann sogar sagen, daß Celan neben Goethe der größte Erlebnisdichter deutscher Sprache ist. „Mein letztes Buch [d. i. Ausgewählte Gedichte, 1968] wird überall für verschlüsselt gehalten. Glauben Sie mir – jedes Wort ist mit direktem Wirklichkeitsbezug geschrieben. Aber nein, das wollen und wollen sie nicht verstehen…“; oder er sagt vom Subjekt im Gedicht, es sei „ein im Prozeß des Schreibens sich verdeutlichendes Ich, das – kein lyrisches Ich ist. Es trinkt gelegentlich Kaffee“.
Celan als Erlebnislyriker? Die Tatsachen sprechen, so scheint es, dagegen. Zwar sind einige Daten aus dem Leben Celans bekannt, sie bilden jedoch nur eine verschwindend geringe Menge gegenüber der großen Anzahl seiner Gedichte. Celan hat die sogenannten ,Quellen‘ seiner Gedichte gelöscht. Wie kann man außerdem das Gedicht als Umsetzung persönlicher Erfahrung verstehen, wenn sogar eine verfehlte Begegnung, also etwas, was sich gar nicht ereignet hat, zur ,Quelle‘ selbst der Dichtung wird? Angesichts dieser Diskrepanz gewinnt der Leser schließlich die Überzeugung, daß es für den Autor noch eine andere Wirklichkeit als die des biographischen Datums geben muß. Das Leben des Dichters muß sich an einem anderen Ort ereignen.
Die Lektüre eines Gedichtes, dessen ,Quelle‘ in die Augen springt, soll das Problem klären helfen. Das Gedicht lautet:

ES WAR ERDE IN IHNEN, und
sie gruben.

Sie gruben und gruben, so ging
ihr Tag dahin, ihre Nacht. Und sie lobten nicht Gott,
der, so hörten sie, alles dies wollte,
der, so hörten sie, alles dies wußte.

Sie gruben und hörten nichts mehr;
sie wurden nicht weise, erfanden kein Lied,
erdachten sich keinerlei Sprache.
Sie gruben.

Es kam eine Stille, es kam auch ein Sturm,
es kamen die Meere alle.
Ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm,
und das Singende dort sagt: Sie graben.

O einer, o keiner, o niemand, o du:
Wohin gings, da’s nirgendhin ging?
O du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu,
und am Finger erwacht uns der Ring.

Die Lebensdaten, auf die das Gedicht zurückweist, erzählt Israel Chalfen in der Jugendbiographie Celans.
Celan wurde unter der deutschen Okkupation Rumäniens von 1941 bis 1944 mit anderen Juden in ein Arbeitslager in der Nähe seiner Heimatstadt Czernowitz eingezogen, wo sie, nur mit Schaufel und Spaten ausgerüstet, beim Straßenbau eingesetzt waren. Kehrte er auf Urlaub nach Czernowitz zurück und wurde er nach der Art seiner Arbeit befragt, so antwortete er nur kurz, daß er grabe. Viel später wird er sich in dem Gedichtband Fadensonnen von 1968 in einem ganz anderen Kontext noch immer an die „Milchschwester Schaufel“ erinnern. Keine Klage, keine Anklage äußert er, aber auch kein Wort der Hoffnung oder des Trostes, um ihn und in ihm herrscht Schweigen, „sie lobten nicht Gott“, „erfanden kein Lied“, noch irgendeine Sprache, und wenn es sie gibt, so wiederholt sie nur das Geschehen und geht nicht über es hinaus. Die Sprache, so wird Celan in der Bremer Rede später sagen, „gab keine Worte her für das, was geschah“. In der Handlung allein findet sich eine Solidarität, in der Handlung des Schaufelns, die, erlitten von jedem, das Bild der Leiden aller verfolgten und deportierten Juden ist.
Hier, wo das Ereignis bekannt ist, kann man das Verhältnis von Leben und Werk Paul Celans erkennen. Das individuelle Leben, das partikulare Ereignis, wird in der poetischen Schau Celans einem Kristallisationsvorgang unterworfen, dessen Resultat das poetische Wort als Nennung eines Details ist, in welchem sich die Einzelheit in ein Allgemeines verkehrt.
Celans Leben ist, sobald es sich im Wort äußert, in seiner individuellen Konkretheit immer auch schon universell repräsentativ. Er ist als Subjekt jenes „einzelne Allgemeine“, von dem Sartre in bezug auf Flaubert spricht.
Der Versuch, das Gedicht als Repräsentation autobiographischer Erlebnisse zu verstehen, bleibt damit immer hinter dem Text zurück, und nicht nur das, es tritt ein dialektischer Umschlag ein:

Je mehr diese erhellen, so läßt sich vermuten, um so weiter verbreiten sich Schattenzonen…

Die Falle der Referentialität ist damit noch nicht ganz umgangen. Bei der biographischen Exegese anzuhalten, bedeutet nicht nur, hinter den Text zurückfallen, sondern heißt letztlich von einer nicht existenten Opposition sprechen. Celan lebt sein außersprachliches Leben von vornherein in einer poetischen Schau, die sich nicht anders als im poetischen Wort als universalisierendem Detail artikuliert. Wirklichkeit wird nicht erst im Gedicht verwandelt, sondern das Leben des Dichters und sein Wort, sein Werk, sind eins. Noch genauer, es gibt kein Werk, es gibt nur Leben. Hatte M. Foucault in bezug auf den Wahnsinn gesagt, daß er zweifellos die Abwesenheit des Werkes überhaupt bedeute, so kann man nun variierend im Blick auf Celan sagen: seine Poesie ist zweifellos nichts anderes als die Abwesenheit des Werkes überhaupt.
Soll im folgenden die Wende im lyrischen Sprechen Celans dargestellt werden, kann dies nach dem bisher Gesagten nicht heißen, daß hier eine Chronologie des Dichterlebens, eine ,Chronik der laufenden Ereignisse‘ erstellt werden soll. Vielmehr geht es darum, den Weg des Schreibenden, welchen das Gedicht in seiner unauflöslichen Verbindung mit den außertextuellen Lebensdaten vorstellt, nachzuzeichnen. Text und Datum sind die zwei Seiten derselben Medaille, die jedoch nicht wie jene getrennt sind, sondern sich in ständiger Interaktion befinden, die die Form gegenseitiger Herausforderung annimmt. Entweder sind es die Daten, die die Sprache herausfordern, nach Ausdruck verlangen; die Sprache von den Geschehnissen provoziert, das ihnen ausgelieferte Wort; oder es ist die Sprache, jenes andere Vorgegebene, das, wie Mallarmé und die Surrealisten gezeigt haben, ebenfalls ein Eigenleben führt, welches neue Daten setzt; das Wort also, das diese an das Subjekt ausliefert und damit ist der Dichter selbst der Ausgelieferte. Celan wußte es:

Es liegen die Erze bloß, die Kristalle,
die Drusen.
Ungeschriebenes, zu
Sprache verhärtet, legt
einen Himmel frei.

(Nach oben verworfen, zutage,
überquer, so
liegen auch wir.
(…)

2.
Die Gedichte Paul Celans sprechen immer wieder vom Schicksal der verfolgten Juden. Die Grundlage seiner Lyrik ist seine in universaler Repräsentanz erlittene Erfahrung, daß ,Judesein‘ – ,être juif‘ – bedeutet, unterdrückt zu sein, angeklagt zu sein, bedeutet, „von vornherein der wichtigsten Lebensmöglichkeiten beraubt zu sein, und das nicht in abstrakter, sondern in realer Weise“.
Aber ,être juif‘ heißt noch mehr, und Celan hat diese schmerzliche Erfahrung ebenfalls machen müssen. Der Tod seiner Eltern, in seinen Gedichten durch den Tod oder die Abwesenheit eines weiblichen Wesens evoziert, das bald „Mutter“, bald „Schwester“ genannt, bald mit dem Personalpronomen „sie“ bezeichnet wird, hat ihm gezeigt, daß das Leben des Juden dem Tod in besonderer Weise ausgesetzt ist. Diese Todeserfahrung steht letztlich am Beginn seiner Lyrik.
Tod, Ausgestoßensein und Schuld – auch diese nennt seine Lyrik –, Celan hatte die drei grundlegenden Merkmale der jüdischen Existenz in seinem eigenen Leben erfahren und akzeptiert sie, nachdem er bis zu jenem Zeitpunkt sein jüdisches Wesen verleugnet hatte, als sein Schicksal.
Die drei Jahre Leben und Tod unter der deutschen Besatzungszeit verändern ihn völlig. Der Zug unbekümmerter, sich in sprachlichem Witz formulierender Heiterkeit schwindet, das Wort „Melancholie“ tritt mehrfach in seinem ersten Lyrikband Der Sand aus den Urnen (1948) auf. Ein wenig später wird sich Celan nochmals überschäumend, ja heiter zeigen, aber Freunde spüren sehr wohl den Zwang in dieser Haltung, die in der Tat in eine plötzliche Stummheit umschlagen kann. Celan hat offensichtlich seine Identität verloren. Alle Orientierungspunkte sind ihm abhanden gekommen, außer einem:

Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache…

Ihr vertraut Celan sich an, sagt ihr in Sand aus den Urnen die dreifache „Wunde“. Selten jedoch ist der Aufschrei so grell wie in der den Band beschließenden „Todesfuge“, vielmehr findet der Leser nur den erstickten Laut eines vom Schmerz betäubten Menschen, der wie in einem abwesenden Zustand spricht, „leise“ lautet das immer wiederkehrende Wort, und man kann in diesem stillen Sprechen den Widerschein des sanften Wortes von Rilke erkennen, den Celan Jahre hindurch gelesen hatte. Es ist, als wendete er sich an die Sprache, daß sie ihn einschläfere und ihn vor dem Choc des Erwachens bewahre. Er sucht Linderung in der Sprache, die Sprache wird ihm zur Droge, Celan sagt „Mohn“. Wie ein magnetisches Feld zieht dieses Bild in seinem zweiten Gedichtband Mohn und Gedächtnis (1952) andere Bilder an, die Nacht vor allem und mit ihr die Dunkelheit, und den Blick, der an die Stelle der verbalen Kommunikation tritt, nicht jener mit der Welt und den Lebenden, sondern der Kommunikation mit der Abwesenden, der „Mutter“, der „Schwester“, mit „ihr“. Ein „blickloses“ Auge ist es, das jedoch sieht, ohne dafür des Tageslichtes zu bedürfen. Und so verbreitet sich ein anderes Licht in der Dunkelheit, beginnt zu leben, was zu einem tödlichen Schlaf, einem Schlaf, der das Vergessen sagen sollte, sich neigte. Ein Leben unterhalb der Oberfläche des Wortes.

Für Paul Celan, der außerhalb der Sprache seine Identität verloren hatte, zeichnet sich eine neue Orientierung ab. Indem er sich von der Sprache einschläfern lassen, das Erlebte verdrängen will, gelingt es ihm tatsächlich es zurückzudrängen, jedoch nicht bis zum Vergessen, sondern bis zu einem anderen tiefen Ort , wo das Wort , das zuerst negativ war, einen positiven Wert annimmt. Die Nacht, der Schlaf, das zur Neige gehende Wort werden zum Ort einer perfekten Kommunikation, eines wiedergefundenen vorherigen Lebens, das wahrer ist als seine eigene Kindheit, da es die Quelle selbst seines Lebens ist. Das Titelgedicht aus dem letzten Zyklus, „Halme der Nacht“, des Bandes Mohn und Gedächtnis spricht von der Kommunikation mit diesem ursprünglichen Leben. Es ist der Ausdruck einer perfekten Kommunikation zwischen zwei zunächst getrennten Subjekten, welche im Durchschreiten und hinter sich Zurücklassen der historischen Zeit und damit der historischen Dimension des Wortes erreicht wird. Celan ist nicht bei seiner abwesenden Mutter angekommen, sondern bei der Mutter, bei den Müttern.
Er braucht also nur in der Sprache unterzutauchen – und tatsächlich beginnt die Droge zu wirken, er ist mehr und mehr angezogen, d.h. er sinkt immer tiefer, und auch der Leser spürt den Sog der Sprache – er braucht nur unterzutauchen… und das Bild des Wassers erscheint, ebenso bedeutend in der Dichtung Celans wie das der Nacht und des Schlafes, der immer in der Nähe des Todes oder identisch mit ihm ist. Bezogen aus der geographischen Gegend, in der seine Mutter umgekommen war – das Konzentrationslager, in das seine Eltern verschleppt worden waren, befand sich in der Nähe des Bug –, ist das Wasser von Anfang an metonymisch mit dem Tod der Mutter und allgemein mit der Abwesenden verknüpft. In das Wasser eintauchen, in diesen Strom, der sich ganz natürlich mit dem Redefluß verbindet, bedeutet also auch immer sich mit ihr als Ursprung vereinigen.
Ganz besonders im folgenden Gedichtband, Von Schwelle zu Schwelle (1955), läßt sich Celan von der narkotischen Wirkung der Sprache fortreißen. So z.B. in dem René Char gewidmeten GedichtArgumentum e silentio und in dem darauffolgenden PoemDie Winzer“, das Nani und Klaus Demus gewidmet ist.
Beide Gedichte beginnen in und mit der Nacht zu sprechen, die immer zunächst den Tod der Eltern sagt. Das Gedicht „Die Winzer“ wird hier besonders deutlich. Die Verse: „einmal im Herbst, / wenn das Jahr zum Tod schwillt, als Traube“, nennen ihn explizit, denn Celan hatte vom Tod seines Vaters im Herbst 1942 durch einen Brief seiner Mutter, so vermutet man, erfahren, der der einzige von ihr je erhaltene Brief war und sich damit für ihn eng mit ihrem eigenen Tod verknüpft, von dem Celan im Winter 1943 erfuhr. Der Herbst ist seitdem die Jahreszeit des Todes und der Sommer, der ihm folgt, ein schwarzer Sommer. In einem völlig verschiedenen Kontext erscheint das Bild der schwarzen Sonne Nervals und Rimbauds wieder. Es tritt in dem Gedicht „Die Winzer“ in dem Bild des „Sonnengrabes“ auf, das „sie“, ein plurales Subjekt, „mit nachtstarker Hand“ rüsten. Das Oxymoron spielt hier nun aber, ebenso wie in dem Ausdruck „erschwiegene(s) Wort“ aus Argumentum e silentio, ebenso wie jedes Oxymoron in der Lyrik Paul Celans, die sinnerzeugende Rolle eines Bedeutungstransformators, der die Schrift von einer schweigenden, d.h. aus der anderen Perspektive also, den Tod wiederholenden Sprache in die Schrift eines neuen Sprechens verwandelt, wo sich ein Licht oder „Gold“, ein Leben, die Bewegung des verfestigten Wortes zum vieldeutigen poetischen Wort von Ferne andeutet. Besonders schön kündigt sich dieses neu erstehende Leben am Ende des René Char gewidmeten Gedichtes an:

Denn wo
dämmerts denn, sag, als bei ihr,
die im Stromgebiet ihrer Träne
tauchenden Sonnen die Saat zeigt
aber und abermals?

Paul Celans Lyrik ist der Versuch, sich diesem Ursprung zu nähern, der sich jedoch in einem der alltäglichen Rede fremden Wort artikuliert, einem Wort, das das „Vergessen“ und die Erinnerung vereinigt, das in seinem Ursprung vieldeutig ist und als Wort der alltäglichen Rede gebraucht, eine völlige Desorientierung des Subjektes im Leben zur Folge haben würde. Es in den Alltag einzubeziehen, würde nichts anderes bedeuten als die Realisierung der ,condition juive‘, wie sie von M. Blanchot beschrieben wurde. Paul Celan hat dieses Wort auch gelebt.
In dem Gedicht „Argumentum e silentio“ stellt Celan die zwei verschiedenen Wörter gegenüber, das diskursive, das den Tod sagt und im Sagen selbst erstarrt, und an welches er denkt, wenn er in einem frühen Gedicht fragt :

Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim,
den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?

Das Wort als Wiederholung des Geschehens, reine Tautologie, Mechanismus, Stereotypie – und das andere, das das Licht sagt, das „Gold“. Es sind zwei verschiedene Wörter und doch ein einziges, denn gerade in der Wiederholung selbst konstituiert sich das poetische Wort und schöpft aus ihr die Kraft, sie selbst, den stereotypen Mechanismus des Repetierens zu durchbrechen, weil es als Wiederholung ja doch auch zugleich immer schon Erinnerung und Leben und damit selbst Quelle der Resemantisierung des diskursiven Wortes als poetisches Wort ist.
Vergessen und Erinnerung, Mohn und Gedächtnis, man kann also auch sagen Stereotypie und Leben, sind untrennbar, bilden eine unzerlegbare plurale Bedeutungseinheit.
Das Wort als Droge, als „Mohn“, ist auch immer schon „Gedächtnis“, das das Leben der Mutter, aber durch sie hindurch – und dieses Datum ist in der Poesie Paul Celans in einer tieferen Weise bedeutend – die Mutter als Leben, als Ursprung wachhält. Sie/es führt den Autor in einen Bereich, der, wie Rimbaud sagte, durch den Dichter hindurch den Blick auf das Unbekannte gibt, das die universale Seele ist. Celan wird immer tiefer in diesen Bereich eindringen, ihn entdecken – im doppelten Sinne des Wortes – und so, ausgehend von einer sehr eigenen persönlichen Erfahrung, einen Weg fortsetzen, den vor ihm Nerval und Rimbaud gegangen waren, vor dem Hofmannsthal angehalten hatte und den schließlich die Expressionisten und vor allem Kafka wiederaufgenommen hatten. Celan hatte ihn seit seinem ersten Auftreten als Dichter in einem Text angekündigt, in dem er zwei Bilder des österreichischen surrealistischen Malers Edgar Jené vorstellt. Der Artikel lautet „Edgar Jené und der Traum vom Träume“ und ist 1948 erschienen. Celan führt darin an einer Stelle einen fiktiven Freund ein, der ihm vorwirft, in die Tiefe des Unbewußten zu steigen, sie nicht zu verlassen und dort Zwiesprache zu halten „mit finstern Quellen“. Celan erkennt darin den Vorwurf gegen seine Haltung, „die, weil sie die Welt mit ihren Einrichtungen als ein Gefängnis des Menschen und seines Geistes erkannte, alles unternehmen wollte, um die Mauern dieses Gefängnisses niederzureißen…“
Dieses ist gleichsam das Glaubensbekenntnis des Dichters. Sein Leben setzt er ein für die Befreiung des Menschen, und zwar für die Befreiung seines Geistes, der an Worte gekettet ist, die „unter der tausendjährigen Last falscher und entstellter Aufrichtigkeit stöhnten“; denn „was war unaufrichtiger als die Behauptung, diese Worte seien irgendwo im Grunde noch dieselben! So mußte ich auch erkennen, daß sich zu dem, was zutiefst in seinem [des Menschen – S. B.] Innern seit unvordenklichen Zeiten nach Ausdruck rang, auch noch die Asche ausgebrannter Sinngebung gesellt hatte und nicht nur diese!“
Um das „Reine“, und das heißt das gereinigte Wort, wieder zum Vorschein zu bringen, muß er sich also unterhalb jenes verfälschten Wortes „jenseits der Vorstellungen meines wachen Denkens“ auf die Stufe des Unbewußten begeben, zu seinem Ursprung, und von dorther in einer dieser anderen Bewußtseinsstufe adäquaten Weise, d.h. aber in einer von der rekurrenten Bedeutung und Logik des Wortes befreiten Sprache sprechen.
Die Stelle in dem frühen Text Celans wirft zugleich auch ein Licht auf die Dunkelheit seiner Poesie. Sie ist nicht das Resultat einer absichtlichen hermetischen Rede, sondern liegt in seiner Absicht begründet, von dem Ort selbst, wo sich der Geist des Menschen frei fühlt, her zu sprechen. Seine „opake“ Lyrik, wie Celan selbst gerne sagte, liegt in der Sache selbst, wie er es ja auch noch einmal viel später im Meridian wiederholen wird. Sie ist in der Tatsache begründet, daß er die Freiheit des Geistes auf der Stufe des Unbewußten selbst sagen will.
Die Sprache hat, während Celan sie als Droge suchte, seinen Wunsch mehr als erfüllt. Sie hat ihn in ihre eigenen Fäden eingesponnen, die ihn jedoch zu ganz unerwarteten Ufern führten.
Von diesem Augenblick an – aber diese sukzessive Zeitvorstellung muß mit Vorsicht ausgesprochen werden; wie zu sehen war, manifestiert sich seine Intention klar seit dem Beginn; von Anfang an ist das Wort Celans ein „freies Wort“. Dennoch ist es eine Tatsache, daß die Poesie Celans in den verschiedenen Gedichtbänden ein Fortschreiten des poetischen Sprechens im Sinne einer Konzentration auf die verschiedenen Aspekte seiner Schrift widerspiegelt. Und in diesem Sinne ist es erlaubt, in den Begriffen der zeitlichen Sukzession zu sprechen.
Von diesem Augenblick an also richtet sich Celans Aufmerksamkeit besonders auf das Wort als jene eigenständige Gegebenheit, die einen Blick freigibt auf den unbekannten Ort des Unbewußten als ihre Lebensquelle. Besonders im Gedichtband Sprachgitter (1959) versucht er sich diesem zweiten Leben, dem Eigenleben der Sprache, anzunähern. Sprachreflexion, ja, aber Celan hat selbst die Annäherung von Leben und Sprache in seinem Artikel über Edgar Jené vollzogen, wo er, als er von den Worten spricht, hinzufügt „also den Dingen, Geschöpfen und Begebenheiten“, und auch seine Äußerung in bezug auf die „Asche ausgebrannter Sinngebung (…) und nicht nur diese“, die sich zu den Worten gesellt, klingt hier noch einmal nach. Das Gedicht „Stimmen“, das den Band Sprachgitter eröffnet, zeigt deutlich die unauflösliche Verbindung von Erlebnis, Datum und Sprechen/Sprache, zeigt, wie eines das andere anzieht, eines den Weg zum anderen öffnet.
Das Gedicht erweist sich so als ein „gegabelte(r) Weg“, und dieses Bild evoziert Celan selbst als seinen Weg in dem Gedicht „Matière de Bretagne“ aus demselben Band. Ausgehend vom Tod der Menschen und der Sprache, bahnt er/es sich den Weg zu dem anderen Leben. Häufig tritt dabei das Wort „dunkel“ auf, das den notwendigen „dunklen“ Ausgangspunkt zugleich sagt und benennt, aber es ist wiederum auch „ein durchs Dunkel getragenes Zeichen“, damit in ihm selbst doch wieder ein Licht durchscheine; ein sukzessives Geschehen aber zugleich auch ein simultanes Ereignis, das sich in jedem ausgesprochenen Wort vollzieht. Wort für Wort, selbst jeweils durchschritten, spricht sich das Gedicht dem Ende zu, das selbst widerrufbar ist.
Der Gedichtband spiegelt ebenfalls diese Struktur wider, denn auch er schreitet von einer dunklen Dichte zu einer Offenheit voran. Vom vierten Zyklus an findet sich in den Gedichten kaum noch die tote, den Tod sagende Sprache; vielmehr dominiert in ihnen der andere Aspekt des Lichtes, das in ihnen zur Erscheinung kommt. Das Gedicht öffnet sich direkt einem zweiten Leben:

Föhniges Du. Die Stille
flog uns voraus, ein zweites,
deutliches Leben.

Ein freier Ort, eine „Freistatt“, ist erreicht. Er ist jedoch noch weit davon entfernt, auch ein Ort der Freiheit zu sein. Die Bilder der Höhe und der sich zu ihr gesellenden Luft sagen das Gegenteil; sie beschwören, wie gezeigt wurde, in äußerster Konzentration die Vernichtung der Juden herauf. Ihr Grab ist in der Höhe, in der Luft, die vom Rauch der Verbrennungsöfen angefüllt ist. Die Spur eines Düsenflugzeugs allein genügt, um an die (Rauch-)„Fahnen“ zu erinnern:

DIE WELT, zu uns
in die leere Stunde getreten:

Zwei
Baumschäfte, schwarz,
unverzweigt, ohne
Knoten.
In der Düsenspur, scharfrandig, das
eine frei-
stehende Hochblatt.

Auch wir hier, im Leeren,
stehn bei den Fahnen.

Indem Celan dem Faden der Sprache, der zu einem anderen Ufer führt, folgt, wird das Gewicht der auf ihm lastenden Ereignisse immer schwerer. Die Erinnerung hält ihn gefesselt. Celan kann diesen Ort nicht mehr verlassen. Eine Depression tritt auf, die an Verzweiflung grenzt, und der Ort , der doch so angefüllt ist, ist ein „leerer“ Raum.
Celan zeigte sich darüber bereits in einem der letzten Gedichte aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle beunruhigt und läßt so bereits hier die Entwicklung seines Schreibens erkennen, das sich als eine wahre Körperschaft, ein Schreiben, das den Körper in Mitleidenschaft zieht, erweist. Das hier gemeinte Gedicht trägt den Titel „Sprich auch du“. Nachdem ein „Du“, offensichtlich der Dichter selbst, aufgefordert wurde, auch sein Wort zu sprechen und es mit Schatten, mit Dunkelheit zu bedecken, endet das Gedicht wie folgt:

Blicke umher:
sieh, wie’s lebendig wird rings –
BeimTode! Lebendig!
Wahr spricht, wer Schatten spricht.

Nun aber schrumpft der Ort , wo du stehst:
Wohin jetzt, Schattenentblößter, wohin?
Steige. Taste empor.
Dünner wirst du, unkenntlicher, feiner!
Feiner: ein Faden,
an dem er herabwill, der Stern:
um unten zu schwimmen, unten,
wo er sich schimmern sieht: in der Dünung
wandernder Worte.

Unter dem Gewicht der Sprache gleich Gedächtnis haben sich die Ereignisse in einem Maße aufgezwungen, daß sie das Leben Celans verändert haben. „Unkenntlicher“ wird er sein, „feiner“, „ein Faden“, der nicht aufhören wird, an die Rauchlinie in der Luft zu erinnern. Celan hat die Schranken der toten Sprache, der Sprache, die den Tod sagt, unserer Sprache niedergerissen; sie hat es geschehen lassen, sie hat sich freilegen, der Leere aussetzen lassen – um schließlich das Leben Celans zu verändern.
Im Band Sprachgitter ist er an jenem Punkt jedoch noch nicht angelangt. Während er hier die tote Sprache bearbeitet, um sich in ihr einen Weg zu bahnen, drängen sich ihm die Erlebnisse auf. Sie stellen sich wie ein Gitter vor die andere Seite, die begehbare, der Sprache, von wo nur noch ein schwacher Schimmer leuchtet. Es herrscht Schweigen, das nun aber nicht mehr spricht, Celan nennt es ein „unbefahrbares Schweigen“, die Erinnerung hindert es daran zu sprechen. Das Erlebnis ist nicht durchdringbar, es ist „als stumm vibrierender Mitlaut gestimmt“. Das Wort ist tot, es wiederholt die Geschehnisse, die Erinnerung ist unüberwindbar. „Ein Wort – du weißt: / eine Leiche“: das Bild aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle drängt sich wieder auf.
In diesem Augenblick bricht der Zweifel an der Existenz Gottes aus. „Sie gruben (…). Und sie lobten nicht Gott, / der, so hörten sie, alles dies wollte, / der, so hört en sie, alles dies wußte“. „Diese zu Beginn der Analyse vorgestellten Verse stehen im Werk Celans genau an dieser Stelle. Sie eröffnen den dem Sprachgitter folgenden Band, in dem Celan angesichts aller Ereignisse und Daten, die sich in ihm angesammelt haben und nun entfesselt auf ihn einstürmen, eben die Frage nach der Existenz Gottes stellt. Es ist der Gedichtband Die Niemandsrose (1963). Durch ein zweifelndes, ja verzweifelndes Wort hindurch sucht er hier nach einem sichtbaren, offenen, sich zeigenden Gott. Aber ein „zweiter Himmel“ öffnet sich nicht, der Gott, der sichtbar ist, ist behaftet mit dem Tod aller verbrannten Namen, in ihnen zeigt er sich und ist damit selbst ihr Tod.
Celan hier der Blasphemie zu bezichtigen, bedeutet sein oxymorontisches Sprechen nicht berücksichtigen, in welchem auch Gott seinen Platz findet. So sagt er nicht wie Nietzsche, Gott ist tot, sondern er sagt:

im Tod
all der Gemähten
wächst er sich zu

Das ist das Gegenteil einer Blasphemie, das ist Hoffnung, die sich durch ein zweifelndes Wort hindurch ausspricht; aber da Gott in jedem von „uns“ ist, die wir mit und in unserer toten Sprache zweifeln, ist es wiederum auch Gott, der im Wort zweifelt und zweifelnd sucht. Das Wort des Gottes aber, der, weil er alle Tode bis zur Neige getrunken hat, gleichsam gereinigt ist von ihnen, dieses göttliche Wort befindet sich außerhalb allen menschlichen Verstehens und äußert sich nur als ein Rätsel. Das Wort eines solchen Gottes verkünden ausgewählte Propheten in einer von der alltäglichen Sprache weit entfernten Rede. Das Gedicht „Tübingen, Jänner“ spricht davon:

TÜBINGEN, JÄNNER

Zur Blindheit über-
redete Augen.
Ihre – „ein
Rätsel ist Rein-
entsprungenes“ –, ihre
Erinnerung an
schwimmende Hölderlintürme, möwen-
umschwirrt.

Besuche ertrunkener Schreiner bei
diesen
tauchenden Worten:

Käme,
käme ein Mensch,
käme ein Mensch zur Welt, heute, mit
dem Lichtbart der
Patriarchen: er dürfte,
sprach er von dieser
Zeit, er
dürfte
nur lallen und lallen,
immer-, immer-
zuzu.
(„Pallaksch. Pallaksch.“)

Da, wo die tote Sprache, der Tod, die Augen geblendet hat, ersteht eine rätselhafte Reinheit. Die blinden Augen, durch das Wort zu neuen Augen verwandelt, können sie durch eine Erinnerung hindurch, die sich in den Worten Hölderlins artikuliert, sehen. Hölderlin selbst, der große „Seher“, dem sich Celan sehr nahe verwandt fühlt, wird unmittelbar darauf in metonymischer Anspielung genannt. Celan evoziert in pluraler Form den Turm, in welchem Hölderlin die zweite Hälfte seines Lebens, in der er als geistesgestört galt, verbracht hatte. Durch den pluralen Gebrauch des Bildes und seine metonymische Nennung erhält der Dichter eine repräsentative Universalität, die weit über die biographische Person hinausweist. Er wird dem hellseherischen Blick der Patriarchen angenähert. Die Türme, man kann also auch sagen, alle, die solche Hölderline sind, erscheinen damit wie aufragende Leitinseln, Zielpunkte einer Reise, die die Möwen ankündigen. Ein Bild beladen mit Konnotationen der Erwartung und Hoffnungen, eine Vorstellung von Zielen, die jedoch schwer, wenn nicht unmöglich zu erreichen sind, da sich alles in ständiger Bewegung befindet.
An diesem Ort, wo alles Bewegung ist, und in diesem Augenblick, einem sich von unserem nur allzu unterscheidenden „heute“, erscheint noch einmal ein reines Wort, das zwar ein Mensch ausspricht, aber ein Mensch, der erleuchtet ist wie es die Patriarchen waren, der wie Hölderlin ihren Blick hat. Aber dieses Wort ist ebenfalls wie das Hölderlinsche den einfachen Sterblichen nicht mehr verständlich, es hat die Spuren unserer kommunikativen Sprache zurückgelassen, es geht allem Sprechen voraus wie die unartikulierte Sprache des Kindes; es ist ein bisher ungesagtes Wort gleich dem „Pallaksch“ Hölderlins, das er in gleicherweise benutzte, um „Ja“ und „Nein“ zu sagen. Ein Wort also, das nicht mehr trennt und zu dem Celans Sprechen zu gelangen sucht. Celan sucht, dieses Gedicht läßt keinen Zweifel daran, sein eigenes „Pallaksch“.
Paul Celan hat damit den absoluten, den offenen Gott, den deus apertus in sein poetisches System einbezogen und hat ihm den ihm hier logisch zukommenden Ort und die Zeit des unausgesprochenen und unaussprechlichen perfekten Wortes zugewiesen, der der Ort auch des absoluten Gedichtes ist, von dem er im Meridian sagt, daß es das nicht geben könne, daß es wohl aber „mit jedem wirklichen Gedicht“, „mit dem anspruchslosesten Gedicht“ als Anspruch, als unerreichbare Projektion hervortritt. Der den Menschen sichtbare Gott jedoch ist ein vom Tod behafteter Gott, ein deus absconditus.
Tod der Menschen, Tod der Dinge, Tod der Sprache, Tod Gottes – alle diese zu durchschreitenden Tode und das Zuviel des Gedächtnisses, das die Daten nicht entläßt, und die Sprache, die nicht umhin kann, sie zu sagen – Celan und sein Wort sind ausgeliefert.
Es ist kein Zufall, daß sich die zu Beginn zitierten Verse des „Nach oben verworfenen“ Menschen in dem Band Die Niemandsrose befinden. Denn so verlassen, ist er, bestürmt von seinem Gedächtnis, den Erlebnissen ausgeliefert, seinen und denen der anderen, für die seine Daten repräsentativ stehen. Celan identifiziert sich:

Mit Namen, getränkt
von jedem Exil.
Mit Namen und Samen,
mit Namen, getaucht
in alle
Kelche, die vollstehn mit deinem
Königsblut, Mensch, – in alle
Kelche der großen
Ghetto-Rose, aus der
du uns ansiehst, unsterblich von soviel
auf Morgenwegen gestorbenen Toden.

Celan trägt das Schicksal aller Menschen, aller Völker und jedes Einzelnen, aller derjenigen, die für die Sache der Menschen gekämpft haben und dafür in die Einsamkeit, ins Exil und in den Tod gehen mußten. Ihr Gedächtnis drängt sich ihm in diesem Band mit aller Macht auf. Ihre Daten sind seine Daten, in ihrem Wort findet er sein eigenes Motto, sein „Schibboleth“. Alles konzentriert sich in ihm, vereinigt sich „In Eins“ – und „In Eins“ ist der Titel eines Gedichtes aus diesem Band, in welchem gerade die verschiedensten historischen Daten, Ereignisse und Personen in einen Identitätsbezug gesetzt werden. In literarischen und biblischen Reminiszenzen, in Volksliedzitaten, geographischen Andeutungen und anderen metonymischen Sprechweisen evoziert er sie. Menschen, Worte und Erlebnisse, Gelesenes und Gehörtes versammeln sich in ihm zu seinem Leben, entfesseln sich in ihm, überfluten ihn als Einzelperson und tragen ihn in eine Universalität hinaus, in der er alles ist, was je geschah, was vergessen ist und was sich als „Zu-Vergessen-de(s“) erst noch ereignen wird. Hier, bei den anderen, bei allen und allem ist er bei sich selbst, es sind seine Daten.
Wie ein leeres Gefäß steht Celan und empfängt die Erlebnisse der anderen, die ja doch eben auch die seinigen sind. Unter der Last des allzu Viel an Gedächtnis jedoch kehrt sich die Fülle im entgrenzten Raum unmittelbar dialektisch in eine Leere um. Celan existiert nur noch für die anderen, die universalisierende Kraft seiner Daten und Geschehnisse hat ihn aus sich selbst herausgeschleudert, in die „Luft“ – und hier, wo nichts als Leere ist, trifft er doch wieder die Überfülle des Gedächtnisses. Der Ort, der sich seit dem vierten Zyklus des Bandes Sprachgitter angekündigt hatte, zeigt sich als höchst komplex. Die Toten – die Worte lassen sich nicht begraben. Aber wie kann Celan von einem freien Ort sprechen, an dem er angelangt ist, wenn ihn dort seine Daten und die anderer in Fesseln schlagen?
Betrachten wir näher, was an diesem Ort geschieht. Frühe Erlebnisse, Bilder tauchen auf, bestürmen ihn, entziehen ihm den Fixpunkt, von dem aus er sprechen könnte – von jetzt ab treten bezeichnenderweise die Zitate gehäuft auf – versetzen ihn schließlich selbst in Bewegung. Wörtlich verstanden unter der Hand hat sich der Ort, an dem er schreibt, spricht, verändert. Er ist zu einem Ort geworden, wo die höchste Freiheit der Bilder und der Sprache, die sie sagt, herrscht. Dieser aber ist, wie bereits bemerkt, kein anderer Ort als der des Unbewußten, genauer gesagt jenes Unbewußten, das die Stätte der Entstehung der Bilder und damit auch der poetischen Bilder ist. Indem Celan die Geschehnisse und Daten in ihrer totalen Freiheit niederschreibt, schreibt er zugleich die Bewegung dieses Unbewußten selbst, den freien Ort par excellence.
Schwindelerregend diese Freiheit, die er wiedererlangt hat, wiedererlangt zu einem Preis, der ihr gleichkommt; es ist der Preis der völligen Selbstaufgabe, der Auflösung des einigen Subjekts, das in allen zu durchschreitenden Toden aufgeht. Einen solchen Ort als seinen eigenen Ort zu erkennen und zu akzeptieren, ist nicht ein sich im langsamen Prozeß eines Wandels entwickelnder Akt, ist vielmehr Resultat einer momentanen Einsicht, ja einer höchst schmerzhaften Klarsicht, denn sie impliziert, daß derjenige, der sie trifft, die eingefahrenen Geleise des sogenannten normalen Lebens aufgibt. Eine wahre Wende.
Celan hat dieses neue Ereignis in seinem Leben nach einem Anflug von ohnmächtiger Revolte, die sich in dem Gedichtband Die Niemandsrose niedergeschlagen hat, akzeptiert. Ein ganz bestimmtes Gedicht kündigt diese Wende in seinem Leben an. Es befindet sich an einer Stelle, die in fast allen Gedichtbänden einen privilegierten Platz einnimmt; es ist das fünftletzte Gedicht dieses Bandes und trägt den Titel „Die Silbe Schmerz“:

DIE SILBE SCHMERZ

Es gab sich Dir in die Hand:
ein Du, todlos,
an dem alles Ich zu sich kam. Es fuhren
wortfreie Stimmen rings, Leerformen, alles
ging in sie ein, gemischt
und entmischt
und wieder
gemischt.

Und Zahlen waren
mitverwoben in das
Unzählbare. Eins und Tausend und was
davor und dahinter
größer war als es selbst, kleiner, aus-
gereift und
rück- und fort-
verwandelt in
keimendes Niemals.

Vergessenes griff
nach Zu-Vergessendem, Erdteile, Herzteile
schwammen,
sanken und schwammen. Kolumbus,
die Zeit-
lose im Aug, die Mutter-
Blume,

mordete Masten und Segel. Alles fuhr aus,

frei,
entdeckerisch,
blühte dieWindrose ab, blätterte
ab, ein Weltmeer
blühte zuhauf und zutag, im Schwarzlicht
der Wildsteuerstriche. In Särgen,
Urnen, Kanopen
erwachten die Kindlein
Jaspis, Achat, Amethyst-Völker,
Stämme und Sippen, ein blindes

Es sei

knüpfte sich in
die schlangenköpfigen Frei-
Taue — : ein
Knoten
(und Wider- und Gegen- und Aber- und Zwillings- und Tau-
sendknoten, an dem
die fastnachtsäugige Brut
der Mardersterne im Abgrund
buch-, buch-, buch-
stabierte, stabierte.

Daten, Geschehnisse bestürmen ihn von allen Seiten, lockern sich sozusagen, heben sich in ihr Gegenteil auf, beleben sich zu einem neuen, ewig bewegten, unfaßbaren Ereignis; ein Du taucht in demselben Augenblick aus dem erlittenen Tod auf, ein „Niemals“ beginnt zu keimen, die Rose selbst, die Ghettorose, soeben noch die Rose einer Person, wenn sie auch ein Niemand war, so war sie doch noch in menschlicher Reichweite, diese Rose selbst wird zu einer „Windrose“, im Wind abblätternd, zugleich aber auch zum Richtungsblatt und damit frei zur Entdeckung eines Meeres, einer neuen Welt, welche sich schließlich in dem, was die „Silbe Schmerz“ Celans ist, in seinem „Es sei“ öffnet. Blind äußert er sie, inmitten all der Leere, die aber dennoch lesbar, entzifferbar ist, wie schwierig jedoch, das zeigt das Stottern am Ende des Gedichtes.
„Die Silbe Schmerz“, das „Es sei“ Celans, ist das Akzeptieren der neuen Erlebnisse als seine eigenen Daten, die keine Namen mehr tragen, vorüberhuschende Züge nur sind, sowie sie sich im reinen Zustand des Unbewußten präsentieren; sie sind zu Zeichen geworden, bar jeder spezifizierenden Bedeutung, um reine Signifikanz selbst zu sein, d.h. jede einzelne Bedeutung in ein allgemeines Bedeuten einzuschließen und so über sie hinauszuweisen. Was soeben noch das „Unland“ war, wird unter der affirmativen Kraft der Schmerzenssilbe des „Es sei“ zu einem neuen Land.
Eine wahre Wende im Leben Paul Celans, in seinem Werk, eine wahre „Atemwende“. Und wieder sind Leben und Werk eins – „In eins“ – , denn in dem Wort „Atemwende“ ist damit auch schon der nun folgende Gedichtband von 1967 genannt.
Aber formulieren wir die Wende noch einmal. In ihr trifft sich die Progression seines poetischen Wortes zu einer immer größer werdenden universalisierenden Signifikanz, d.h. aber zu einer immer stärkeren Konzentration des Wortes auf ein universalisierendes Detail, mit der plötzlichen Erkenntnis Celans, sich an einem neuen Ort zu befinden, einem Ort nämlich, der sich jenseits jeder historischen Dimension öffnet. Celan hat von Gedichtband zu Gedichtband versucht, das zu zerstören, was die Sprache an Sedimenten mit sich trug; damit hat er nichts anderes versucht zu zerstören, als die historische Dimension des Wortes. Es ist ihm gelungen, und die Sprache hat sich gleichsam verdünnt; was bleibt, ist ein äußerst knappes Detail, das aber gerade als solches eine universalisierende Repräsentanz besitzt. Die Wende besteht darin, daß sich Celan dieses neuen Ort es plötzlich bewußt wird und ihn akzeptiert.
Welchen wohnbaren Ort aber findet das Subjekt noch, ist einmal die Geschichtlichkeit der Sprache mittels der Konzentration auf das Detail in Universalität verwandelt? Es bleibt „ein Faden“, der gerade noch reicht, um die Elemente dieser sich ständig in Bewegung befindenden, auseinander treibenden Pluralität zusammenzuheften. Das Bild des Nähens taucht jetzt verschiedentlich auf. Die Sprache, die Daten, die Geschehnisse haben Celan an einen von seinem Ursprung sich sehr unterscheidenden Ort versetzt, an einen leeren Ort, der die reine Universalität sagt, anders ausgedrückt, der die universale Seele des Dichters, die sein Unbewußtes als Ort der Entstehung der poetischen Bilder und der Bilder überhaupt ist, sagt. Die Wende besteht in der Resemantisierung der schweigenden Leere aus diesem Leben des Unbewußten des Dichters heraus. Wenn wir oben von dem Weg des Gedichtes als Gabelung gesprochen hatten, so können wir nun sagen, daß Celan diese Gabelung selbst hinter sich gelassen hat. Sein Wort spricht jetzt eine andere Sprache; in ihr existiert mehr denn je zuvor das Wort ursprünglich als plurale semantische Einheit.
Eine Wende im Sprechen und Leben Paul Celans, die sich in einer Entwicklung seiner Lyrik abzeichnet, deren Stationen sich folgendermaßen beschreiben lassen:

– ein in die ersten Daten eingeschriebenes Schweigen, welches in ihnen einen universalisierenden Ort eröffnet; mit anderen Worten, Aussprechen des tautologischen Wortes, um in ihm seine historische Dimension systematisch zu zersetzen;
– Bewußtwerdung einer Leere, die sich im Schweigen eröffnet; oder Erkenntnis des universalisierenden Wortes, das die Geschichtlichkeit des einzelnen Menschen in Ort und Zeit überholt;
– das ungekannte und bisher ungesagte Wort, das eine andere Geschichtlichkeit, nämlich die des universalen Menschen ausspricht, in welcher alle Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten ihre eigene Geschichte wiedererkennen; eine Geschichtlichkeit, in der es ausschließlich nur noch eine semantische Vielheit oder Offenheit gibt.

Die Stationen evozieren eine lineare Entwicklung im Sinne einer progressiven Akzentuierung dessen, was das Wort Celans jedoch seit seinem Beginn in sich trägt. Linearität und Simultaneität begegnen sich im poetischen Wort. Wende der Augenblick, in welchem die plurale Einheit radikaler Ausgangspunkt des Sprechens wird.
Ein von Celan nur schwer akzeptierter aber schließlich doch akzeptierter Ort, der sich nach M. Blanchot „jenseits allen vollendeten Wissens“ befindet, welcher „auch nicht jenes Nicht-Wissen ist, das doch wieder nur eine Weise des Verstehens ist (das vom Erkennen selbst eingeklammerte Erkennen), sondern eine Art und Weise, sich zu beziehen auf oder sich in einem Bezug zu halten (sei es mittels der Existenz [und ich möchte hinzufügen, daß es nur möglich ist unter Einbeziehung der Existenz – S. B.]) dort, wo der Bezug ,unmöglich‘ ist“. Der Mensch wird dort „seine neue Souveränität“ finden, „diejenige eines Seins ohne Sein im Werden ohne Ende eines unmöglich zu sterbenden Todes“. Und um den Kreis zu schließen:

was kein Existierender im Primat seines Namens erreichen kann, was die Existenz selbst in dem Verführerischen Ihrer Partikularität, in dem Spiel ihrer gleitenden Universalität nicht zu enthalten vermöchte, was also sicher entschlüpft, das nimmt das Wort auf, und es hält es nicht nur zurück, sondern es spricht gerade von dieser fremden und immer entzogenen Affirmation her, dem Unmöglichen und Unkommunizierbaren, indem es dort seinen Ursprung nimmt, ebenso wie in diesem Wort das Denken mehr denkt als es denken kann.

Celan hatte diese neue Existenz seit seinem ersten Artikel angekündigt, wo er von diesem Ort als einer „neuen Helligkeit“ spricht, „die ich nicht wiedererkenne sondern erkenne in einer erstmaligen Schau“. Und er sagt vor ihr:

Ihr Gewicht besitzt eine andere Schwere, ihre Farbe redet zu einem neuen Augenpaar, mit dem meine geschlossenen Lider einander beschenkt haben, mein Gehör ist hinübergewandert in mein Getast, wo es sehen lernt; mein Herz erfährt, nun, da es meine Stirn bewohnt, die Gesetze einer neuen, unausgesetzten und freien Bewegung. Ich folge meinen wandernden Sinnen in die neue Welt des Geistes und erlebe die Freiheit. Hier, wo ich frei bin, erkenne ich auch, wie arg ich drüben belogen wurde.

Es ist als hätte sich seine Sprache erst durch einen langen Reinigungsprozeß im Sprechen/Schreiben von den Erlebnissen, die sie zu stark nannte, befreien müssen, damit er endlich seinem eigenen Programm umso deutlicher folgen konnte:

Doch in dir, von
Geburt,
schäumte die andre Quelle,
am schwarzen
Strahl Gedächtnis
klommst du zutag.

Der Band Atemwende erzählt die Einrichtung dieser anderen Person an – und hier kann man nicht mehr sagen, an seinem neuen Ort, denn dieser Ort ist die neue Person. Der neue Mensch definiert sich von seinem Ort her.
Dieser neue Ort ist vor allem und immer zuerst das neue Erlebnis der „Silbe Schmerz“, die Wunde seines Zuviel an Gedächtnis. Er nennt ihn bald „Wundenmal“, bald „Wundenspiegel“, bald „Erinnerungswunde“, bald „Wundgelesenes“; oder er verweist auf ihn scheinbar sehr konkret als „Schädel“ oder „Gehirn“ – scheinbar, denn wo das Gedächtnis der Ort des Dichters ist, kann das Gehirn nur seine Metonymie sein. Ort, der auch den Namen „Wahn“ trägt und den Celan schließlich

Die eine, noch
zu befahrene Meile
Melancholie

nennt. Diese „Meile“ wird er in den folgenden Gedichtbänden durchmessen, wird ihre Grenzen und ihre neuen gleißenden Helligkeiten umreißen, wird versuchen, ihre Linien und Richtungen so genau wie möglich zu verfolgen. Eine schwere Arbeit, da das Mittel sie zu sagen durch einen Auflösungsprozeß der Sprache gleichsam erst geschaffen werden muß. Eine schwere Arbeit – und das Bild der Faust, die das Material der zu Stein oder Eis verhärteten alltäglichen Sprache hämmernd bearbeitet, tritt hervor.
Der Mensch und sein Wort sind untrennbar jenseits selbst aller ihrer primären Möglichkeiten hinausgeschleudert, haben ihre originäre Fähigkeit des Benennens hinter sich gelassen, sind dort angelangt, wo der Primat des Namens, der Absolutheitsanspruch des Benennens, des Namengebens aufgehört hat, denn die „Namen“, ein jetzt beliebtes Wort Celans für die ,Wörter‘, um die Fixierung um so deutlicher zu sagen, sind erstarrt, sagen nicht die Bewegung an sich. Im Gegenteil, Celan spricht es in dem Band Atemwende expressis verbis aus: „Das Namengeben hat ein Ende“, Namen werden durchwandert, um neue Namen, „Unnamen“ zu finden, die die reine Universalität des Ich sagen.
Eine neue Sprache ist das Ziel, ein unbekanntes Wort, das dem Hölderlins nahe ist; Celan sucht radikaler denn je sein eigenes „Pallaksch“. Er stellt diesen Gedanken in dem Gedicht „Solve“ dar und zeigt hier auch zugleich den Weg auf, den er bei seiner Suche einschlägt.

SOLVE

Entosteter, zu
Brandscheiten zer-
spaltener Grabbaum:

an den Gift-
pfalzen vorbei, an den Domen,
stromaufwärts, strom-
abwärts geflößt

vom winzig-lodernden, vom
freien
Satzzeichen der
zu den unzähligen zu
nennenden un-
aussprechlichen
Namen aus-
einandergeflohenen, ge-
borgenen
Schrift.

Ein vielleicht schwer zu verstehendes Gedicht, dessen Bedeutung sich jedoch aufhellt, wenn man schrittweise die in den drei Strophen vorgestellten Bilder in ihrer Beziehung untereinander liest.
„Entosteter“, ein Neologismus Celans mit der Bedeutung von ,dem Osten weggewandt‘, leitet mit seiner einen vorherigen Zustand evozierenden und ihn zugleich negierenden Form eine Bewegung ein, die das Bild des zerstückelten „Grabbaum(es“) – ein anderer Neologismus Celans – zur Anschauung bringt, sozusagen inszeniert und so aufnehmend fortführt. Ein sich fest wie ein mahnendes Grabdenkmal nach Osten richtender „Grabbaum“ ist in seiner Richtung verändert worden und verändert damit zugleich sein Wesen. Er ist zu „Brandscheiten“ zerstückelt, die zu schwimmen beginnen – genau gelesen: die geflößt werden. In ihrer neuen, kleinen, leicht beweglichen Form durchziehen sie weitere Gegenden, verderbliche, wie der nächste Celansche Neologismus „Giftpfalzen“ sagt. Die Bewegung bleibt jedoch orientierungslos. Wie bereits „Entostet(er“) eine Bewegung ausgelöst hatte, ohne deren Richtung anzuzeigen, bleibt sie auch in der eine Verwirrung ausdrückenden Vorstellung des „stromaufwärts, stromabwärts“ ziellos. Sie kann nicht fixiert werden. Das Gedicht gibt dafür keine sprachliche Hilfe. Vielmehr ist die Bewegung als solche freigesetzt. Der Titel kündigt es ja auch bereits an. Programmatisch fordert er zum „Solve“ auf, zum Lösen, Auflösen. In der dadurch entstehenden Freiheit der nicht fixierten Bewegung, der Bewegung des Aufgelösten, werden die kleinen Teile des „Grabbaum(es)“ mit mehr Bildern befrachtet, nehmen sie also eine Vielzahl von Bedeutungen an, wie sie der einzelne feststehende „Grabbaum“ nie hätte in sich versammeln können.
Was sich so aus der Perspektive des diskursiven Sprechens als Desorientierung, Zerstückelung, Ziel- und Planlosigkeit präsentiert , wird von einer neuen Schrift aufgenommen. Das sagt auch die letzte Strophe. Ihre vielen winzigen, unaussprechlichen Namen, d.h. Namen, die keine sind, nämlich in dem soeben beschriebenen Sinne der präzisierenden und vereinzelnden, erstarrenden Namensgebung – diese vielen winzigen, unaussprechlichen aber doch zu nennenden, also neu zu findenden Namen spiegeln dabei genau die auf dem Wasser hin- und herschwimmenden kleinen „Brandscheite“.
Sie spiegeln sie nicht nur, vielmehr stehen diese neuen Zeichen auf ihnen als Flößer; die kleinen Scheite sind die Orte der vielen winzigen, neuen Worte, die ebenso neu sind wie auch die Scheite neue Stücke von einem alten Gegenstand sind. In ihrer Bewegung, ihrem Hin und Her, ihrem Auseinanderfliehen und Zusammentreffen findet das neue Wort als neue Schrift ihr Bestehen, ihre Ruhe. Das neue Wort taucht durch die Zerstückelung in Teile hindurch als reine Bewegung, in der es sich installiert, auf. Die bewegungslose Bewegung René Chars ist erreicht.
Celans Weg, um sein „Pallaksch“ zu finden, ist in diesem Gedicht durch eine besonders geglückte Vorstellung ausgedrückt. Die individualisierenden, vereinzelnden und damit trennenden Wörter unserer Sprache löst er in ihre einzelnen Teile, Silben auf, wie man einen Baumstamm in Stücke zerkleinert, und setzt aus ihnen neue Wörter zusammen, welche an die alten erinnern, sie evozieren, sie damit aber auch schon immer überholt haben, jene sagen und zugleich auch etwas ganz Neues, das jedoch nicht mehr in einer Einzelnheit, Singularität fixierbar ist.
Das Wort „entosteter“ konzentriert in sich allein das Bild dieser zerstreuten und sich neu zusammenfindenden Schrift, das das gesamte Gedicht vorstellt. Das Wort ist ein Neologismus, in welchem Celan durch sein implizites Zurückweisen des Ausdrucks ,desorientiert‘, der ja etymologisch gelesen dasselbe bedeutet, nämlich ,dem Osten abgewendet‘ die seine Lebensdaten noch deutlicher erinnernde historische Sinndimension mit einbeschließt. Dermaßen aufgefüllt mit vielfältiger Bedeutung wird diese nochmals durch die Tatsache ausgeweitet, daß sich das Wort nur durch einen Laut von dem Ausdruck ,entrostet‘ befindet. In dieser Nachbarschaft besagt „entosteter“, daß der „Grabbaum“, der vorher – konkret gelesen, bevor das Sprechen des Gedichtes begann – fest wie eine Stele stand, gleichsam entrostet ist und sich bewegen kann, in andere Richtungen, auf andere Bilder zu. Die einzelnen Teile der diskursiven Sprache finden sich so in einem neuen Wort zusammen, in welchem sich die neue poetische Schrift artikuliert.
Es zeigt sich, daß Celans Gebrauch der Neologismen bedeutungskonstituierend besonders für sein lyrisches Sprechen nach der hier dargestellten Wende ist. In ihnen artikuliert und konkretisiert sich seine neue poetische Schrift als das Sagen der reinen Bewegung.
Das Wort aber, das seine eigene Auflösung und die Konstruktion seines neuen Ortes, seiner neuen Schrift zeigt, ist nicht mehr es selbst. Es ähnelt sich nur noch. Was der Leser vor Augen hat, ist allein eine Bewegung in Richtung auf eine Bewegung in Richtung auf sein totales Verschwinden, nämlich als diskursives Wort, und eine Bewegung in Richtung auf seine Neugeburt als poetisches Wort, jenem idealen, das immer nur ein Entwurf bleibt. Die Worte sagen nicht mehr sich selbst, deuten nur noch das andere an, sie sind, nach Celan „wie ein Name“. Sie sind nur noch Metaphern ihrer selbst. In der Metapher der Metapher, dessen, was einst die Funktion der Metapher innehatte, eröffnet sich der neue Ort des Gedichtes. Man kann mit dem Bild Celans sagen, daß sein Gedicht nichts anderes ist als die Meile, die die Metapher von ihrer Metapher trennt.
Diese Metapher zweiten Grades meint der Begriff im folgenden Gedicht:

EIN DRÖHNEN: es ist
die Wahrheit selbst
unter die Menschen
getreten,
mitten ins
Metapherngestöber.

Nicht in einem einfachen metaphorischen Gebrauch der Sprache gibt sich die Wahrheit zu erkennen; dieses Verständnis würde das poetische Wort vor allem des späten Celan extrem simplifizieren und seine Aussage sogar zweifelhaft erscheinen lassen. Die Wahrheit tritt in der von sich selbst befreiten Sprache hervor, die in die reine Bewegung, ein „Gestöber“, übergegangen ist, in welchem sie an ihr früheres fixierendes, designierendes Wesen nur noch in metaphorischer Weise, durch einzelne, jenes evozierende Partikel erinnert. Als solche Metapher aber kann sie andererseits metaphorisch auf das Neue, die Reinheit, von der Celan schon im Jené-Artikel sprach, verweisen, kann sie diese Wahrheit, die Freiheit der absoluten Bewegung, des Ungekannten und Ungenannten verkünden – als Metapher der Metapher.
„Wir sind weit draußen“, das Gedicht entsteht weit draußen – „denn der Jud, (…) was hat er schon, das ihm auch wirklich gehört, das nicht geborgt war, ausgeliehen, (…)“ – Celans Prosatext Gespräch im Gebirg tritt unmittelbar vor Augen; Paul Celan lebt sein jüdisches Wesen, sein ,être juif‘, bis zur Neige – und die Worte werden immer unkenntlicher. Es hat den Anschein, als berausche sich Celan gar für Augenblicke an ihrer Dunkelheit, an der „herrlichundeutbare(n) Flut“, die aber entzifferbar ist, er wird nicht müde, es zu betonen.

Sieghild Bogumil, Neue Rundschau, Heft 4, 1982

Celans Wandern im Wort

– Entwicklungslinien in der Lyrik Paul Celans II. –

1.
Celan und sein Wort sind auf seinem Lebensweg „weit draußen“ angelangt, an einem neuen Ort des Schweigens, das jedoch sehr beredt ist. Er ließ sich, wie im ersten Teil (Neue Rundschau 4/1982) gezeigt wurde, von dem Eigenleben der Sprache immer mehr anziehen, hatte ihre historische Dimension schließlich durchschritten und war in der Tiefe des Unbewußten, am Ursprungsort der Sprache, angekommen. Hier erlebt er sie gleichsam in ihrer Urform, in ihrer unberührten Reinheit, als die freie ewige Bewegung ständig sich verwandelnder Bilder. Der Weg dort hin führte über die Konzentration des poetischen Wortes auf ein repräsentatives Detail, welches unter dem Druck seiner allumfassenden Exemplarität den engen Bedeutungsradius sprengt und dialektisch aus seiner präzisierenden semantischen Einzelnheit in einen universalisierenden Sinngehalt, eine totalisierende Signifikanz umschlägt.
Das Bewußtsein, daß die Sprache durch ihre historisch entstandene konnotative Ebene belastet und verfälscht ist, trägt Celans gesamtes poetisches Sprechen, es ist der Auslöser seines Wortes. Zwei sprachtheoretische Äußerungen, in denen er sein Unbehagen deutlich formuliert, umschließen bezeichnenderweise wie ein Rahmen sein gesamtes Werk. Die erste Äußerung befindet sich in dem bereits erwähnten Jené-Artikel, in welchem er auch zugleich das Programm, die Sprachskepsis zu überwinden, formuliert. Geschlossen wird der Rahmen durch ein ausdrücklich an B. Brecht gerichtetes Gedicht in seinem letzten von ihm zusammengestellten Gedichtband Schneepart. Dabei zeigt sich zugleich wieder, was Celan schon im Meridian hervorgehoben hatte: Dichtung ist für ihn konkreter Dialog, und so fühlt er sich auch als einer der „Nachgeborenen“ angesprochen, denen Brecht als Vermächtnis warnend zugerufen hatte:

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Celan antwort et ihm wie folgt:

EIN BLATT, baumlos
für Bertolt Brecht:

Was sind das für Zeiten,
wo ein Gespräch
beinah ein Verbrechen ist,
weil es soviel Gesagtes
mit einschließt?

Die Worte, die wir sprechen, sind nicht unschuldig, sie tragen die Last einer den Menschen deformierenden Geschichte mit sich und sagen sie auf ihrer konnotativen Ebene. Auf dem „Blatt, baumlos“, in welchem das weiße Blatt Papier, auf dem er die Antwort niederschreibt, zu erkennen ist, knüpft Celan an den Rousseauschen Geschichtspessimismus an und sucht als ein neuer Aufklärer in der Sprache einen Weg zurück zur Natur der Sprache und damit zurück zur Natur des Menschen. Wie hat sich dieser Weg aber, das sei hier nur nebenbei bemerkt, seit den Promenaden – besonders der fünften Promenade – verändert!
Celan schreibt sich also in keiner Weise, entgegen der in der Kritik verbreiteten These, immer mehr dem Verstummen zu, vielmehr dem, was in der Sprache schweigt, weil es unterdrückt, verschwiegen, tabuisiert wurde, wie es M. Foucault in seiner Darstellung des Wahnsinns gezeigt hat. Es ist gerade das, was für Celan die Ursprünglichkeit des Wortes, seine Reinheit ausmacht. Sie versucht er seit der Atemwende radikal zum Reden zu bringen, indem er beginnt, aus der alltäglichen Sprache eine neue Sprache zu bilden, aus ihr herauszuhämmern, wie eines der Bilder Celans diese Arbeit darstellt, und sie der absoluten Bewegung und Ursprünglichkeit der Bilder des Unbewußten anzugleichen, damit sie jene und sich selbst unverfälscht sage.
Celan wird im Gegenteil immer beredter. Das zeigt auch ein kurzer vergleichender Blick auf die Anzahl seiner Gedichte vor und nach der Wende. In den letzten sieben Jahren, von 1963, dem Erscheinungsdatum des Bandes Die Niemandsrose, in welchem er die Wende artikuliert, bis zu seinem Freitod im Jahre 1970 veröffentlicht Paul Celan ebenso viele, nämlich fünf Lyrikbände, die etwa gleich umfangreich sind wie die ersten fünf Bände, welche er in der Zeit von 1948 bis 1963 veröffentlicht hat. Sein Freitod selbst erscheint in diesem Licht als eine abrupte Unterbrechung eher denn als ein notwendiger Schlußpunkt, auf den Celan sich zubewegt hätte. Der „Atem“ Celans – und ich möchte hier mit H. Weinrich hinzufügen: „so heißt die Inspiration, seitdem niemand mehr an Inspiration glaubt“ –, die poetische Kraft Celans hat sich in keiner Weise abgeschwächt. In diesem Falle darf man sogar die Hypothese aussprechen, daß er, hätte er nicht sogar abrupt ein Ende gesetzt, vielmehr unter dem von ihm konzentriert überwachten Diktat des Unbewußten weitergeschrieben hätte.
Die Sprache aber, die er erfindet, ist nun nicht mehr nur von unserer Alltagssprache, sie ist auch von der uns gewöhnten poetischen Sprache weit entfernt, ebenso weit entfernt wie der Ort, den sie sagt und der mit ihr erst entsteht. Es ist eine Sprache, die, wie dargestellt wurde, nur noch an sich selbst erinnert, die Metapher ihrer selbst ist, die ihrerseits auch nur die Funktion einer Metapher innehatte. Aber noch als Metapher der Metapher hebt Celan sie im Gedicht auf, um sie nicht wiederum in der Negation sich verfestigen und vereindeutigen zu lassen. Die reine Bewegung soll sie sagen, es den Bildern des Unbewußten gleichtun. Ein Gedicht aus dem Band Fadensonnen stellt in ganz besonders anschaulicher Weise die in sich selbst ruhende Bewegung als solche dar:

DIE WAHRHEIT, angeseilt an
die entäußerten Traumrelikte,
kommt als ein Kind
über den Grat.
Die Krücke im Tal,
von Erdklumpen umschwirrt,
von Geröll, von
Augensamen,
blättert im hoch
oben erblühenden Nein – in der
Krone.

Das kleine Poem ist wie letztlich alle Gedichte Celans als ein einziges in sich geschlossenes Wort zu lesen. Es ist undurchdringbar wie die „Erdklumpen“, zerstäubt aber gleich ihnen, zergliedert sich durch die Tatsache selbst, daß es ausgesprochen wird. Denn ausgesprochen, entzieht es sich unmittelbar seiner festen Konsistenz, da es ja nur noch als Metapher der Metapher, d.h. aber als sprachliche Stützfunktion, eben als „Krücke“ dient. Als solche verweigert es sich jedoch unmittelbar sich selbst, „blättert“ in einem „Nein“. Die es umschwirrenden „Erdklumpen“ mit dem „Geröll“ werden zur Metapher des sich als Metapher der Metapher negierenden poetischen Wortes, denn auch sie negieren in derselben Weise ihre Konsistenz. Kein Wort sagt sich in dem Gedicht selbst. Jedes hebt sich in der Setzung auch schon wieder auf und ist als solches wieder nur das Bild des anderen. Das Gedicht ist in eine totale Bewegung geraten.
Aber Celan geht es nicht, so zeigt sich im weiteren, um die Darstellung der Bewegung an sich, sondern er versucht, durch sie hindurch eine neue Erfahrung, diejenige einer Ursprünglichkeit, zu sagen. Denn in dieser beständigen Negation, Setzung und Zurücknahme tritt die „Wahrheit“ hervor, die nichts anderes als die „Wahrheit“ einer ursprünglichen Sprache ist, wie sich zeigen wird. Sie kann nur mit neuen Augen, die erst in der Begleitung der zerstäubenden „Erdklumpen“, des „Geröll(s)“ und der Zersplitterung der „Krücke“ aufgehen, gesehen werden.
Die „Wahrheit“ tritt aus dem Nein des poetischen Wortes zu sich selbst hervor; ein simultanes Geschehen im Wort , das sich jedoch in der raum-zeitlichen Konkretisierung des Gedichtes nur im Fortgang des Sprechvorgangs von „oben“ nach unten „im Tal“ ereignen kann. Aber die „Wahrheit“, das neue Ereignis, sagt sich hier ausdrücklich als ein „hoch oben“, „in der Krone“ erblühendes „Nein“ und verweist damit zugleich auf das Gedicht als figuralen Textraum, als Bildgedicht, das die „Wahrheit“ auch tatsächlich bildhaft zu Beginn, oben, auf dem „Grat“ des Gedichtes zur Anschauung bringt. Die „Wahrheit“ erscheint als wirkliche pikturale und skripturale Krone, das kleine Poem ist, es sei wiederholt, ein einziges in sich geschlossenes Zeichen. Das Wort verweist auf seine Bildlichkeit auf dem Blatt Papier als Abbild seiner selbst, korrigiert in seiner Gestalt, was die Zeit in seiner Signifikanz verfälscht, und das Gedicht erfüllt sich in der Metapher der Metapher der Metapher der Metapher… das „oben“ spiegelt sich im „Tal“, der „Abgrund“ wird zum „Himmel“, das Gedicht geht auf dem Kopf – wir sind mitten im Meridian und der dort in Andeutung entworfenen Theorie der Utopie als neuem Topos des poetischen Wortes, verstanden in seinem ursprünglichen Sinn als Ort.
Die „Wahrheit“ aber wird „hoch oben“ nun ebenfalls noch einmal in einem eigenen Bild, das ein „über den Grat“ kommendes Kind zeigt, dargestellt. Sie sagt sich darin als ein reines, naturhaftes Ereignis, das jeder Interpretation entzogen ist, als die Ursprünglichkeit selbst. Das Gedicht als äußerst künstlerisches, künstliches Gebilde schlägt in die ursprüngliche Unmittelbarkeit eines natürlichen Geschehens um. Die höchst kunstvolle ständige Zurücknahme des poetischen Wortes kulminiert in einem neuen ursprünglichen Naturereignis. Kunst und Natur versöhnen sich im Celanschen Gedicht. Das aber waren ja auch Celans Ausgangsüberlegungen in der Rede des Meridian: die Kunst, ein „marionettenhaftes, jambisch-fünffüssiges“, also mechanisches Wesen – „,Nichts als Kunst und Mechanismus (…)!‘“ – wie er Büchner teils analysierend, teils zitierend sagt; und dann doch auch Kunst als Sprechen, und damit „Gestalt“, „Personhaftes“, das das „Natürliche und Kreatürliche“, den „unheimlichen Bereich“ des dem Menschen Fremden entdeckt.

2.
Kunst führt aus dem Bereich des Menschlichen als dem Bekannten hinaus in das Unbewußte, wo „die Tiefe / (…) ihr Gewächs“ hergibt. Wenn Celan diesen neuen Ort immer wieder in den letzten Gedichtbänden zu sagen versucht, so fordert sein Gedicht die ganze Person, schreibt sich in seinen Körper ein, denn das sich in der Negation der Metapher der Metapher ständig zurücknehmende Wort kann nur jemand sprechen, der „unter dem Neigungswinkel seines Daseins“ steht. Celan stellt selbst die Verbindung zwischen der Seinsweise des poetischen Wortes und der Existenz des Sprechenden her.
Letztere war ja nur noch, trotz aller Erinnerung, die sie aufnahm, auf einen sehr reduzierten Raum beschränkt, einen „Faden“, oder wie er in Atemwende sagt, ein „Atemseil“, auf „Rillen“ oder eine „Wortspur“, wie sie das Gedicht „Keine Sandkunst mehr“ zum Schluß nur noch tatsächlich hinterläßt und damit wieder die Gestalt dessen, was es sagt, annimmt, ein Bildgedicht wird. Es sagt und ist zugleich die Spur:

(…)
Deine Frage – deine Antwort.
Dein Gesang, was weiß er?

Tiefimschnee,
aaaaaaaaaaaIefimnee,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaI-i-e.

Celans Gedicht weiß, kennt nur noch diese „Wortspur“. In ihr wandert er mit dem Wort mit, sucht, bearbeitet es, Silbe um Silbe, Buchstabe um Buchstabe – und hämmert sich bald wieder einen weiten Raum frei. Die „Stimmritze“ führt schließlich ins „All“, ins „allerorten“ des „neue(n) Gehirn(s)“, und

Schön, durch nichts zu verschleiern,
wirft es sie, die
Gedankenschatten.

„Geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei“ – immer wieder erinnern die Gedichte an die Worte des Meridians; er durchzieht jeden einzelnen Vers.
Celan dehnt die „Hüllen im Endlichen“, so daß „Tausend (…) / noch nicht einmal Eins“ ist, die Hirnrinde wird ihm zum „Hirnmantel“, der ihn einhüllt. Neurologische Fachtermini – eine neue Sprache auch sie, denn sie sind, wie die Rezeption der Spätlyrik Celans selbst zeigt, auch heute noch poetische „Unnamen“ – treten nun häufig auf. Sie sind jedoch weit davon entfernt, sich in ihrer primären begriffssprachlichen Bedeutung zu erschöpfen; sie geben sie allerdings auch nicht auf, sondern werden als Begriffe in das poetische System der Schrift als Metapher der Metapher integriert , wo sie mit Präzision und metaphorischer Evokationskraft zugleich im Sinne des universalisierenden Details den neuen poetischen Ort des Sprechenden sagen. Das neurologische Vokabular aber, das Teile des Gehirns nennt, wie „Kommissur“, „Ozellen“, „Hirnlappen“ und besonders immer wieder die Regionen, auf die der äußere Lichtreiz wirkt, z.B. „Sehpurpur“, „Fibrillen“ — dieses Spezialvokabular aus der Neurologie läßt deutlich erkennen, daß Celan sich seit der Wende in seiner Lektüre auch theoretisch mit der Frage nach der Entstehung der Bilder im Unbewußten beschäftigt. Auf zwei ganz verschiedenen Wegen, wissenschaftlich und poetisch, versucht er, sich dem Ursprung der sich ständig bewegenden, immer neue Gestalten annehmenden Bilder zu nähern, oder genauer ausgedrückt, während er sich ihnen wissenschaftlich anzunähern versucht, sagt und schafft er sie bereits als Ursprung in seiner Schrift.
Nach der Atemwende ist Celan bei den Fadensonnen angelangt. Es ist bezeichnend, daß das Titelgedicht dieses Gedichtbandes von 1968 bereits in dem Band Atemwende und hier sogar im ersten Zyklus steht.

FADENSONNEN
über der grauschwarzen Ödnis.
Ein baum-
hoher Gedanke
greift sich den Lichtton: es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.

Celan ist bereits in Atemwende bei einem Sprechen „jenseits / der Menschen“ angekommen.
Die Situation erinnert an die Hölderlins in dem früher zitierten Gedicht „Tübingen, Jänner“. Auch er befand sich dort abseits von den Menschen, war ihr – Celans – Orientierungspunkt. Celan sieht die Parallele und gibt, so scheint es, von hier aus noch einmal eine Antwort auf Hölderlins Spätlyrik, die für ihn, wie es sich spätestens jetzt zeigt, eine wahre Herausforderung bedeutet. Wie der große Vorgänger sucht Celan eine Sprache, um das ursprünglich Reine, das Reine des Ursprungs zu sagen. Nahm er sich in „Tübingen, Jänner“ dem großen Vorbild gegenüber jedoch noch in konditionaler Form zurück, fühlte er sich ihm noch nicht gewachsen:

(…)
Käme,
käme ein Mensch,
käme ein Mensch zur Welt, heute, mit
dem Lichtbart der
Patriarchen: er dürfte,
spräch er von dieser
Zeit, er
dürfte
nur lallen und lallen,
(…),

so zögert er jetzt nicht mehr, sich als seinen Nachfolger zu verstehen. Jetzt ist es soweit: „Es kommt ein Mensch“:

GIVE THE WORD
Ins Hirn gehaun – halb? zu drei Vierteln? –,
gibst du, genächtet, die Parolen – diese:

„Tartarenpfeile“.
aaaaaaaa  aaaaa„Kunstbrei“.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa„Atem“.

Es kommen alle, keiner fehlt und keine.
(Sipheten und Probyllen sind dabei.)

Es kommt ein Mensch.

Weltapfelgroß die Träne neben dir,
durchrauscht, durchfahren
von Antwort,
aaaaaaaaaaaAntwort,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaAntwort.
Durcheist – von wem?
„Passiert“, sagst du,
aaaaaaaaaaaaaaaaa„passiert“,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa„passiert“.

Der stille Aussatz löst sich dir vom Gaumen
und fächelt deiner Zunge Licht zu,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaLicht.

Der „Mensch“, Celan, hat die „Antwort“; in der „Träne“, die jedem Schicksal gilt, liegt sie; die „Träne“, die implizit vor dem Gedicht als verfestigt gedacht werden muß, wie das verhärtete Wort, aber nun schon, mit dem Beginn des Gedichtes, durch das Sprechen, „durcheist“ ist, durchschritten, „passiert“ – und damit ist es auch „passiert“, denn sie hat sich gelöst – liegt wörtlich weiträumig neben dem Sprechenden –, wie sich in demselben Augenblick auch die Zunge löst und sibyllinisch-prophetenhaft, sprachlich dargestellt in der sibyllinischen Lautverkehrung, das „Rätsel“ des „Reinentsprungene(n)“ sagen kann, als „Licht“.
In den Fadensonnen leuchtet der „Lichtbart der Patriarchen“ wieder neu auf. Aber dunkel spricht der „baumhohe Gedanke“ den „Lichtton“ aus. Das Unbekannte sagt sich als ebendieses Unbekannte. Dunkel scheint es als „Licht“ hindurch, ist „schwarzdiaphan“, der Faden stellt sich in gleicher Weise vor die Sonnen, wie einst das Gitter die ursprüngliche Sprache verstellte. Von ferne spiegelt sich das „Sprachgitter“ im Bild der „Fadensonnen“.
Erinnerungsreste, Gelesenes, „Traumrelikte“ vermischen sich zu einem „unbeirrbar-geheime(n) Gewühl“, in dem die Bilder plötzlich auftauchen, anschießen, von oben, von vorne, rücklings, blindlings, querdurch; das Gehirn ist ein weiter Raum, der sich in dem Faden der Schrift weitet, öffnet, von ihr durchdrungen wird, durch den der Atem des Wortes zieht. Der Faden ist durchfadmet und durchzieht so die Bilder des Unbewußten, er ist „aschendurchfadmet“. Der zunächst mutwillig dunkel erscheinende Neologismus stellt sich als äußerst motivierte Neubildung heraus; der Atem, das Wort, ist dem in Gedenken an die vielen Aschen Sprechenden zum fadenhaft engen und dünnen Ort geworden. Aber die Teile öffnen sich einander, durchdringen sich, es wird geräumig, Luft, „Atem“, zieht durch sie hindurch, und so halten sie sich gegenseitig in einer in sich ruhenden Kreisbewegung als neuer Ort, neues Wort, aufrecht.
Hatte Celan einmal gesagt, daß das Gedicht aus lauter ersten Versen bestehe, so kann man jetzt noch radikaler formulieren und sagen, daß jedes Wort , und in besonders auffälliger Weise jeder Neologismus ein ganzes Gedicht für sich ist.
An dieser „irdisch-unsichtbare(n) / Freistatt“, die das Gedicht „Die teuflischen Zungenspäße“, dem das Zitat entnommen ist, u.a. in anschaulicher Weise vorstellt, fühlt sich Celan frei. In den ständig neuen Bildern erkennt er sich als den ursprünglichen Menschen, den Menschen, der seine historische Erfahrung im wörtlichen Sinne verarbeitet, „verortet“ und „entwortet“ hat. Und dennoch, er bleibt sich bewußt, daß doch alles „rund um die Wunde“ geschieht. Die Schwermut ist der Auslöser, sie ist der Preis, den er um seiner wiedergewonnenen reinen, vorhistorischen Menschlichkeit zu zahlen bereit ist. Bitterer Sarkasmus trifft jene, die in den psychiatrischen Kliniken, in denen er sich in den letzten Jahren verschiedentlich aufgehalten hatte, versuchen, ihn, wie er sagt, umzuschulen, wieder zu einem „er“ umzubilden. Vernichtende Ironie versteckt sich hinter den lapidaren Versen des hier evozierten Gedichtes „Hörreste, Sehreste“, denn man weiß ja, „er“, das bedeutet gerade die Bezeichnung der Nicht-Person, den Menschen zu einem „er“ umformen heißt ihn zum Objekt umfunktionieren.
Ex negativo gibt Celan hier zu verstehen, daß für ihn der poetische Zustand notwendig ein melancholischer Zustand ist. Das soeben anzitierte Gedicht ist bereits dem folgenden Gedichtband Lichtzwang von 1970 entnommen. Wie alle Titel kann auch dieser programmatisch gelesen werden. Der weit außerhalb liegende Ort des „Allverwandelnde(n)“ hat sich durch die „Fadensonnen“ hindurch freigesprochen, steht nun in gleißender Helle, die nur noch ihn selbst zeigt. In den „Wahngänger-Augen (…) / münden die übrigen Blicke“. Aber die Helle ist tödlich: sie entfernt von den übrigen Menschen:

(…)
Unzählbarer du:
um ein Unzeichen
bist du ihnen allen
voraus.

Die Meile, von der wir am Ende des ersten Teils sprachen, hat ihr Maß bekommen; „unüberholbar“ ist er geworden. Die Helle entfernt auch von Gott, und sie entfernt von „ihr“, der „Schwester“. Man versteht jetzt, warum „sie“ seit der Wende so stark in den Hintergrund getreten ist; Celan erkennt sie nur noch von weitem. Das Gedicht „Wir lagen“, das Titelgedicht, spricht es aus:

WIR LAGEN
schon tief in der Macchia, als du
endlich herankrochst.
Doch konnten wir nicht
hinüberdunkeln zu dir:
es herrschte
Lichtzwang.

Ein anderes Gedicht wiederholt den Gedanken der durch das grelle Licht verhinderten Begegnung. Es sei hier als das sanfteste Gedicht Celans, das mit seinem schlichten, natürlichen Ton in die Reihe der großen Liebesgedichte der Weltliteratur zu stellen ist, zitiert:

ICH KANN DICH NOCH SEHN: Ein Echo,
ertastbar mit Fühl-
wörtern, am Abschieds-
grat.

Dein Gesicht scheut leise,
wenn es auf einmal
lampenhaft hell wird
in mir, an der Stelle,
wo man am schmerzlichsten Nie sagt.

Das gleißende Licht trennt ihn schließlich auch von sich selbst; den „Felsen“, auf den er gesetzt hat, glänzt es zutode – und er geht auf/unter im Pflanzenreich, in den Welten, im Universum. Irdisches und Himmlisches vermischen sich. Das Wort ist wortwörtlich zu einer universalisierenden Signifikanz gelangt, in der es die Metamorphose des Subjekts durch das Universum hindurch sagt, wie z.B. in dem Gedicht „Was näht“ aus dem letzten von Celan zusammengestellten Gedichtband Schneepart (1971).
Wie der Gedichtband Atemwende mit den Fadensonnen durch das Titelgedicht eng verknüpft ist und diese die gleißende Helligkeit des „Lichtzwang“ gleichsam herbeiziehen, so geht auch dieser Band fast nahtlos ohne eine spürbare Unterbrechung in den folgenden über. Celan steht auch hier in dem „kosmische(n) Umlauf-Geschau“; hier „weiß“ er; „für immer“, so klingt es wiederholt in den ersten Gedichten des Bandes nach; hier hat sich die „Antwort“ gefestigt, in der „expatriierten / Bedeutung“, denn alles ist ja „vergleichnist“. Auch die ungeheure Einsamkeit hat er in diesen Band mit herübergetragen. Sie ist absolut, die Welt liegt neben ihm, er trägt eine „Fremdheit“, aber selbst diese nur „zu Lehen“, so daß er letztlich selbst nichts besitzt, nichts ist:

(…)
die bildersüchtige blanke
Rolltreppe
kann dich nicht spiegeln.

Er ist nur noch „etwas wie“, „etwas Zusammengewehtes“ – aus „keinerlei Stoff“.
Er befindet sich an der äußersten Grenze der „zu befahrene(n) Meile“. Aber hier wird er zurückgeworfen. Er stößt sich an den Grenzen der absoluten Zeit- und Raumlosigkeit. „Die Ewigkeit hält sich in Grenzen“. Selbst das „kosmische Umlauf-Geschau“ eröffnet doch wiederum nur „Binnenland-Horizonte“, wirft den Menschen auf sich selbst zurück. Immer wieder begegnen sich in Celan Unendlichkeit und Einzelnheit.
Da aber zeigt sich doch eine Veränderung gegenüber den vorherigen Gedichtbänden. Der Ort, an dem er sieh befindet, die äußerste Tiefe – Celan ist in der eigenen Tiefe des Unbewußten immer noch tiefer getaucht – ist eine Schnee- und Eislandschaft geworden. Wieder ist der Titel Programm, welches das Titelgedicht formuliert:

SCHNEEPART, gebäumt, bis zuletzt,
im Aufwind, vor
den für immer entfensterten
Hütten:

Flachträume schirken
übers
geriffelte Eis;

die Wortschatten
heraushaun, sie klaftern
rings um den Krampen
im Kolk.

Sein Part, nämlich sein Ort, der ja auch seine Rolle, seine Lebensrolle ist (vgl. den ersten Teil dieser Darstellung), sind die einer Eislandschaft. Wohl taucht das Bild der Kälte und des Schnees auch in den unmittelbar vorausgehenden späten Gedichtbänden auf, die damit durch eine weitere gemeinsame Verbindungslinie verknüpft sind, aber es ist doch der „Vorfrost“, den er spürt, es ist nur „vorbewußt-kühl“ um ihn geworden. Eher als an die unmittelbar vorhergehenden Gedichte erinnert der Schneepart an das „Schneebett“ aus dem früheren Band Sprachgitter und läßt damit eine Verbindung mit dem ersten Teil des Celanschen Werkes erkennen. Aber wie hat sich der Ort verändert! Schon ein kurzer Vergleich allein zeigt den weiten Weg, den Celan seitdem zurückgelegt hat :

SCHNEEBETT
Augen, weltblind, im Sterbegeklüft: Ich komm,
Hartwuchs im Herzen.
Ich komm.

Mondspiegel Steilwand. Hinab.
(Atemgeflecktes Geleucht. Strichweise Blut.
Wölkende Seele, noch einmal gestaltnah.
Zehnfingerschatten — verklammert. )

Augen weltblind,
Augen im Sterbegeklüft,
Augen Augen:

Das Schneebett unter uns beiden, das Schneebett.
Kristall um Kristall,
zeittief gegittert, wir fallen,
wir fallen und liegen und fallen.

Und fallen:
Wir waren. Wir sind.
Wir sind ein Fleisch mit der Nacht.
In den Gängen, den Gängen.

Hier die Nähe menschlicher Gestalten, Gemeinschaft, „Blut“ und „Tod“ zwar auch, aber auch „Seele“ und die Vereinigung schließlich mit der nahen Gestalt, und überall die Sicherheit ausstrahlende Dunkelheit, das den Tod sagende und damit ihn auch schon überwindende, vereinigende oxymorontische Wort, dessen „Dämmer“ jetzt, da „Lichtzwang“ herrscht, fehlt. Nun gibt es überall nur grelles Weiß, Schnee, und die Landschaft ist zu Eis verhärtet. Es ist gleichsam der harte Boden, auf den er in Fortführung des Gedichtes „Schneebett“, in Fortführung seiner Schrift gefallen ist. Man meint geradezu den Aufprall auf die Eiseshärte zu spüren – es ist der Choc der Schrecksekunde, die das Gedicht „Die Silbe Schmerz“ sagt. Menschenleer ist jetzt die Gegend, eine Öde, in der er ohne Obdach lebt. Das „Schneebett“ gibt es auch nicht mehr, er hat nur noch den Wind, sich anzulehnen. Schon früher hatte Celan einmal gesagt :

(…)
härter als ich
lag keiner am Wind,

keinem wie mir
schlug die Hagelbö durch
das seeklar gemesserte
Hirn.

Auch die Tätigkeit hat sich verändert. Wurde er einst vom Wort angezogen, brauchte er sich nur fallen zu lassen, so liegt jetzt selbst die Arbeit des „Schreiner(s“) weit zurück. Jetzt ringt er, ein dem Wetter ausgesetzter Schwerstarbeiter, um die Sprache, müht sich, den zu Eis verhärteten Boden Stück um Stück, Wort um Wort, zu bearbeiten, versucht die nur leicht angerauhte Oberfläche aufzureißen, um dadurch die Traumbilder in ihrer schnellen Bewegung aufzuhalten und sie sichtbar zu machen. Das Gedicht als Unterbrechung, Bewußtwerdung des Unbewußten – auch dieses Poem ist ein Metagedicht. In den „Wort schatten“ sagt sich das Wort wieder als Metapher der Metapher, und man kann in dem Bild von ferne einen neuen Orpheus-Gang aufleuchten sehen, den Celan geht. Aber er kehrt nicht zurück, denn er suchte nicht die einzelne, er suchte das ursprüngliche Reich selbst, um es zu sagen und im Sagen festzuhalten.
Er hat es in seiner Tiefe durchschritten, ist auf seine Grenze gestoßen, hat den Raum gesagt und seine Bilder und hat auch von seiner Zeit gesprochen, die innehält „bei dir“. Es ist eine Zeit, die keine Zeit ist, nicht meßbar ist, ein ewiges „Nie“.
Offensichtlich war es Celans Intention, nach dem Band Schneepart den Zeitaspekt zentral aufzunehmen und ihn in einem neuen poetischen Bild affirmativ zu veranschaulichen. Diese Vermutung wird durch den Titel gestützt, den er selbst dem ersten der drei hinterlassenen Konvolute gegeben hatte und der als Titel für den gesamten 1976 posthum veröffentlichten Band übernommen wurde. Zeitgehöft – nur scheinbar ist das zweite Nomen des Neologismus mit dem geläufigen Wort ,Gehöft‘ identisch. Der Begriff ist innerhalb des poetischen Systems der Schrift Celans zu verstehen, und hier erinnert er nurmehr an das bekannte Wort, ist nur seine Metapher, sieht nur wie jenes ,Gehöft‘ aus, ist aber tatsächlich eine Neubildung, die abgeleitet wurde von dem insgesamt dreimal auftretenden Bild „Zeithof“. Es erscheint zum erstenmal in dem Band Lichtzwang, dann wieder in Schneepart und schließlich in pluraler Form im Zeitgehöft-Band selbst. Die dreimalige Verwendung aber zeigt, daß das Wort nicht mit dem Hof als Gehöft zu verbinden ist. Vielmehr evoziert es im jeweiligen Kontext einen mehr oder weniger weiten, offenen Raum, der in den zwei letztgenannten Gedichten an den Hof des Mondes erinnert. „Gehöft“ faßt als eine Neubildung diese sich in verschiedenen Bildern konkretisierende formale Raumvorstellung als eine Einheit zusammen.
Der Raum hat in dieser Zeitdimension eine Entgrenzung erhalten, die er in den vorausgehenden Gedichten nicht besaß. Dort hielt sich ja selbst noch die Ewigkeit in Grenzen. Jetzt hingegen tut sich mit dem „Leertext“, dem sich ständig zurücknehmenden Wort, auch das „Zeitloch“ auf. Der gesuchte „Ungrund“ ist gefunden, Celan tritt „hinter die Welt“, „weit über die Grenzen“ hinaus. „Die eine, noch / zu befahrene Meile“ ist durchmessen – überschritten.
In diesem Augenblick tritt das Bild des Todes, seines Todes, auf, der sich schon einmal so aufdringlich in Lichtzwang zeigte, aber zögerte; es gab noch einen „Splitter Leben“. Jetzt ist auch dieser ausgetragen:

wir sind bereit,
das Tödlichste in uns zu tauschen.

Schrieb Celan mit dem Gedicht, dem das Zitat entnommen ist, sein Abschiedsgedicht?

IN DER FERNSTEN
Nebenbedeutung, am Fuß der gelähmten
Amen-Treppe:
die kahlgeplünderte
Phase Dasein,

nahebei, in der Gosse,
nudeln noch
Sprüche,

traumfaserverstärkt das Profil
der Schlafausscheidung,
an ihrer einen
herztätigen Schläfe
bildet sich Eis,

kein Buch schlägt sich auf,
das Übernichts hat sich
zu mir geschlagen,
es gibt seinen Kampf auf,
im Eis,

wir sind bereit,
das Tödlichste in uns zu tauschen,

der Dorn, der das Freizeichen gab,
steigt durch die Wiegen,

hinter der Stechuhr verschenkt sich
die wahnfeste Zeit.

Ist es Zufall, daß Celan in dem Augenblick, da sein Wort die letzten Grenzen einreißt und er von der Zeit davongetragen wird, seine „wahnfeste Zeit“ verschenkt?
Wir möchten bei der Frage innehalten, wir wissen es nicht. Was wir hingegen wissen und was die Poesie Paul Celans in unerwarteter und neuer Weise zeigt, ist, daß es ein menschliches Wissen gibt hinter dem Wissen, welches nur im Besitz der Dichter ist und das ihr Wort uns sagt.

Sieghild Bogumil, Neue Rundschau, Heft 1, 1983

Wir leben unter finsteren Himmeln

[…]1
Eines Tages, es dürfte im Januar 1948 gewesen sein, war in der Redaktion des Plan ein junger Mensch mit schmalem Gesicht und dunklen, traurigen Augen erschienen. Er sprach mit leiser Stimme, wirkte bescheiden, verhemmt, beinahe furchtsam. Es war Paul Celan. Er machte einen verhungerten und abgerissenen Eindruck, denn er hatte sich, zum Teil auf langen Fußmärschen, über Ungarn nach Wien durchgeschlagen. Die stalinistische Atmosphäre hatte ihm Rumänien verleidet – er wollte nicht noch einmal ins Lager oder schweigen müssen. Seine Art zu dichten und zu theoretisieren hätte bestimmt nicht in das Milieu des „Sozialistischen Realismus“ gepasst. Neben Gedichtmanuskripten brachte er auch einen an mich gerichteten Brief Margul-Sperbers mit, aus dem die wichtigsten Sätze zitiert seien:

Ohne Ihrem gewiß zuständigeren Urteil vorzugreifen, möchte ich Ihnen doch gerne sagen, daß Paul Celan der Dichter unserer westöstlichen Landschaft ist, den ich ein halbes Menschenalter von ihr erwartet habe und der diese Gläubigkeit reichlich lohnt. Celan hat ausschließlich hier in Rumänien, also in einer nichtdeutschen Sprachumgebung gelebt. Aber seine Gedichte scheinen zu beweisen, daß es einen erlauchten Geist der Sprache gibt, der nicht auf den lebendigen Umgang von Mund zu Mund angewiesen ist. Sein Werk erscheint mir unter allen Äußerungen der jüngsten deutschen Dichtergeneration die eigenartigste und unverwechselbarste; es gibt sich dem Leser allerdings nicht leicht und fordert liebende Aufgeschlossenheit, Bereitschaft und Hingabe. Nicht nur, daß die Begebenheiten seiner Dichtung in einem mystischen Raum spielen – das Licht, das darin waltet, entstammt geradezu einem anderen Spektrum –: auch die poetische Wirklichkeit ist transfiguriert, es ist sozusagen der Astralleib dieser Wirklichkeit, was uns begegnet. Das Emotionale, Sonore, Visionäre, alles hat versetzte Vorzeichen, die Assoziation ist die Assoziation des Traums, die (auch sprachliches) Neuland abtastet. Ich für mein Teil glaube, daß Celans Gedichte das einzige lyrische Pendant des Kafkaschen Werkes sind…

Vielleicht wäre dem noch hinzuzufügen, dass in dieser frühen Lyrik Celans ein biblischer Ton und die Schwermut rumänischer und ukrainischer Volkslieder unüberhörbar sind. Auch schien mir das eine oder andere Gedicht etwas Balladeskes zu haben – allerdings nicht im üblichen Sinn einer pastos aufgetragenen dramatischen Erzählung, sondern als feiner, gleichsam erinnerter Anklang, wie eine unwirkliche Struktur verschollener Epik. Seit Trakl hatte kaum mehr ein Dichter einen so großen Eindruck auf mich gemacht. Im Plan habe ich, als erster im Westen, Paul Celans Gedichte gedruckt. Fast gleichzeitig veröffentlichte Max Rychner in der Neuen Zürcher Zeitung Gedichte Celans, die Margul-Sperber ihm geschickt hatte.
Einer der Mitarbeiter des Plan, der surrealistische Maler Edgar Jené, gebürtiger Saarländer und damals Wahlösterreicher, nahm sich Celans in wahrhaft brüderlicher Weise an, beherbergte ihn in seinem Atelier am Althanplatz und brachte auch die erste Buchveröffentlichung zustande. Der Sand aus den Urnen, im Verlag A. Sexl, Wien, erschienen, zählt heute zu den bibliophilen Seltenheiten. Und eine ebensolche ist das etwas später in Rochowanskis Agathon-Verlag, Wien, herausgekommene Werk Edgar Jené, Der Traum vom Traume, dessen Herausgeber Celan und ich waren. Aus der Jené gewidmeten lyrischen Phantasie Celans, die an die Halluzinationen der „Illuminations“ von Rimbaud erinnert, mögen hier einige Stellen folgen:

Ich soll ein paar Worte sagen, die ich in der Tiefsee gehört habe, wo so viel geschwiegen wird und so viel geschieht. Ich schlug eine Bresche in die Wände und Einwände der Wirklichkeit und stand vor dem Meeresspiegel. Ich hatte eine Weile zu warten, bis er zersprang und ich den großen Kristall der Innenwelt betreten durfte. Mit dem großen unteren Stern der ungetrösteten Entdecker über mir, folgte ich Edgar Jené unter seine Bilder…
Oft haben wir als Wache geschworen: im heißen Schatten ungeduldiger Fahnen, im Gegenlicht des fremden Todes, am Hochaltar unserer heiliggesprochenen Vernunft. Und wir haben unsere Schwüre auch gehalten, um den Preis unseres heimlichen Lebens, aber als wir dorthin zurückkehrten, wo wir sie geleistet – was mussten wir sehen? Die Farbe der Fahne war noch dieselbe, der Schatten, den sie warf, sogar größer als zuvor. Und wieder hob man die Hand zum Schwur. Aber wem gelobte man jetzt Treue? Dem Anderen, dem, dem wir Hass geschworen. Und der fremde Tod? Er hatte recht, so zu tun, als hätte er unserer Schwüre überhaupt nicht bedurft. Am Hochaltar endlich stand ein Hahn und krähte…

In diesem Buch, das in einer Auflage von 700 numerierten Exemplaren erschien, findet sich eine Zeichnung Jenés, „Todesfuge“ betitelt. Dieses Blatt scheint als Illustration zu Celans gleichnamigem, berühmtestem Gedicht gedacht gewesen zu sein.
Im Winter 1948 übersiedelte Celan nach Paris. Jené hatte ihn an André Breton empfohlen, und der Papst des Surrealismus nahm ihn freundlich auf, auch lernte er das Ehepaar Claire und Yvan Goll kennen. In seiner bescheidenen Wohnung, 78 Rue de Longchamp, lebte er, umgeben von Büchern, das stille, zurückgezogene Leben eines Poeten und Gelehrten. […]
Aus dieser Einsamkeit und heiligen Scheu heraus versuchte er immer vehementer, ins Unsagbare vorzustoßen – dem Hölderlin der späten Hymnenbruchstücke ähnlich. Bei unserem letzten Rendezvous vor fünf Jahren in Paris war eine solche Einsamkeit um ihn – obwohl wir uns mitten unter Menschen, im gesteckt vollen Deux Magots am Boul’ Mich’ getroffen hatten –, dass man dies sogar physisch spürte. Und obwohl manchmal ein Lächeln über sein noch immer schönes Gesicht huschte, blickten einen die Augen mit jener – man möchte sagen: urjüdischen – Traurigkeit an, die mich schon bei unserer ersten Begegnung so sehr berührt hatte. Mit Verbitterung sprach er von der Plagiatsbeschuldigung, die Claire Goll nach dem Tod ihres Mannes gegen ihn erhoben hatte, und die in Deutschland zu einer „Affäre“ aufgeplustert worden war. Celan fühlte sich überhaupt ständig verfolgt. War es nicht eine neidische Witwe, die mit lächerlichen Unterstellungen hausieren ging, so war es der Antisemitismus. Das KZ hatte ein unauslöschliches Brandmal in seiner Seele hinterlassen, er konnte – einfach aus Angst – nicht vergessen, und es war ihm unmöglich, aus diesem Angstdickicht auszubrechen. Ich verließ Celan damals mit der Überzeugung, dass er an Verfolgungswahn litt und sich sein Zustand verschlechtert hatte. […]

Otto Basil, in Literatur und Kritik, (Salzburg), 6/52, 1971

 

Hans Mayer: Erinnerung an Paul Celan, Merkur, Heft 272, Dezember 1970

 

PAUL CELAN

Dein aschenes Haar Sulamith
Sandschrift Rauchharfe
die Totenstille zwischen
den Silben
eine Nachricht aus
Czernowitz
die dunkle Angst des Bluts
Gänge an kleinen Flüssen
die Ile de France
Licht Lichtzwang
ein Aufschrei aus Helle
ein kleiner Tod
Kreise im Wasser
und der ferne Name Antschel
den der Abend
von einem kleinen Grabstein wäscht

Hans Dieter Schmidt

 

 

 

Paul Celan: Dichter ist, wer menschlich spricht. Ein Film von Ulrich H. Kasten und Hans-Dieter Schütt mit Eric Celan und Bertrand Badiou.

 

Gerhart Baumann hielt seinen Vortrag Paul Celan: Um-Wege zu sich und die offene Frage des Gedichts auf der Tagung Vom Sinn moderner Lyrik am 23. Januar 1971 im Haus der Katholischen Akademie in Freiburg.

 

 

Niemand zeugt für den Zeugen. 100 Jahre Paul Celan. Literarische Soirée am 30.9.2020 im Haus am Dom Limburg.

 

„wir wissen ja nicht, was gilt“ – Paul Celan zum 100. Geburtstag

 

Ein Abend zu Paul Celan am 18.5.2020 im Literaturhaus Berlin mit Hans-Peter Kunisch und Thomas Sparr. Es moderiert Eveline Goodman-Thau.

 

Paul Celan, Czernowitz & die „Todesfuge“. Helmut Böttiger berichtet.

 

Erreichbar, nah und unverloren. Reisen zu Paul Celan. Teil 1. Gespräch mit Helmut Böttiger.

 

Todesfuge – Biographie eines Gedichts. Alexander Suckel im Gespräch mit Thomas Sparr am 17.4.2020 im Literaturhaus Halle.

 

„Ästhetik und politische Dimension der Dichtung Paul Celans“. Mit Helmut Böttiger, Thomas Sparr und Monika Rinck; Moderation: Dieter Stolz am 23.11.2020 im Literaturforum im Brecht Haus.

 

Paul Celan in Europa – Videogespräch am 22.9.2020 im Rahmen der trilateralen Forschungskonferenzen 2020–2023 in der Villa Vigoni.

 

Paul Celan übersetzen – Gabriel Horatiu Decuble im Gespräch mit Ton Naaijkens und Alexandru Bulucz, Moderation Ernest Wichner am 6.11.2021 im Literaturhaus Halle im Rahmen der Tagung „Was setzt über, wenn Gedichte übersetzt werden“.

 

Clément Fradin, Julia Maas und Michael Woll stellen Paul Celans Bibliothek im Deutschen Literaturarchiv Marbach vor.

 

„Die Todesfuge. Zur Biographie eines Gedichts im Archiv“ – Thomas Sparr im Gespräch mit Jan Bürger, Kai Uwe Peter und Michael Woll

 

Michael Woll stellt Paul Celans Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach vor. Im Mittelpunkt stehen dabei die Hölderlin-Bezüge in Celans Texten.

Zwischen „Grabschändern“ und „Linksnibelungen“. Wolfgang Emmerich im Gespräch mit Michael Braun über Paul Celans Verhältnis zu Deutschland und seinen deutschen Kritikern.

Carolin Callies, Ann Cotten, Daniela Danz, Aris Fioretos, Norbert Hummelt und Rainer René Mueller kommentieren Paul Celans Gedicht „Was es an Sternen bedarf“.

 

 

Paul Celan liest Gedichte in Jerusalem am 9.10.1969

Zum 50. Todestag des Autors:

Daniel Jurjew / Klaus Reichert: Paul Celan: Ich sehe seine Hellsichtigkeit, bei anderem denke ich einfach: er übertreibt
Frankfurter Rundschau, 19.4.2020

Gregor Dotzauer: Das Eigene und das Andere
Der Tagesspiegel, 19.4.2020

Susanne Ayoub: Es ist Zeit, dass es Zeit ist
Der Standart, 19.4.2020

Sandro Zanetti: Akute Dichtung: Celans Zumutungen
Geschichte der Gegenwart, 19.4.2020

Friederike Invernizzi: Sprechen zwischen Wunde und Narbe
Forschung & Lehre, 19.4.2020

Frank Trende: Die bewegende Geschichte der Todesfuge
shz.de, 19.4.2020

Dunja Welke: Paul Celan – Ein zerrissener Dichter
RBB, 18.4.2020

Stefan Lüddemann: Paul Celan, Dichter des Holocaust, starb vor 50 Jahren
Neue Osnabrücker Zeitung, 19.4.2020

Shmuel Thomas Huppert: Erinnerungen an Paul Celan
SR 2, 26.2.2020

Christoph Bartmann: Ein Riss, der nicht zu heilen war
Süddeutsche Zeitung, 20.4.2020

Christine Richard: Ein Leben, immer nahe am Untergang
Tages-Anzeiger, 20.4.2020

Anton Thuswaldner: „Die Welt ist gegen mich losgezogen“
Salzburger Nachrichten, 19.4.2020

Klaus Reichert im Gespräch mit Niels Beintker: Erinnerungen an Begegnungen und Gespräche mit Paul Celan
BR24, 20.4.2020

Rüdiger Görner: Asche atmen: Zu Paul Celan
Die Presse, 23.4.2020

Marko Martin: Paul Celan und die „Linksnibelungen“
Welt, 27.4.2020

Evelyne Polt-Heinzl: Paul Celan Ein Migrant in Wien
Die Furche, 8.4.2020

 

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Andreas Wirthensohn: Todesklage für die Überlebenden
Wiener Zeitung, 21.11.2020

Klaus Demus: „Eine sehr große Freundschaft“
literaturoutdoors.com, 22.11.2020

Claus Löser: Fünf Filme für Paul Celan
Berliner Zeitung, 21.11.2020

Krisha Kops: Paul Celan: Dichter, Überlebender, Heimatloser
Deutsche Welle, 22.11.2020

Ulf Heise: Lyrik als Flaschenpost
Freie Presse, 22.11.2020

Susanne Ayoub: Paul Celan: Verlust der Heimat, Trauer um die Eltern
Der Standart, 22.11.2020

Wolf Scheller: Was nicht gesagt, nur angedeutet werden kann
Der Standart, 23.11.2020

Andreas Montag: Dichter Paul Celan – Der Schleier des Herbstes
Mitteldeutsche Zeitung, 23.11.2020

Andreas Müller: Paul Celan – zum 100. Geburtstag
Wiesbadener Kurier, 23.11.2020

Stefan Kister: Unter die Deutschen gefallen
Stuttgarter Zeitung, 22.11.2020

Paul Jandl: Vielleicht war Paul Celan einmal ganz er selbst. Da spielte er die Dürrenmatts beim Tischtennis in Grund und Boden
Neue Zürcher Zeitung, 23.11.2020

Sabine Glaubitz: Er schrieb das Unsagbare auf: Nachkriegsdichter Paul Celan wäre heute 100 Jahre alt geworden
stern, 23.11.2020

Volker Weidermann: Ein Grab in den Lüften
Der Spiegel, 20.11.2020

Jochen Hieber: Im Höhenrausch mit Ingeborg Bachmann
Der Spiegel, 23.11.2020

Stefan Brams: Interview mit Thomas Sparr – Paul Celan stiftet zur Erinnerung an
Neue Westfälische, 23.11.2020

Helmut Böttiger: Die graue Sprache
Süddeutsche Zeitung, 22.11.2020

Helmut Böttiger: Auf der Suche nach einer graueren Sprache
Jüdische Allgemeine, 21.11.2020

Albrecht Dümling: Die Todesfuge in Tönen
Deutschlandfunk Kultur, 20.11.2020

Nikolaus Halmer im Gespräch mit Barbara Wiedemann: Paul Celan: „Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen“
Die Furche, 11.11.2020

Harald Seubert: Lieder jenseits der Menschen und kodierte Zeit: Paul Celan (1920–1970). Zum Gedenken
youtube.com, 15.6.2020

Celebrating Paul Celan: An Evening with Pierre Joris and Paul Auster
youtube.com, 21.11.2020

Stadtführung „Auf den Spuren von Paul Celan“
youtube.com, 10.9.2020

Paul-Celan-Literaturtage 2020. Videopräsentation vom Paul Celan Literaturzentrum Czernowitz

Ausstellung Paul Celan 100 – Unter den Wörtern

 

 

West-östliche Konstellationen. Internationale Tagung als hybride Veranstaltung im Lyrik Kabinett, München, sowie online.
Tagungskonzeption und -organisation: Prof. Markus May und PD Dr. Erik Schilling (Institut für deutsche Philologie der LMU München)
8.–9.10.2020

Eröffnung

 

Ambivalente Topographien. Rilkes Dritte Duineser Elegie und Celans „Walliser Elegie“

 

„West-östliche“ Lesarten im Jahrhundert nach Celan

 

Das Schweigen über Brücken. Orte Celans bei Robert Schindel

 

Abendvortrag: Todesfuge. Biographie eines Gedichts

 

„Wortaufschüttung“. Materialität als Indexikalität bei Paul Celan

 

Betreten. Zum Anfang von Engführung

 

Celans Draußen. Über reale und sprachliche Räume in seiner Dichtung

 

„Stimmen vom Galgenbaum“. Celans west-östliches Rotwelsch

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + ÖMIMDbKLG +
PCLZ + PCLZKanal + Archiv 1 & 2 + Internet Archive + Kalliope +
Georg-Büchner-Preis 1 & 2
Porträtgalerie: Keystone-SDA
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Nachrufe auf Paul Celan: Neue Literatur ✝︎ NZN



Paul Celans Todesfuge interpretiert von Diamanda Galas im Teatro Albeniz, Madrid, 15.10.2008.

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