Paul-Henri Campbell: Zu Diana Anfimiadis Gedicht „Helena“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Diana Anfimiadis Gedicht „Helena“ aus Diana Anfimiadi: Warum ich keine Gedichte schreibe

 

 

 

 

DIANA ANFIMIADI

Helena

Womit baut man eine Stadt?
Mit zwei Häusern, einer Straße,
mit Übergang, Türklingel, Türmatte.
Übersiedlung ist so unvermeidlich
Wie Reisverstreuung aus zerrissenem Sack.
Auf dem Feuer koch ich Schwefelbrei,
ich bewirte die Gäste,
um deine Spur
im Dampf zu verschleiern.
Was ist Krieg? Zwei Schwerter, ein Pferd.
Wenn du den Knoten meiner Haare von der Rüstung löst,
und du, Kind eines Gottes, die Eischale aufbrichst von innen,
werden sie dich alle ihre Frau und ihre Beute nennen.
Zehn Jahre Belagerung –
Zehn Falten meines Kleids.
Was ist eine Frau?
Zwei Brüste, eine Scheide: das bin ich.
All die Zeit, die ich auf diesen staubigen Wegen
Herumstreife wie die Schleppe eines Kleids,
ist nicht mehr
als ein Hexameter jenes Poems. Nur das.

 

Sind die russischen Panzer,

die 2008 kurz vor Tiflis in Stellung gebracht worden sind, nicht immer noch heute, 2021, dort in Stellung und belagern sie nicht die georgische Hauptstadt weiterhin? „Was ist Krieg?“ fragt die georgische Dichterin Diana Anfimiadi (*1982) und antwortet:

Zehn Falten meines Kleids.

Sicher, die permanente Einschüchterung der Menschen von Tiflis währt schon mehr als jene zehn Jahre, die die groben Griechen aus Agamemnons vielschiffiger Flotte vor dem noblen Troja zubrachten, und Tiflis ist ebenso wenig wie Kyiv oder Chișinău oder Tallinn ein modernes Troja, das von Barbaren bedroht wird, die sich für zivilisiert halten. Aber es gibt auch andere Fragen: „Womit baut man eine Stadt?“ oder: „Was ist eine Frau?“ Diese scheinbar einfachen in diesem Gedicht aufgeworfenen Fragen führt die Dichterin Anfimiadi durch ihr lyrisches Ich auf elementare Antworten zurück. Insgesamt lässt sich in ihrem von Nana Tchigladze und Stefan Monhardt ins Deutsche übersetzten Band Warum ich keine Gedichte schreibe eine Tendenz zum antikisierenden Motiv, eine gekonnte Aufnahme sakraler Sprachformen sowie eine Besinnung aufs Elementare beobachten. Der Band ist getränkt von Spuren georgischer Gegenwartserfahrung: die vom Aussterben oder Verinseln bedrohte Sprache handelt, die zwischen Gilgamesch und der Ilias am östlichen Rand des „Skythischen“ oder Schwarzen Meer ihre mündige Eigenständigkeit behauptet; das Thema der Emigration, des Gefangenenaustauschs, aber auch allgemeinere Themen wie Liebe, inklusive Liebesverwirrungen, oder der Mutterschaft, inklusive Leihmutterschaft. Es findet sich auch ein Gedicht, das – wie ein 2018 entstandenes, illustriertes Märchenbuch – von einem autistischen Sohn inspiriert ist und dessen „Sprachfähigkeit“ zum Thema hat. Also nochmal:

Was ist Krieg?

Die elementare Herausforderung, die immer dort entsteht, wo alles auf dem Spiel steht. Und nochmal:

Womit baut man eine Stadt?

Die im Gedicht gegebene Antwort läuft auf einen Willkommensgruß, Begegnung und Gastfreundschaft hinaus:

Mit zwei Häusern, einer Straße
mit Übergang, Türklingel, Türmatte.

Tretet herein. Doch wer sollte das sein?

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 1, 2021

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