Paul-Henri Campbell: Zu Gerrit Achterbergs Gedicht „Euklid“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gerrit Achterbergs Gedicht „Euklid“ aus Hendrik Marsman / Gerrit Achterberg: Land ohne Ende. –

 

 

 

 

GERRIT ACHTERBERG

Euklid

In diesem Dasein bist du Streit und Fehl.
Um dich herum die Rundung und der Bogen,
an deinem Bilde außen gradgezogen,
so wurdest du zu allem parallel.

Die Zeit wurd ungelegen zwischen diesen
Geraden, schob aus deinem Leib den Raum.
Begriffe, die noch etwas von dir wissen,
erhalten zuviel Ziel, doch Mittel kaum.

Ich kann dich nicht mehr mit Euklid beschreiben,
benötigt doch dein kongruentes Bild
noch Punkte an unendlich fernem Ort.

Gleichwohl musst du auf jenem Beete bleiben,
wo im Gedicht von dir ein Abschlag gilt
in all der Weiße rund um jedes Wort.

 

Als sei das Sonett

noch der schwache Versuch, die klaren Axiome und die Proportionenlehre zu zelebrieren, die Euklid im dritten Jahrhundert in den dreizehn Büchern seiner Στοιχεῖα (Lehre der Bestandteile oder Elemente) definiert hatte. Im euklidischen Weltbild schien alles seinen wohlgeordneten Ort zu haben, war alles herzuleiten aus dem Fluchtpunkt der platonischen Idee. Aber wie die Mathematik scheint die Sprache widerspenstig, scheint sie zugleich präzise und fragwürdige Wissenschaft zu sein. Denn schon in der Übersetzung aus dem Niederländischen spielt die fließend gewordene Semantik dem Formwillen des Sonettisten einen Streich. Gerrit Achterberg (1905–1962) stellt in diesem Gedicht jedoch mehr zur Diskussion, als bloß die im 19. Jahrhundert stattfindende Zeitenwende von der euklidischen zur nichteuklidischen Geometrie. Später, in der Entstehungszeit von „Euclides“ (1948), wird bekanntlich durch Albert Einstein diese Kränkung jener alten Mathematik von Vitruv und dem Abt Suger von Saint-Denis abermals wiederholt werden. Der Calvinist Achterberg jedoch versteht, dass antike Geometrie immer auch Weltanschauung, auch Ideenlehre ist, sodass – einer zweiten kopernikanischen Wende gleich – mit diesem Gedicht auch Abschied von Platon bzw. dem Platonismus genommen wird: „benötigt doch dein kongruentes Bild / noch Punkte an unendlich fernem Ort“. Die ontologische Grundierung der Formen, Ordnungen und des Denkens scheint fort zu sein, obsolet. Doch die beiden Terzette hier sind keine Eulogie, sind weder Lamento noch Goodbye, vielmehr wendet der Niederländer Achterberg die Sinnrichtung hin zur konkreten, erlebnisbasierten, immer auch nichtrationalen Wahrnehmung des Menschen, womit er den eingangs angesprochenen Konflikt der menschlichen Situation – „in diesem Dasein bist du Streit und Fehl“ – spiegelt im memento mori: „wo im Gedicht von dir ein Abschlag gilt“. Andere Gedichte aus dieser Schaffensperiode tragen Titel wie „Punkt“, „Konvexe“, „Descartes“, „Spinoza“. „Streit und Fehl“ sind dem Dichter Gerrit Achterberg wohlbekannt, der die 1930er-Jahre überwiegend in psychiatrischen Kliniken verbrachte und 1937 sogar seine verwitwete Haushälterin erschießt und ihre sechzehnjährige Tochter mit einer Kugel schwer verwundet. Ist daher das verzweifelte Ringen um die Formfrage in diesem Gedicht, um elementare Ordnung, die Problematisierung der (erschütterten, rissigen, rutschenden) axiomatischen Fundamente der Welt nicht naheliegend?

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 2, 2017

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