Paul-Henri Campbell: Zu Granaz Moussavis Gedicht „Steinigung“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Granaz Moussavis Gedicht „Steinigung“ aus Granaz Moussavi: Gesänge einer verbotenen Frau. –

 

 

 

 

GRANAZ MOUSSAVI

Steinigung

Die Erde blieb und eine Arena
um neben den Steinen zu sterben
Wurf um Wurf zerrann die Frau
an ihren Schläfen Granatäpfel-Platzen. Plötzlich
blieb ihr von Polstern und Laken
nur im Gedächtnis Rhabarbergeschmack

 

Es ist nicht der Stein des Sisyphos,

der diese Autorin leiden lässt. Denn was die iranische Schriftstellerin und Filmemacherin Granaz Moussavi (*1974) hier inszeniert, ist eine viel lustvollere Pein, viel unmittelbarer, konkreter ist das Antlitz dieses Dämons. Moussavi entspricht gewiss dem westlichen Ideal einer selbstbewussten Frau: Sie ist eine global agierende Künstlerin, die mit unzähligen „gesellschaftskritischen“ Gedichten aus ihrem australischen Exil gegen die Unterwerfung von Frauen in ihrer Heimat aufbegehrt. Aber sie ist viel unbequemer als das. Wir sollten die Rebellion, die diesem Gedicht innewohnt, nicht allzu selbstverständlich zur Kenntnis nehmen. Hier liegt mehr vor als nur „Protestlyrik“. Unsere schwärmerische Auseinandersetzung mit dem „Orient“ von Goethe über Rückert zu Platen hat bereits unsere selektive Wahrnehmung von Hafis und Rumi verzerrt. Sollte sie unsere Lektüre von zeitgenössischen Schriftstellern aus dem Iran wie Ahmad Reza Ahmadi, Muhammad Ali Sepanlou oder Granaz Moussavi ebenso entstellen? Was bedeutet uns zum Beispiel das libidinöse Symbol des Granatapfels, wie wir ihn von Herodots Berichten über die Perserkriege her lesen? Informiert sich unsere Lektüre aus dem Strafmaß für Ehebruch im islamischen Recht oder finden wir darin einen emanzipatorischen Gestus des Widerstandes – Erinnerung als stille Revolte gegen den Steinschlag der Hybris? Schon in ihrem Film Tehran for Sale (2009) setzt Granaz Moussavi in harten Schnitten den hedonistischen Untergrund der iranischen Hauptstadt gegen gewalttätige Szenen weiblicher Unterdrückung. Stets scheint die eine Realität durch die andere verstärkt, stets erscheint die Lust greller auf angesichts ihrer Unterdrückung. Diese „Arena“ wird daher auch in diesem Gedicht zum Ort einer doppelt codierten Anklage: Der vordergründigen Strafe für lokale Rechtsnormen und ein Tribunal, welches das Gedicht ist, darin diese drakonische „Justiz“ selbst an den Pranger gestellt wird.

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 1/2017

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