Paul-Henri Campbell: Zu Najwan Darwishs Gedicht „Jerusalem (I)“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Najwan Darwishs Gedicht „Jerusalem (I)“ aus Najwan Darwish: Nothing More to Lose

 

 

 

 

NAJWAN DARWISH

Jerusalem (I)

Wir standen auf der Anhöhe
um dein Opfer zu erhöhen
und als wir sahen, die erhobenen Hände
sind leer,
erkennten wir,
wir sind dein Opfer

Lass die Sterblichen sinken
in die Hände von Sterblichen
Nur du allein bleibst
Die irrlichternde Pilgerreise
der Unbeständigen –
was geht sie dich schon an?

Hoch gehen unsere Hände, leer
Wir sind dein Opfer

(Aus dem Arabischen von Kareem James Abu-Zeid)

 

Einmal sitze ich in einem Café

am Galaterturm in Istanbul mit Najwan Darwish, der mit der Feierlichkeit einer japanischen Teezeremonie im Kaffeesatz für unsere türkische Gastgeberin liest: „Schläfst du gut?“, fragt er sie, in das kleine Tässchen starrend, „Ich sehe hier viel Unruhe“, oder „Du hast Kraft, aber nichts zu heben.“ Nach einer halben Stunde ist die intime Exegese unter Lächeln und Augenzwinkern beendet. Doch es bleibt die Aura einer Mantik, die oft zwischen scherzhaftem Spiel und zweifelhaftem Ernst kippt. Der international hochgelobte Dichter Najwan Darwish schlüpft gerne zwischen Selbstauslegungen und Selbstzuschreibungen hindurch. So identifiziert der 1978 in Jerusalem geborene Palästinenser sich auch als Einwohner Ammanns, als Kurde, als sephardischer Jude, als Araber, als Altägypter. In seinen Gedichten und Prosaschriften hat er dieses Gefühl der Entwurzelung, die eine gesamte Generation von jungen Menschen im Nahen Osten betrifft, zu einem poetischen Prinzip entwickelt. Seine intellektuelle Urteilskraft verknüpft diese Empfindung mit einem globaleren Verständnis postmoderner Erfahrung. Der 2014 erschienene Gedichtband Nichts mehr zu verlieren etwa bildet ein Kaleidoskop solcher Erfahrung in einem melancholischen Ton, den man sonst von den Confessional Poets wie Robert Lowell kennt. Gleichwohl finden sich darin beunruhigend schöne Variationen auf die abrahamitischen Schrifttraditionen, die etwa Christian Lehnert wie einen oberflächlichen Frömmler aussehen lassen. Die seltsame Debatte zwischen „autobiografischer“ und (angeblich) „imaginativer“ Stoffentwicklung beantwortet dieser Leser antiker Autoren nur mit einem müden Gähnen. Als Herausgeber des Kulturteils der panarabischen Zeitung Al Araby Al Jadeed (Der neue Araber) jedoch ist der Zögling einer Lateinschule bestrebt, einen internationalen humanistischen Dialog zu pflegen. Seine Poesie ist ein Kompass ohne Nordung, sein Blick ergreift keine Partei, sondern greift das auf, was als Gedicht eine Richtung zu weisen vermag, wie hier – dieser schmerzhaften Liebkosung seiner Geburtsstadt Jerusalem.

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 1, 2020

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