Paul-Henri Campbell: Zu Rosa Romojaros Gedicht „Der Strand“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rosa Romojaros Gedicht „Der Strand“ aus Rosa Romojaro: Theresa Hasslers Gedichte (Fragmente und Aschenes)

 

 

 

 

ROSA ROMOJARO

Der Strand

Dies schon geschriebene Buch vom Strand
mit Blick ins Offne auf den fernen Felsen da draußen.

(Es war nicht schwer, aufs offene Meer zu gelangen,
wie Orion auf dem Wasser zu laufen.
Und wir waren keine Riesen. Und es gab keine Angst.)

Agaven. Schilf. Sand wie Mehl
aus dem Fuder von Kindheit und Jugend.
Der Strand war das Ziel.
Eine Flucht gen Norden oder Osten.
Eine warme Bucht im Märzlicht.
Alle zusammen, klar. Zunächst.
Dann ohne einander. Dann dieser Mann in den Dünen,
und das noch zu schreibende
Buch des Lebens. Diesseits erneut
der Strand mit seinen Agaven, seinem Schilf,
dem bleiweißen Sand zwischen den Fingern.
Und dem Widerhall des Schiffbruchs
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaim Gedächtnis.

 

Die spanische Schriftstellerin,

Kritikerin und Literaturwissenschaftlerin Rosa Romojaro ist in fast allen Schreibweisen unterwegs: Sie ist zum Beispiel die Autorin von faszinierenden Untersuchungen zur Dramatik von Lope de Vega, in zahlreichen Essays eine kritische Beobachterin des kulturellen Lebens, mit Páginas amarillas veröffentlichte sie 1992 einen Roman und daneben unzählige Kurzgeschichten. Den Kern ihrer literarischen Tätigkeit allerdings sieht die 1948 in Algeciras geborene Dichterin naturgemäß im Gedicht – wie hier: am Strand, liebste Landschaft der lyrischen Anamnesen der Symbolisten. Sie eröffnet mit einer Sentenz und untermalt die Szene mit einer mythologischen Dimension, die den auf dem Wasser gehenden Orion, Sohn des Poseidon, ins Gedicht hereinbringt. So sehr jedoch die sinnlichen Elemente wie Agaven und mehliger Sand die Szene idyllisch zu stimmen scheinen, so liegt diesem Gedicht eine dunkle Erfahrung zugrunde. Denn wie auch die unterschiedlichen Fassungen des Orion-Mythos nur so von Vergewaltigungen und übergriffigen Augenblicken durchzogen sind, so wird dieses „schon geschriebene Buch vom Strand“ und diese „warme Bucht im Märzlicht“ plötzlich zu einem ungewissen, auch unheimlichen Ort, wo „Fuder der Kindheit und Jugend“ angespült wird. Plötzlich wechselt der lyrische Ton einige Zeilen lang ins Narrative: „Alle zusammen, klar. Zunächst“ und „dann dieser Mann in den Dünen“. Was immer der Inhalt dieser Erfahrung auch sein mag, das hier unauffällig, umwogt von idyllischen Strandeindrücken eingeführte Trauma findet auch in anderen Texten ihres Bandes erschreckenden und zugleich einfühlsamen Niederschlag, wie in dem Gedicht „Das schlaflose Mädchen“, darin es heißt:

Warum, warum,
sagte sie sich nachts immer wieder.
Für immer beschädigt,
ohne es zu wissen.
[…]
Mein Mädchen, das du
noch immer unter meiner Haut bist,
in einem Schoß aus Gischt.

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 2, 2021

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