Paul-Henri Campbell: Zu Rusudan Kaishauris Gedicht „Großmutter“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rusudan Kaishauris Gedicht „Großmutter“ aus Matthias Unger (Hrsg.): Die Kartoffelernte. –

 

 

 

 

RUSUDAN KAISHAURI

Großmutter

Großmutter stierte das Erblühen der Rosen
wie einen geilen Pornostreifen an.
Sie wurde kleiner
wie das Knäuel mit dem weißen Faden,
ich wurde mit Rosendornen gestrickt.
Nun ist sie in meinen Gedichten verstreut.
In den tausend Falten meines Kleides,
still zwischen Glasperlen
sitzt meine Großmutter,
dort hält sie sich versteckt.
Schon entsprießen graue Haare
meinem Schädel.
Für Großmutter sind meine grauen Haare
das komfortabelste Versteck.

 

Die 1957 geborene georgische Dichterin

Rusudan Kaishauri zeichnet in wenigen Zeilen das Porträt ihrer Großmutter aus Tiflis. Allerdings mit Neonfarben. In diesem Familienbildnis präsentiert sie ihren Lesern keine Anhäufungen von atavistischen Sentimentalitäten: Sie führt die geile Mütterchen-Lust an der Gedeihlichkeit vor, am unverschämten „Erblühen der Rosen“. Ein krasser Eingang. Sicherlich auch, nebenbei gesagt, eine Empfindung, die im lateinischen Westen Anlass zu unzähligen blütenschweren Maiandachten gab. Doch Porträtieren, das kommt von protrahere: Ein Hervorziehen der Linie aus dem Punkt, wie es die Maler sagen. Dieses inbrünstige und frohe Verlangen nach Leben erhält im Verlauf des Gedichts weitere Facetten: Die Greisin wird zunächst „kleiner“, worauf das Bild „Knäuel“ folgt sowie die eigenartige Zeile, darin sich das Subjekt des Gedichtes vorstellig macht: „ich wurde mit Rosendornen gestrickt“. Fallen wir über die Schwelle des poppigen, pornographischen Witzes nun hinein in die Grube des komplizierten, verhedderten Gangs des Lebens, auch des Todes? Und geschieht dies nur deshalb, um in den nächsten vier Zeilen ein Bild der Erinnerung und des Andenkens zu zeigen, wonach die Großmutter nah ist, sich sogar kindlich „versteckt“ im Kleid des lyrischen Ich? Rusudan Kaishauris Gedichte sind voller solcher Konteraktionen, emotionale Chiasmen, die sorglos zwischen der schockierenden Pornoanspielung zum anamnetischen Ernst übergehen. Im Abschluss dieses wundervollen Gedichtes wendet sich das Subjekt zu sich selbst. Diesem Ich wird ihr eigenes Altern im grauen Haar spiegelbildlich zur Großmutter bewusst, sodass das Gedicht insgesamt die komplizierte und vielschichtige Erkenntnis des Alterns auflöst mit einem Bild der Nähe und der Zärtlichkeit: „Für Großmutter sind meine grauen Haare / das komfortabelste Versteck.“ Rusudan Kaishauri leitet im Übrigen das Kulturzentrum Kaukasisches Haus in der georgischen Hauptstadt und hat zahlreiche Gedichtbände veröffentlicht, zuletzt erschien 2012 Vom Esel zum Ross.

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 4, 2017

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